Die Europapolitik der CDU/CSU zehrte in den vergangenen Jahren vor allem von dem guten europapolitischen Ruf ihres »großen Europäers«, des Altkanzlers Helmut Kohl. Kaum ist der Lotse von Bord gegangen, offenbaren sich jedoch unter den Konservativen ein konzeptioneller europapolitischer Dissens und der zunehmende Drang, das Thema Europa für innenpolitische Zwecke zu instrumentalisieren.
Wenn der neue Außenminister Joschka Fischer heute die Kontinuität deutscher Europapolitik beschwört, dann kann er nur an den »frühen Kohl« anknüpfen, der sich - integrationsfreundlich wie er war - eine Zukunft Deutschlands nur in einer Politischen Union vorstellen konnte. Der »späte Kohl« dagegen erwies sich immer mehr als Bremser im I
emser im Integrationsprozeß. Keine andere europäische Regierung hat in den vergangenen Jahren so häufig im Ministerrat auf Vorschläge der Kommission mit Ablehnung reagiert wie die deutsche. Nach Abschluß des Amsterdamer Vertrages im Juni 1997 bilanzierte ein deutscher Diplomat nicht ohne Stolz, daß die deutsche Europapolitik »britischer« geworden sei. Die Kluft zwischen europapolitischen Sonntagsreden einerseits und integrationspolitischer Alltagsarbeit andererseits wurde immer größer.Diese Widersprüchlichkeit zeigte vor allem die Debatte zur Agenda 2000, hinter der sich die Entscheidungen über das Reformprogramm der EU, für die Agrar- und Strukturpolitik sowie das Finanzsystem verbergen. Auf der einen Seite trat die CDU/CSU vehement für eine Kürzung der deutschen Beiträge zur EU ein - ohne zu verraten, wer denn die finanziellen Lasten tragen solle, und wie dann die Aufgaben der EU zu bewältigen seien. Auf der anderen Seite verkündete man lauthals die Fundamentalopposition gegen die Reform des Agrarmarktes - ohne zu sagen, wie die erforderlichen finanziellen Einsparungen zu erzielen seien. Und schließlich wurde das überragende Interesse an der Osterweiterung der EU aus deutscher Sicht betont - ohne Vorschläge für deren seriöse Finanzierung vorzulegen.Vor diesem Hintergrund offenbaren sich viele vollmundige Bekenntnisse der Christdemokraten zu Europa als rhetorische Überkompensation ihrer europapolitischen Konzeptionslosigkeit. Soll die Politische Union vorangetrieben werden und damit tendenziell der Nationalstaat als Ordnungs- und Identitätsfaktor an Bedeutung verlieren? Oder muß die europäische Integration dort ihre Grenze finden, wo sie nicht mehr dem (vermeintlichen) nationalen Interesse dient? Ist das europäische Integrationsprojekt ein neues, zukunftsträchtigtes Modell supranationaler Regulierung? Oder lassen sich im Rahmen der EU nationale Interessen einfach besser durchsetzen? Soll Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten weiterhin auch durch einen Ausgleich zwischen Arm und Reich gefördert werden? Oder gefährdet dieser soziale und regionale Lastenausgleich nicht auf Dauer den Wohlstand in Deutschland? Mit dem Lamers/Schäuble-Papier (1994) über das »Kern-Europa» wurde ein erstes Konzept entworfen, wie im Schutze eines hegemonial organisierten Kernes aus reichen mitteleuropäischen EU-Staaten deutsche Identität und Interessen sowie die Richtung der Integrationsentwicklung auch in einer erweiterten, sich politisch und wirtschaftlich ausdifferenzierenden EU gesichert werden könnte. Das Konzept verschwand zwar in der Schublade, doch nicht aus den Köpfen vieler Konservativer. Die Frage, ob das »Zuviel» oder das »Zuwenig» an europäischer Integration zum programmatischen Leitmotiv der Union wird, dürfte wohl noch einige Zeit unbeantwortet bleiben. Anzumerken ist vielleicht, daß die konservativen Parteien in Großbritannien und Frankreich nicht zuletzt an einem grundlegenden europapolitischen Dissens zerbrochen sind.Beschleunigen könnte diesen Prozeß einmal ein Kanzlerkandidat aus Bayern. Er ist bisher am deutlichsten der für eine konservative Volkspartei fast unwiderstehlichen Versuchung erlegen, den wachsenden Euroskeptizismus einer eher national orientierten Klientel wahltaktisch zu nutzen. Hier ist kein Schwanken mehr zwischen dem Pathos europapolitischer Sonntagsreden und der populistischen Alltagsnörgelei an »Europa« zu beobachten. Die schwierige Gratwanderung zwischen der Verlagerung von Kompetenzen für Problemlösungen, die heute nur noch supranational in Angriff genommen werden können, auf die europäische Ebene und dem Erhalt von notwendigen Entscheidungsspielräumen im nationalen und regionalen Rahmen führt hier geradewegs zum Absturz in die Renationalisierung der Politik. Wenn Stoiber jetzt sogar einen Abschluß der Agenda 2000 unter deutscher Präsidentschaft ablehnt, dann will er damit die dringend notwendigen inneren Reformen der EU verhindern, die Osterweiterung hinauszögern und jeder weiteren Integration mindestens eine Pause verordnen.Eine derart radikale europapolitische Wendung stößt auch in der CDU auf Widerstand. Soweit ist die Bajuvarisierung christdemokratischer Europapolitik also noch nicht gediehen. Bei der Instrumentalisierung anti-europäischer Ressentiments für Wahlkampfzwecke wird die Hemmschwelle jedoch immer niedriger. Die EU eignet sich ja auch prächtig als Sündenbock. Ob Regelungswut oder Eurokratie, Geldverschwendung oder Vetternwirtschaft, Agrarüberschüsse oder BSE - in Brüssel sitzen die Verursacher, wenn nicht aller, so doch vieler Übel. Die politischen Vorgänge sind fern und undurchschaubar. So lassen sich leichter nationale Lösungen als Heilsweg preisen. Dieser Mißbrauch berechtigter Kritik an Entwicklungen in der EU nährt nationale Illusionen und untergräbt die Akzeptanz der europäischen Integration in der Bevölkerung.Hinter diesem anti-europäischen Populismus wird sich die konzeptionelle Auseinandersetzung innerhalb der CDU/CSU über die Zukunft Europas gewiß noch einige Zeit verbergen lassen. Für den Europa-Wahlkampf bleibt allerdings Schlimmes zu befürchten.Unser Autor ist für Bündnis 90/ Die Grünen im Bundestag.