Francis Maude, der außenpolitische Sprecher der britischen Konservativen, machte kein Hehl aus seiner Empörung: "Alles geht in Richtung politische Integration, das ist die falsche Agenda." Was die britischen Tories das Gruseln lehrt, ist den EUphorikern Trost: Der Fortschritt ist eine Schnecke, aber sie bewegt sich wenigstens in die richtige Richtung. Wie kaum ein anderer Gipfel führte Nizza vor Augen, wie es um Europa gegenwärtig steht und dass eines fehlt: eine gemeinsame politische Idee für die EU.
Gemeinhin wird die Erweiterung als "historisches Projekt" gehandelt - emphatisch als "Wiedervereinigung des Kontinents" beschworen. Tatsächlich aber dümpelt dieser Prozess vor sich hin und gleicht eher einer historischen Notwendigkeit als einem überzeuge
2;berzeugenden "Projekt", das nationale Interessen - trotz aller Differenzen - mit einem gemeinsamen europäischen Interesse zu versöhnen vermag. Während man mit hehren Worten dem friedens- und sicherheitspolitischen Mehrwert der großen EU huldigt, scheinen die nötigen EU-Reformen eher als lästiger Zwang denn als Herausforderung empfunden zu werden. Der Erweiterung droht innenpolitische Instrumentalisierung, wobei anstehende Wahlen den Zeitplan diktieren.Bezogen auf die Suche nach vertretbaren Konditionen für die Aufnahme neuer Mitglieder war Nizza dennoch ein Erfolg. Dass sich der Europäische Rat gar für deren Teilnahme an der nächsten Europawahl 2004 aussprach, mutet schon fast wie ein überschwängliches Bekenntnis zur Erweiterung an. Aber die Erkenntnis, dass 10 bis 15 neue Staaten die Integration auch qualitativ verändern werden, mobilisierte vor allem die Besitzstandswahrer am Konferenztisch. Die Visionäre saßen beim Augenarzt.Dass ein politisches Projekt fehlt, wurde in Nizza vor allem deutlich, als sich in Sachen qualifizierte Mehrheitsvoten nur wenig bewegte. Ein weitgehender Übergang von der Einstimmigkeit zu Mehrheitsabstimmungen hätte ein Fundament dafür legen können, dass Erweiterung und Vertiefung der Union nicht in Widerspruch geraten. Der breite Übergang zur qualifizierten Mehrheit setzt aber zumindest im Ansatz Einigkeit über den einzuschlagenden Weg voraus, sonst dominieren nationale Sonder- und Machtinteressen. Dass die Stimmengewichtung im Ministerrat den Gipfel beherrschte, legt hiervon ebenfalls beredt Zeugnis ab. Dem legitimen Anliegen, die Bevölkerungsmehrheiten in einer "EU 27" stärker zu akzentuieren, stand eine ganze Reihe von weniger ehrenwerten Referenzpunkten gegenüber, die den Stimmenpoker beherrschten: Nettozahler gegen -empfänger, Groß gegen Klein, Alt gegen Neu, Olivenölproduzenten gegen nordische Übermacht. Der Mobilisierungseffekt einer größeren Handlungsfähigkeit tendierte gegen Null.Ein weiteres Indiz für einen Mangel an ausstrahlungsfähigen Visionen ist das Schicksal der Sozialagenda. Auch die stand auf der Tagesordnung des Gipfels. Bereits seit einigen Jahren hatte Frankreich das europäische Gesellschaftsmodell in das Zentrum seiner Europapolitik gestellt und im Sommer die Sozial- und Beschäftigungspolitik noch als prioritäres Aktionsfeld benannt. Anstatt diesen möglichen Kristallisationspunkt eines dem Binnenmarkt-Europa Paroli bietenden Projektes auszubauen, versank das Thema in den Niederungen von Arbeitsgruppen und der französischen Cohabitations-Misere, ohne dass sich an ihm die politische, geschweige denn eine gesellschaftliche Debatte entzündete.Auch andere Vorhaben entwickeln bislang keine aktivierende Wirkung. Der im Herbst 1999 ausgerufene "Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" wird von den Unionsbürgern als technokratische Angelegenheit zur Bekämpfung von organisierter Kriminalität und illegaler Einwanderung gesehen. In Nizza widmete man diesem Thema nur wenige Minuten. Den eigenen Beteuerungen, es handele sich um ein dem Binnenmarkt vergleichbares epochales Unterfangen, scheint der Europäische Rat kaum noch Glauben zu schenken. Auch die Einsetzung einer militärischen Kriseninterventionstruppe erfolgte in Nizza wegen britischer Bedenken eher heimlich und verschämt. Schließlich könnte die Armee auf der Insel als Vorgriff auf einen europäischen Superstaat interpretiert werden. Und da war doch noch etwas - ach ja, die "Zivilmacht Europa". Daran wird auch gewerkelt, aber kaum sonderlich spektakulär.Die Geschichte lehrt: Institutionelle Reformen gelingen in Verbindung mit einem politischen Projekt - und vice versa. Nizza gebrach es daran ebenso wie an couragierten Schritten zur Demokratisierung. Ein europäisches Projekt und die gesellschaftliche Debatte darum sind aber umso dringlicher, da ihr Ausbleiben Tendenzen forcieren dürfte, die sich seit längerem andeuten und die auch jetzt an Einfluss gewonnen haben. Anstatt die demokratische Legitimation europäischer Politik zu stärken, schreiten "Intergouvernementalisierung" und Entdemokratisierung voran. Gewonnen haben die Mitgliedstaaten, die großen mehr als die kleinen. Aber es sind nicht nationale Gesellschaften die profitieren, sondern ihre Regierungen. In Nizza wurden Institutionen wie das Europaparlament und die Kommission, in denen sich noch am ehesten gemeinsame europäische Interessen artikulieren, weiter an den Rand gedrängt. Die für 2004 beschlossene neue Regierungskonferenz, die sich vorrangig Fragen der Kompetenzabgrenzung, der Grundrechtscharta, der Rolle nationaler Parlamente "in der Architektur Europas" widmen soll, könnte hoffnungsvoll stimmen - aber nur, wenn es gelingt, diesen Prozess demokratisch zu organisieren und die anstehende Debatte über die Verfassung und Finalität Europas mit der Suche nach einem europäischen Projekt zu verbinden.Christian Sterzing ist europapolitischer Sprecher und außenpolitischer Koordinator der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen.