Wir haben uns kennen gelernt, da war ich dreizehn und Markus sechzehn. Er war damals Teamer in der Kirchengemeinde, und ich war Konfirmandin. Ich mochte ihn immer sehr gerne, aber mehr war nicht. Jungs interessierten mich damals nicht sonderlich. Und dann sind wir uns irgendwann wieder begegnet, da war ich neunzehn, und er zweiundzwanzig. Bei Hertie, in Neukölln, in der Karl-Marx-Straße liefen wir uns über den Weg, es war wie Liebe auf den ersten Blick. Man spricht sich an, kommt ins Reden; dann hat er mich zum Kaffee eingeladen und am selben Abend noch ins Kino.
Drei Wochen später wohnte er mehr oder weniger schon bei mir, und anderthalb Jahre später wurde ich schwanger. Wir waren begeistert, zogen um. Nach weiteren zwei Jahren kam das zweite Kind, beides Jungen.
Sc
Jungen.Schwierig wurde es zwischen uns im verflixten siebenten Jahr. Die Kinder waren größer, und ich fing an, öfter mal auszugehen, um mich mit Freundinnen zu treffen, besuchte einen philosophischen Lesekreis. Er wurde dann immer sehr eifersüchtig. Ich konnte das nicht nachvollziehen. Immerhin war er jeden zweiten Abend unterwegs, traf sich mit Freunden oder ging in Konzerte.So richtig fing der Streit mit dem Hausbau an. Wir hatten einen Kaufvertrag unterschrieben für ein wunderschönes Holzhaus. Doch ich fühlte mich danach gar nicht gut. Mir wurde bewusst, dass wir uns dadurch noch mehr aneinander binden. Es war ja ohnehin durch die Heirat, durch die Kinder, und die lange Zeit zusammen eine ganz enge Bindung da. Aber dieser Hausbau führte dazu, dass ich Angst bekam, mich von Markus mehr zurückzog. Seine Eifersucht wurde daraufhin natürlich immer schlimmer. Innerhalb von vier Monaten eskalierte es dann richtig. Wir stritten nur noch.Tagsüber haben wir versucht, unseren Alltag irgendwie zu regeln, bemühten uns, die Kinder raus zu halten. Nachts aber ging es immer hoch her. Meistens saßen wir im gemeinsamen Ehebett und haben uns wirklich ziemlich böse Sachen gesagt. Er war rasend eifersüchtig auf meine Freundinnen. Da habe ich ihm dann gesagt, dass meine Freundinnen für mich eine große Hilfe sind, dass es Dinge gibt, die man als Paar nicht miteinander klären kann, und dass es manchmal gut ist, wenn jemand von außerhalb etwas dazu sagt. Ich habe ihn auch gebeten, sich ebenfalls an andere zu wenden. Er hatte Freunde. Es war ja nicht so, dass da niemand gewesen wäre. Doch er wollte das nicht. Ich sei schließlich nicht nur seine Frau, sondern auch seine Freundin, müsste diejenige sein, die alle Probleme mit ihm austrägt und regelt.Kurz vor seinem Tod schlug er dann vor, zu einer Familienberatung zu gehen. Da habe ich gemerkt, dass ich nicht mehr will, dass ich diese Beziehung nicht mehr will. Es war schon so viel kaputt. Für mich wäre das im Grunde genommen nur noch vertane Zeit gewesen.Unsere Streits wurden heftiger. Wenn ich morgens aufstand, war ich froh, dass Markus schon weg war. Und wenn er wieder kam, ließ sich das Zusammensein kaum aushalten. Es war einfach nur schrecklich.An dem Tag, an dem er sich dann umbrachte, habe ich ihm ganz klar gesagt, dass ich nicht mehr will. Ich konnte nicht mehr. Da ging er vor mir auf die Knie und flehte mich an, bei ihm zu bleiben. Ich aber habe gesagt: "Ich kann nicht. Es geht einfach nicht mehr." Und das war dann der Moment, wo es bei ihm Klick gemacht hat. Von da an war er völlig verändert.Markus konnte schnell laut werden. Entweder er hat geweint oder er hat geschrieen. Aber jetzt wurde er ganz still, sagte nichts mehr. Ich habe mich ins Wohnzimmer gesetzt, auf die Couch. Markus fing an, sich Tee zu kochen. Kräutertee. Das ist etwas, was er sonst nie tat. Er hat sich nie einen Kräutertee gekocht. Im