Die Parolen vom Geschlechterkampf locken keine Frau mehr hinterm Ofen hervor, findet Renate Künast und läutet das Ende der Quote ein. Feminismus - teilte Volkmar Sigusch kürzlich im Spiegel mit - "das ist vorbei. Für die jüngeren Generationen scheint die Gleichstellung größtenteils gelungen". Die Jüngeren reden nicht mehr über Gleichberechtigung, sie nehmen sie sich. Solche Meinungen können sich auf empirische Studien stützen, zum Beispiel auf die letzte Shell-Jugendstudie. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass es bei deutschen Jugendlichen typisch "weibliche" und typisch "männliche" Lebensmuster grundsätzlich nicht mehr gibt. Demnach haben sich im Jahr 2000 die Einschätzung privater und beruflicher Lebenschancen, die konkrete
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AUS DER NOT GEBOREN Kritische Anmerkungen zu dem Begriff Geschlechterdemokratie"
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die konkreten Lebenswelten, die Sozialisationsbedingungen, Erziehungsstile und Wertmaßstäbe junger Frauen und Männer deutscher Herkunft weitgehend angeglichen. Die Unterschiede innerhalb der Geschlechtergruppen fallen erheblich größer aus als die Unterschiede zwischen den Geschlechtern oder die Unterschiede zu türkischen oder italienischen Jugendlichen in Deutschland. Offenbar rechtfertigen die Ergebnisse nicht mehr die selbstverständliche Annahme, dass der alte Generalunterschied sich den Erfahrungen der Individuen spontan vermitteln würde. In einer Pilotstudie, die die Internationale Frauen-Liga für Frieden und Freiheit (WILPF) 1998 durchgeführt hat, lässt sich nachlesen, dass bei internationalen Menschenrechtsprofis "Geschlecht" mehrheitlich als eine zu vernachlässigende Größe behandelt wird.Nun könnte man ja ironischerweise sagen, die WILPF-Studie oder die Shell-Studie spiegeln unerwartet, zumindest im Ergebnis das gleiche Faktum, den gleichen Zeitgeist: Geschlechterdifferenz ist unzeitgemäß; Geschlechterunterschiede sind nicht nennenswert, oder sie können oder sie wollen nicht benannt werden - entweder immer noch nicht oder nicht mehr. Für die Mitglieder der UN-Menschenrechtskommission sind Unterschiede nicht nennenswert, weil sie sie traditionsgemäß einfach ignorieren, nach der deutschen Shell-Studie sind sie nicht nennenswert, weil sie (zumindest als Einstellungsunterschiede deutscher Jugendlicher) empirisch nicht mehr nachweisbar sind, und für die Geschlechterdemokrat/innen der Böll-Stiftung sind sie nicht nennenswert im Sinne eines emanzipatorischen Aktes, einer bewussten Entscheidung zugunsten einer offensiv postulierten Gleichheit.Das gender mainstreaming, eine Errungenschaft der 4. Weltfrauenkonferenz in Peking 1995, setzte zunächst einen anderen Akzent. Dieser mittlerweile auch in der EU etablierte geschlechterpolitische Konsensbegriff bezeichnet Instrumente und Methoden, um Geschlechtergerechtigkeit zu institutionalisieren. Dabei geht das mainstreaming explizit von der Prämisse der Geschlechterdifferenz aus, also von faktischen und weltweiten Unterschieden der realen Situation von Männern und Frauen. Egal ob als anthropologisches Essential oder als historisches Relikt, egal ob natürlich bedingt oder herrschaftlich hergestellt - das mainstreaming verlangt die konsequente Berücksichtigung, Würdigung und Einplanung dieser Unterschiede in allen Politikbereichen, in jeder politischen Maßnahme und jedem politischen Diskurs. Dieser, weltweit geführt, soll alle Beteiligten auffordern, die spezifische Situation der vergessenen Frauen im politischen Denken und Handeln überall und jederzeit zu thematisieren. Unterstellt wird dabei, dass es "die" Geschlechtersicht, "die" weibliche Perspektive, "den" geschlechtsspezifischen