Beschneidung verbieten, Religion beseitigen

Beschneidungsverbot Beschneidung unter Strafe stellen war einer von vielen Versuchen aus drei Jahrtausenden, das Judentum auszurotten. Ein deutsches Gericht erklärte sie wieder für strafbar

„Diese Rechtssprechung [sic!] ist ein unerhörter und unsensibler Akt. Die Beschneidung von neugeborenen Jungen ist fester Bestandteil der jüdischen Religion und wird seit Jahrtausenden weltweit praktiziert. In jedem Land der Welt wird dieses religiöse Recht respektiert.“ Diese harsche Justizschelte stammt von Dr. Dieter Graumann, Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, der sie am 26. Juni in einer Presseerklärung verbreitete.

Ausgerechnet Deutschland schert jetzt in dieser Frage als bisher einziges Land aus der Weltvölkergemeinschaft aus - in einer entweder geschichtsunkundigen oder bewusst geschichtsvergessenen richterlichen Grundsatzentscheidung.

Auch wenn das Landgericht Köln am 07.05.2012 unter dem Aktenzeichen 151 Ns 169/11 die Strafbarkeit der Beschneidung eines muslimischen Jungen durch einen muslimischen Arzt feststellt, treffen die Rechtsfolgen vor allem die wieder in Deutschland lebenden Juden: Nunmehr droht Eltern, Ärzten und Mohelim eine Geld- oder Haftstrafe bis zu 5 Jahren, wenn sie die uralte semitische Tradition der Jungenbeschneidung fortführen, die im Koran weder ge-, noch verboten wird, aber dafür in der Tora auf einem ausdrücklichen Befehl Gottes basiert, dessen Befolgung jahrtausendelang für die israelitische Religionsgemeinschaft konstitutiv war. Das Judentum wird ins Mark seiner Identität getroffen. "Die Vornahme dieser Beschneidung zu kriminalisieren, bedeutet nichts anderes als jüdisches Leben in Deutschland grundsätzlich für unerwünscht zu erklären", bewertet der Deutsche Koodernierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit (Schirmherr: der Bundespräsident) in einer Presseerklärung vom 27. Juni das Kölner Urteil.

Die Idee, speziell diese Religion durch ein Beschneidungsverbot zu dezimieren oder auszurotten, ist nicht neu. Das erste erließ 167 v. Chr. der hellenistische Syrerkönig Antiochus IV im Rahmen seines Religionsediktes, das in Jerusalem zum (erfolgreichen) Makkabäer-Aufstand gegen seine Fremdherrschaft führte. Der römische Kaiser Hadrian weitete um 130 n. Chr. die Lex Cornelia Sicariis et Venificis dahingehend aus, dass eine Beschneidung rechtlich als Kastration gewertet wurde, die seit Domitian die Todesstrafe und den Einzug aller Güter zur Folge hatte, was den (gescheiterten) Bar Kochba Aufstand auslöste und die Vertreibung aller Juden aus der in „Palästina“ umbenannten Provinz Judäa nach sich zog, deren Spätfolgen wir heute u.a. im Nahost-Konflikt erleben.

Das Beschneidungsverbot Hadrians bedeutete für rechtstreue und zugleich rechtgläubige Juden ein unauflösliches Dilemma. Ferdinand Prostmeier umreißt es in seinem Kommentar zum Barnabasbrief (einem Zeitzeugnis dieser Epoche) von 1999 mit juristischer und theologischer Präzision: „Ungeachtet einer laxen Handhabung der kaiserlichen Bestimmung – zumal in der Diaspora – und einzelner Dispense war es nicht mehr möglich, Gottes Gebot zu erfüllen, um die Segnungen der [Berit] zu erlangen, ohne bezüglich der staatlichen Ordnung des Imperium Romanum Rechtsbruch zu begehen. Angesichts der soteriologischen Relevanz der Beschneidung hat ein Unbeschnittener keinen Anteil am Segen Gottes; er befindet sich außerhalb des von Gott festgesetzten Heilsbereichs, ohne Möglichkeit, Gottes Heil zu erlangen.“