Schrank waren zwei Sorten, der eine hieß Morgengruß und der andere Abendtraum. Er hat sich einen Abendtraumtee gemacht, den getrunken und zu mir gesagt: "Trink den mal auch, dann geht es dir bestimmt besser, der tut ganz doll gut." Dann holte er eine Waschschüssel und fing an, sich die Füße zu waschen. In dem Augenblick bekam ich Angst. So etwas hatte er noch nie gemacht. Er hat entweder geduscht oder gebadet. Aber keine Schüssel mit Wasser für die Füße. Mir wurde himmelangst. Er verhielt sich so seltsam! Schließlich kam er zu mir und verabschiedete sich. Ich solle die Kinder schön von ihm grüßen, er liebt mich - und fuhr weg.Das schlimmste an der Situation war: Ich bekam in dem Augenblick wirklich Angst, er könne sich das Leben nehmen, und glaubte auch, dass er das macht. Aber ich habe nichts unternommen. Was hätte ich auch tun sollen? Ich saß Stunden lang auf dieser Couch und rührte mich nicht von der Stelle, war wie gelähmt.Markus ist ins Krankenhaus gefahren und hat sich an der Pforte den Schlüssel für den OP geben lassen, in dem er immer arbeitete. Dann mixte er einen Giftcocktail und schloss sich selbst an den Tropf. Am nächsten Morgen haben sie ihn dort gefunden. Ich war mit den Kindern zu Hause, als zwei Kollegen von ihm kamen, um mir Bescheid zu sagen. Zuerst glaubte ich, dass das gar nicht wahr sein kann. Dass sie mir eine Geschichte erzählen, die nicht stimmt. Ich konnte es nicht fassen, habe geweint und gefragt, was passiert ist. Später fing ich dann an, mich zusammenzunehmen, zum Alltag überzugehen und habe meinen Besuch mit Tee versorgt. Es war, als ob sich eine Glocke um mich gelegt hätte und ich im Grunde genommen nur noch funktionieren würde.Ich habe angefangen, alles zu regeln, musste jeden anrufen, alle Angehörigen, ihnen sagen, was passiert war. Meinen Kindern das alles beibringen. Das waren riesige Aufgaben, und dadurch blieb ich total beschäftigt. Ich hatte sehr viel zu tun in den ersten Monaten. Wie ich es den Kindern sage, habe ich nicht sehr lange überlegt. Sie sollten die Wahrheit hören. Eine Lüge hätten sie eh gemerkt. Ich rief sie und sagte: "Euer Vater ist tot." Und sie haben gleich gefragt: "Warum? Was ist passiert?"Ich erzählte ihnen, dass er nicht mehr leben wollte. Warum? Das wusste ich ja selber nicht. Wie soll man da eine Antwort finden? Am Ende habe ich ihnen dann erklärt, dass es Menschen gibt, die das Leben einfach nicht aushalten können. Die im Grunde genommen krank sind. Und sich halt dagegen entscheiden. Ich habe ihnen die Möglichkeit gegeben, dass sie sehr viel fragen konnten, und versucht, diese Fragen zu beantworten. Wenn ich es nicht konnte, dann wussten sie, dass ich es auch nicht weiß. Irgendwann haben sie dann aufgehört zu fragen, weil ihnen klar wurde, dass sie keine Antwort darauf kriegen, keine richtige, befriedigende Antwort. Aber ich denke, die Fragen werden irgendwann wieder kommen. Wenn sie älter sind.Markus und ich haben uns über Tod und Sterben vorher schon Gedanken gemacht und viel darüber gesprochen, was wir tun, wenn jemand von uns stirbt. Für mich war immer klar, dass wir den Kindern die Möglichkeit geben, sich von uns zu verabschieden. Ich habe das so organisiert, dass sie ihn noch einmal sahen. Sie konnten ihm etwas schenken und ihm "Tschüss" sagen.Anfangs machte ich mir ganz große Vorwürfe. Ich habe immer wieder überlegt, wie ich es hätte verhindern können. Freunde haben mir dann gesagt, dass dies seine Entscheidung gewesen ist. Für mich war das eine große Hilfe. Irgendwann hörte ich auf, nach dem Warum zu fragen. Was nützt es Fragen zu stellen, auf die man keine Antwort kriegen kann? Mit der Zeit lernte ich dann auch zu unterscheiden, was