Ansatz, "die" Frauenbelange als definierbare Einheit gibt.Mit dieser Art "mainstreaming" könnte jedes intervenierende, entwerfende, auch jedes "verkehrte", das heißt umkehrende Denken verloren gehen. Mainstream, der Kanal der meisten, war noch bis zu den neunziger Jahren ein feministisches Schimpfwort, eine alternative Absetzungsvokabel. Sie war vielleicht arrogant, aber auch vital. "Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom" hieß es. Der Feminismus wollte keine mainstream-Bewegung sein, sondern Kardinalkritik, Einspruch gegen das Normbewusstsein des mainstream, gegen die Verführungen einer Norm, die sich ihrer selbst so unerträglich gewiss ist, gegen die Selbstgefälligkeit und Scheinsicherheit der größten Zahl. Der mainstream-Norm gemäß haftet den Außenseitern und Minderheiten in den Seitenarmen und Sumpfgebieten etwas Anrüchiges, bestenfalls etwas vorläufig- Defizitäres an. Das Bild der anzustrebenden "Fahrtrinne in der Flussmitte" (Deutscher Frauenrat) schafft neue Argumente gegen Randständige, Abweichler und Untröstbare jeder Art. Die Mainstreambegeisterung macht Abweichungen erneut zur Anomalie, folgt den vorgegebenen Sollwerten, legt die Ober- und Untergrenze der Abweichung fest, schafft erneut die Hierarchien des Haupt- und Nebenweges, sie degradiert alle Abweichungen zum Noch-Nicht oder zum hoffnungslosen Fall.Wie auch immer man die Dinge sieht, wahrscheinlich muss man sich damit abfinden, dass Geschlechterdemokratie und mainstreaming widersprüchliche Ideen sind und dass manchen Frauen die Sache langweilig wird. Denn es gibt ja eigentlich nichts naheliegenderes als die Forderung, dass Frauen die gleiche Berücksichtigung finden müssen wie alle anderen Menschen auch, und dazu hat der Feminismus seit Jahrzehnten so ziemlich alles gesagt, was zu sagen ist. Wichtiger als diese etwas trotzige Reserve ist die Frage, welche potentiellen Gefahren in diesen geschlechterpolitischen Konzepten liegen könnten.Im September '99 sollte in der Schweiz per Abstimmung die Ausländerquote auf 18 Prozent gesenkt werden. So wollten es vor allem die weiblichen Mitglieder der Rechtspartei SVP (Schweizerische Volkspartei). Darüber hinaus konnte man gestützt auf Meinungsumfragen davon ausgehen, dass der Initiative zur Reduzierung von Ausländern landesweit Frauen eher als Männer zustimmen würden, denn, so hieß es, Frauen kennen aus eigener Erfahrung die alltäglichen Belästigungen auf Straßen, in Supermärkten und Discos, sie könnten ein Lied singen von der Gefahr, die ihnen durch messerstechende Ausländer drohe. Mit diesem Gefährdungswissen im Rücken, so wurde gehofft oder befürchtet, könnten nun inländische Männer und Frauen endlich gemeinsame nationale Politik machen und beweisen, dass die jahrzehntelange geschlechtsspezifische Sensibilisierung erfolgreich gewesen ist. Es kam zwar anders als erwartet. Aber der Fall zeigt die mögliche Liäson zwischen Frauenpolitik und rechter Ausländerpolitik, beziehungsweise den Versuch, im Namen von Frauen und Frauenfreunden ausländerfeindliche Politik durchzusetzen. So begründete auch der Generalsekretär der CSU Goppel seinen Widerstand gegen eine liberale Zuwanderungspolitik in Deutschland mit weiblichen Interessen. Er warf sich schützend vor die deutschen Frauen, deren Emanzipation angeblich schwer zurückgeworfen würde durch die Anwesenheit unemanzipierter Ausländerinnen, die weiterhin mit Kopftuch fünf Meter hinter ihren Männern durch die Stadt laufen und kein Verständnis für die inländischen Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsforderungen aufbrächten. Neu wären solche Koalitionen nicht.Kann "Geschlechterdemokratie" solchen Koalitionen entgegenwirken? Der Begriff klagt den Mangel an Demokratie