Dieses Dilemma kehrt durch das Kölner Urteil in die Rechtsgeschichte zurück. Mit dem Unterschied, dass das Beschneidungsverbot, in dem Historiker bislang ein Instrument von Unrecht und Unterdrückung sahen, uns jetzt als freiheitliche Errungenschaft präsentiert wird, als Durchsetzung von deutschen Grund- und universellen Menschenrechten gegen eine kulturrelativistische Duldung menschenrechtswidrigen Brauchtums gleich welcher Provenienz.

Die Kölner Richter begründen ihre Entscheidung aus dem aktuellen Diskussionsstand der juristischen Fachliteratur des letzten Jahrzehnts, in dem sich als Mehrheitsmeinung die Unvereinbarkeit einer religiös motivierten Beschneidung von Jungen mit dem Grundgesetz durchgesetzt hat. Dem liegt eine recht einfache und im Urteil selbst kaum näher begründete Rechtsgüterabwägung zugrunde:

„Nach wohl herrschender Auffassung in der Literatur entspricht die Beschneidung des nicht einwilligungsfähigen Knaben weder unter dem Blickwinkel der Vermeidung einer Ausgrenzung innerhalb des jeweiligen religiös gesellschaftlichen Umfeldes, noch unter dem des elterlichen Erziehungsrechts dem Wohl des Kindes. Die Grundrechte der Eltern aus Artikel 4 Abs. 1, 6 Abs. 2 GG werden ihrerseits durch das Grundrecht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung gemäß Artikel 2 Abs.1 und 2 Satz 1 GG begrenzt. Bei der Abstimmung der betroffenen Grundrechte ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten. Die in der Beschneidung zur religiösen Erziehung liegende Verletzung der körperlichen Unversehrtheit ist, wenn sie denn erforderlich sein sollte, jedenfalls unangemessen.“

So schlüssig und konsequent das klingt, so angreifbar ist es. Monieren kann man, dass ein regionales Gericht in einem von ihm selbst erkannten Normen- und Grundrechtskonflikt die durch Artikel 100 für diesen Fall vorgeschriebene Anrufung des Bundesverfassungsgerichts vermeidet und einfach selbst entscheidet. Der Geltungsumfang von § 223 StGB (Körperverletzung) hat sich durch Abschaffung der letzten Relikte des elterlichen Züchtigungsrecht im Zuge der BGB-Reform zur Jahrtausendwende überhaupt erst dahingehend ausgeweitet, dass die Jungen-Beschneidung dadurch mit auf den Prüfstand gerückt ist. Wenn ein Gericht dabei erkennt, dass eine anzuwendende Strafvorschrift mit entgegenstehenden Grundrechten immerhin abgewogen werden muss, liegt die Voraussetzung des Artikels 100 eigentlich vor.

Eine weitere Frage ist, ob die Kölner Richter in der Meinung, diese Abwägung selbst vornehmen zu können, das Gewicht beider Waagschalen angemessen in ihrer Entscheidung zur Geltung gebracht haben oder eine unvoreingenommene Abwägung nur vortäuschen.

Hier liegt eine weitere Schwäche dieses Urteils. In der sogenannten Mutzenbacher-Entscheidung hat das Bundeverfassungsgericht festgelegt, dass wenn zwei Rechte von Verfassungsrang in Widerstreit geraten, „beide mit dem Ziel der Optimierung zu einem angemessenen Ausgleich gebracht“ werden müssen. Bei der Herstellung der geforderten Konkordanz sei zu beachten, dass konkurrierende Verfassungsrechtsgüter sich beiderseits Schranken ziehen. Dies erfordere eine Abwägung der widerstreitenden Belange und verbiete es, einem davon generell Vorrang einzuräumen (BVerfGE 83, 130 [143]).