seine Entscheidung war und welchen Anteil ich daran hatte.Am Anfang sieht man eigentlich nur denjenigen, der sich das Leben genommen hat. Sich selbst nicht mehr. Der andere steht im Mittelpunkt, über ihn wird gesprochen, jeder fragt natürlich und ist entsetzt. Darüber vergisst man sich dann selbst.Die Unterstützung von Freunden hat mir sehr viel geholfen. Es gab keine Vorwürfe. Sie wollten vor allem wissen, wie es mir in der Zeit vor seinem Tod gegangen ist. Dadurch habe ich dann gelernt, nicht nur an ihn zu denken, sondern auch an mich selber. Daran zu denken, wie es mir in der Zeit vorher ergangen ist, wie schlecht ich mich gefühlt habe. Selbst wenn ich gewusst hätte, dass er sich umbringen will, ich hätte nicht handeln können, weil ich selber völlig gelähmt war.Heute ist es mir sehr wichtig, die Erinnerung an ihn zu bewahren. Hier im Flur habe ich eine kleine Bildergalerie aufgehängt. Es bedeutet mir sehr viel, ihn immer mal zwischendurch zu sehen. Ich denke auch, dass es für die Kinder ganz schön ist. Sie können ihn sich immer wieder anschauen, wenn sie wollen.Ich habe vor allem Bilder von ihm rausgesucht, die typisch sind für ihn. Hier an dieser Wand sind sehr viele Theaterbilder. Er hat zehn Jahre lang in seiner Freizeit Theater gespielt. Andere zeigen ihn, wie er Musik macht, Klavier spielt. Ein Bild ist in einer Theaterpause entstanden. Es ist so typisch für ihn, wie er hier in Kostüm und Maske Zeitung liest. Dieser Blick in die Zeitung, der war ihm immer total wichtig.Ich möchte Markus in meinem Leben weiter bewahren. Selbst wenn es irgendwann so ist, dass ich einen neuen Partner habe - das ist für mich im Augenblick überhaupt nicht vorstellbar, aber es wird ja vielleicht mal so sein - dann möchte ich trotzdem, dass Markus irgendwie noch Teil von meinem Leben bleibt.Ich habe hier im Haus einige Orte, die mich an ihn erinnern. In einem Schrank sind alle seine persönlichen Dinge. Die Kleidung habe ich komplett weggegeben, bis auf die Sachen, in denen er sich das Leben genommen hat. Aber Fotos, Zeugnisse und der persönliche Ordner - das ist alles noch da. Ich möchte, dass die Kinder die Möglichkeit haben, sich das anzusehen, wenn ihnen danach ist.Es gab sehr viele Menschen, die wütend auf Markus waren. Die haben gesagt: "Das ist unmöglich, dass er sich so aus dem Staub macht und dich alleine lässt mit den Kindern." Ich hatte solche Gedanken nicht, nur großes Mitleid mit ihm. Es hat mir sehr weh und auch sehr leid getan, dass er so gefangen war in sich und für sich keinen Weg gesehen hat, um weiterzuleben. Ich war nie wütend auf ihn. Aber ich habe in dem Jahr danach angefangen, ganz schlecht über Männer zu reden. Es gab Leute, die haben das gehört und zu mir gesagt: "Das bist doch nicht du!" Irgendwann ist mir klar geworden, dass ich meine Wut gegenüber Markus einfach auf jeden Mann übertragen habe.Ich merke, dass ich Angst davor habe, von jemandem geliebt zu werden. Das ist ein völlig neues Gefühl. Bisher war es immer so, dass ich das total schön fand, wenn sich jemand in mich verliebt hat und mir gesagt hat, wie toll er mich findet. Aber heute will ich so etwas nicht hören.Eine ganze Zeit lang hatte ich sogar ein schlechtes Gewissen gegenüber Markus, wenn es mir gut ging. Und dann kam irgendwann so ein Tag, da bin ich zum Friedhof gefahren. Und plötzlich veränderte sich etwas. Von einem Moment zum anderen. Ich spürte, dass er mich nicht verurteilt und es für ihn in Ordnung ist, wenn ich mich wohl fühle. Das war irgendwie schön und befreiend. Und so geht es mir halt ab und an, dass ich zum Friedhof fahre, wenn irgendwas ist und mit ihm rede.
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