ein. Zugleich könnte er aber auch selbst Ausdruck eines Mangels an Demokratie werden, nämlich dann, wenn er ein gesellschaftliches Verhältnis, das Geschlecht, aus seinen Zusammenhängen herauslöst, wenn also das Geschlechterverhältnis sich aus einem Kontext des Politischen isoliert und sich unter Vernachlässigung anderer Unrechtsverhältnisse zum zentralen demokratisierungsbedürftigen Verhältnis macht, also sich totalisiert. Auch wenn allen selbstverständlich klar ist, dass zum Beispiel auch die Verhältnisse zwischen Inländern und Ausländern, Reichen und Armen, Erwerbstätigen und Erwerbslosen, Nichtbehinderten und Behinderten demokratisierungsbedürftig sind und wir uns gleichzeitig immer in verschiedenen dieser Verhältnisse wiederfinden, trägt die Idee der Geschlechterdemokratie diesem Problem nicht explizit Rechnung. Sie nimmt keinen Bezug zu der Tatsache, dass politische Gerechtigkeit alle und vor allem den Zusammenhang aller meinen muss. Der Aufschrei gegenüber dem Nicht-Tolerierbaren bleibt schwach, wenn nur ein Nicht-Tolerierbares im Blick ist oder wenn Rassismusopfer auf eine Ebene mit "Frauen" als Sexismusopfern geraten. Das Nicht-Tolerierbare scheint sozusagen stellvertretend mit der Anteilnahme an Frauen abgegolten zu sein. Das Geschlechterverhältnis beginnt um sich selbst zu kreisen, der Bezug zum gemeinsamen Dritten, zur gemeinsamen Welt, geht verloren.Der Begriff Geschlechterdemokratie basiert, ob man will oder nicht, auf geschlechterspezifischen Identitätsbehauptungen: Ich bin eine "Frau", du bist ein "Mann", als solche setzen wir uns wenns geht auf Augenhöhe gegenüber, quotiert eins zu eins oder zehn zu zehn, ich sehe dir in die Augen, Kleiner, ich lass dir keine Ruhe, du musst mit mir rechnen, und wenn ich mich über dich ärgere, dann deswegen, weil du ein Mann bist. So bleiben wir als Geschlecht definiert. Nur als ein solches treffen wir uns in der geschlechterdemokratischen Konstellation. Nicht das Interesse an etwas Drittem bringt uns an den gemeinsamen Tisch, sondern das, was wir sind, - unsere angebliche Identität als ein bestimmtes Geschlecht. So bleiben "die Frau"/"der Mann" eine Spezies, Verkörperung eines weiblich oder männlich genannten Subjekts - ebenso wie zum Beispiel "der Homosexuelle" zur Spezies wird, sobald homosexuelle Handlungen als Ausdruck eines homosexuell genannten Subjekts interpretiert werden. Dass ich eine "Frau" bin, wird zur Ursache meiner Handlungen und Meinungen, ich erscheine als eine definierbare Menschenart, artgleich mit der Hälfte der Menschheit, die das gleiche Essential in sich tragen soll, dessen Ausdruck so genannte weibliche Perspektiven oder weibliche Augen sind. Statt Ausdruck meiner Meinungen und Überzeugungen zu sein, werden meine Handlungen zum Ausdruck einer verborgenen Biomacht. Unterschiede werden so nicht als Ausdruck eigener Entscheidungen verstanden, des eigenen Bewusstseins oder Gewissens, Ausdruck eines Individuums, das wählt und denkt und darin frei ist, sondern als Stoff der Person, Stoff aus dem Material Geschlecht, so als wäre dieses eine Mitgift, würde sich das Geschlecht als Wesen der Person verkörpern. Differenz wird "Geschlecht" oder "Rasse" oder Ethnizität genannt. Wenn man so denkt, werden herrschaftlich hergestellte Unterschiede hinterrücks in fixierte und somit in nur noch zu tolerierende umgewandelt. Im Grunde kann man sich dann nur noch gegenseitig dulden, wie man ist. Im Politischen geht es aber nicht darum, was wir sind, sondern darum, was wir tun und wie wir handeln.Demokratie ist außerdem keine Einrichtung zur Herstellung formaler Gleichgewichte, keine Verpflichtung zum Gleichgewicht politischer Meinungen, erst recht nicht von Identitätsgruppen. Sie ist eher