Stattdessen folgen die Kölner Richter offensichtlich der im Urteil bezuggenommenen Argumentation von Prof. Rolf Dietrich Herzberg, der die Rechte aus Artikel 2 (freie Entfaltung und körperliche Unversehrtheit) für nicht abwägbar hält, sodass alles ihnen Entgegenstehende von vornherein unter den Tisch statt in die andere Waagschale fällt.

Den vielfältigen Gedankenexperimenten und fiktionalen Argumenten aus der entscheidungsrelevanten Literatur hätte zumindest ein weiteres gegenübergestellt gehört: Wäre es überhaupt nur denkbar, dass das Beschneidungsverbot an Jungen auch vom Staat Israel als Konsequenz aus den universellen Menschenrechten und Artikel 24 Abs. 3 der UN-Kinderrechtskonvention je anerkannt und übernommen wird ("Die Vertragsstaaten treffen alle wirksamen und geeigneten Massnahmen, um überlieferte Bräuche, die für die Gesundheit der Kinder schädlich sind, abzuschaffen.")?

Wer sich auch nur ein bisschen auskennt, wird das klar verneinen. Es ist der von den Gründern intendierte und von der Weltvölkergemeinschaft akzeptierte Sinn des Staates Israel, dass dort Juden unbehelligt in Einklang mit ihren religiösen Überzeugungen leben können.

Mit welchem Recht locken wir dann aber eine Bevölkerungsminderheit aus anderen Ländern hierher, ohne diesen Menschen von Anfang an zu verraten, dass sie hier aufgrund des Grundgesetzes bei uns nach wie vor bzw. schon wieder nicht so leben können, wie ihnen ihre Religion dies vorschreibt? Welche Wertigkeit hat der durch das Urteil faktisch erzeugte Migrationsdruck auf inzwischen wieder hier lebende Juden im Kontext der deutschen Rechts- und Unrechtsgeschichte?

Weiter: Hätten sich Millionen hier als Gastarbeiter benötigter Migranten aus islamisch geprägten Ländern wie der Türkei von Deutschland einladen lassen, wenn ihnen von Anfang an gesagt worden wäre, dass sie hier nicht alle Traditionen und speziell diese nicht pflegen können, ohne mit dem deutschen Gesetz in Konflikt zu geraten? Von einer „Abwägung“, wie sie das Bundesverfassungsgericht bei Grundrechtskonflikten fordert, kann man nur sprechen, wenn der Problemhorizont solcher Fragen in einer Entscheidung zumindest erkannt und thematisiert wird.

Außerdem enthält das Urteil eine Reihe von fachlichen Irrtümern und Fehlern. Sobald die Richter oder die von ihnen angeführten Autoren Kenntnisse über religiöse oder theologische Zusammenhänge zu besitzen vermeinen, ist höchste Skepsis geboten. Ein – offenbar entscheidungsrelevanter - Fehler ist Karsten Polske-Majewski in der ZEIT aufgefallen:

„Die Kölner Richter schreiben in ihrer Urteilsbegründung: ‚Zudem wird der Körper des Kindes durch die Beschneidung dauerhaft und irreparabel verändert. Diese Veränderung läuft dem Interesse des Kindes später selbst über seine Religionszugehörigkeit entscheiden zu können zuwider.‘ Dieser Schluss ist Unsinn. Ist eine Religion bekannt, der ein beschnittener Mann nicht beitreten könnte, ein unbeschnittener aber schon?“

Dieser Teil der Urteilsbegründung verrät unmissverständlich, dass es den Kölner Richtern nicht um die körperliche Unversehrtheit geht, sondern um ein Recht auf „Selbstbestimmung“, das sie durch eine vermeintlich irreversible lebenslange Festlegung auf die Religion der Eltern verletzt sehen. Eine Vielzahl von Kommentaren im Internet hält deshalb ein analoges Verbot der Kindertaufe für aus diesem Urteil ableitbar.

„Bekomme auf Twitter viele Antworten a la ‚Das ist total richtig, und Taufe im Kindesalter sollte auch verboten werden‘“, stellt eine leicht erstaunte Marina Weisband auf ihrer facebookseite fest. „Das ist für mich ein Widerspruch.“ Für die ehemalige Bundesgeschäftsführerin der Piratenpartei ist mit deren Forderung, "Religion privatisieren", keine religiöse Bevormundung oder gar ein Religionsverbot gemeint. „Insgesamt sagt man, wir haben vor den Menschen so viel Respekt und so viel Vertrauen zu ihnen, dass sie ihren privaten Stuff schon hinkriegen. Aber in Sachen Religion wollen viele den Eltern oft in den Arm fallen.“

„Was die Glaubensgemeinschaften wohl am härtesten trifft: dass man an ihre Grundfesten geht. Die körperliche Festlegung des Kindes auf einen Glauben ist ebenso wichtig für den Erhalt einer Religionsgemeinschaft, wie die Indoktrination von klein auf“, resümiert TKaiser auf Freitag.de in seinem Blog zum Kölner Urteil.

Auch Begriffe und Sätze aus der Urteilsbegründung belegen, dass nicht die körperliche Unversehrtheit des Nachwuchses geschützt werden soll, sondern die (vermeintliche) geistige. Das Gericht unterstellt ein „Interesse des Kindes, später selbst über seine Religionszugehörigkeit zu entscheiden“. Offensichtlich unterläuft ihm dabei der Trugschluss, eine religiös neutrale oder religionslose Erziehung würde keine Prägung nach sich ziehen, sondern die Möglichkeit eröffnen, später frei über die eigene Religionszugehörigkeit zu entscheiden.

Letzteres scheitert aber schon daran, dass es bei der Religionszugehörigkeit um eine zweiseitige Entscheidung geht, bei der die Religionsgemeinschaften die Bedingungen der Zugehörigkeit frei setzen und sie einem auch verweigern können. Man ist da nicht auf einem Markt oder Basar, wo alles feilgeboten wird und jeder nur zugreifen muss, bei ethnisch begründeten Religionen wie dem Hinduismus oder dem Judentum ist das bestenfalls typisch europäisches Wunschdenken.

Abgesehen davon vermehren sich individuelle Handlungs- oder Entscheidungsoptionen zugunsten der einen oder anderen Religion nicht durch neutrales Abwarten, sie nehmen ab. Wie die Beherrschung der eigenen Muttersprache der jüngeren Forschung zufolge die Fähigkeit eine weitere Sprache zu erlernen nicht behindert, sondern begünstigt, steigt die Wahrscheinlichkeit, den Zugang zu einer fremden Religion zu finden eher an, wenn man selbst bereits religiös geprägt ist. Ein analog denkbares Interesse jedes Kindes, später selbst über seine Zugehörigkeit zu einer Sprachgemeinschaft zu entscheiden, würde durch das einstweilige Fernhalten von jedweder Muttersprache nicht unterstützt, sondern vereitelt. Wenn Eltern ihre Kinder in keine Religionsgemeinschaft hineingeben, vergrößern sie damit aller Erfahrung nach nicht deren religiösen Entscheidungsspielraum, vielmehr legen sie sie mit hoher Wahrscheinlichkeit lebenslang auf eine atheistische Überzeugung fest.

Folglich kann ein Verbot der Initiation von Kindern um ihrer vermeintlichen Selbstbestimmung und körperlichen Unversehrtheit willen die Menschheit mittelfristig nur von der Religion befreien, ohne dass dazu in das Recht der Glaubens- und Gewissensfreiheit (Erwachsener) unmittelbar eingegriffen werden müsste. Ein juristischer Kunstgriff, den schon Hadrian und Antiochos versucht haben.

Wird später ergänzt.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

ChristianBerlin

Theologe (Pastor) und Journalist, Berlin. Mitglied im Journalistenverband Berlin-Brandenburg (JVBB) und im Pfarrverein-EKBO. Singt im Straßenchor.

ChristianBerlin

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