eine Verpflichtung zu einem komplizierten Aushandlungsprozess zwischen verschiedenen Beteiligten mit verschiedenem Gewicht. Im Idealfall ist es die Verpflichtung zur Suche - nach kompatiblen Wegen und vernünfigen Kompromissen, nach einem Dialog, der Interessen grundsätzlich nicht fixiert, sondern den Horizont erweitern, das Urteilsvermögen schärfen, anfängliche Sichten modifizieren und so Entscheidungen gerechter machen könnte. Ein politischer Dialog strebt nicht Gleichgewicht an. Denn Dialoge sind unkalkulierbare Prozesse. Wenn Individuen selbstverantwortete Meinungen bilden, ist es mit dem Gleichgewicht vorbei. Die Perspektiven derjenigen, die zuvor nicht wahrgenommen waren, begründen neue Einsichten, neue Lernprozesse, neue Entscheidungen, schaffen also auch neue Ungleichgewichte. Solche notwendigen Positionsveränderungen - ein Kernstück des Politischen - werden im Geschlechterdemokratieansatz bestenfalls zum nachgeordneten Faktor. Denn dieser Ansatz strebt die moralische und politische Verpflichtung zum formalen Gleichgewicht der Stimmen an, eine Geschlechter-Stimmen-Differenz - von der wir gar nicht wissen, ob es sich um "Geschlechterstimmen" handelt, denn wir wissen ja nicht, als wer oder was ein Mensch spricht.Grundsätzlich spräche ja nichts dagegen, den herkömmlichen Demokratiebegriff, mit dem das Ziel der Gerechtigkeit nur höchst unzulänglich erreicht wurde, verändern zu wollen, ihn also mit einem Konzept zu durchkreuzen, das bewusst Identitäten statt Interessen und Meinungen ins Spiel bringt - eine Art Rache: wenn die unwilligen Partner uns schon zu Anderen ihrer selbst, also zu "Frauen" machen wollten, dann sollen sie es auch haben. Das würde heißen: die Erfahrung der ewigen Männer-Dominanz erzwingt ein anderes Demokratieverständnis, der Feminismus wäre gemündet in eine grundsätzliche Revision der herkömmlichen Demokratieidee. Das hätte allerdings Konsequenzen. Denn dann müssten wir analog auch Rassendemokratie, Kulturdemokratie, Ethniendemokratie, Klassendemokratie etcetera fordern beziehungsweise dürften gegen solche Forderungen keine Einwände haben: keine Einwände gegen die Tatsache, dass eine exquisit geschlechterbezogene Politikvorstellung zum Türöffner für lauter Identitäten und Identitätsgruppen würde - der Schwarze ist Schwarzer, der Jude ist Jude, der Behinderte ist Behinderter, der Homosexuelle ist Homosexueller so wie die Frau Frau ist. Alle müssten und könnten nur sich selbst vertreten. Und auf dieses selbst könnte der jeweilige Horizont guten Gewissens begrenzt bleiben. Das wäre das Aus des Politischen. Falls Geschlechterdemokratie so gemeint ist, dann sollte es allerdings auch so gesagt werden.Wenn wir auf dem Unterschied aller von allen bestehen, auf dem "im Plural geschaffenen Menschen" statt den im Plural geschaffenen Geschlechtern, diesen zwei Sorten Mensch, wenn wir also an der Pluralität als Grundlage des Politischen festhalten und Pluralität auch für das zur Einheit gezwungene Geschlecht der Frauen einfordern, dann werden die Grenzen und Fesseln der Geschlechterdemokratie unabweisbar. Zugleich aber benötigen wir Sprachen der Macht, um ökonomische, kulturelle und politische Produktionen von Ungleichheit und Ungerechtigkeit erkennen und beseitigen zu können. Geschlechterdemokratie könnte eine solche Sprache der Macht sein, aber eine vorläufige, eine, die aus der Not geboren ist. Geschlechterdemokratie kann allenfalls ein pragmatischer Weg sein, eine vorübergehende Strategie, eine Inscenierung, Provokation und bewusste Verkehrung, nicht aber ein politisches Prinzip, keine Leitlinie, an der sich politisches Denken grundlegend und dauerhaft orientieren könnte. Das ist der Grund, warum die Idee viele Interessierte bisher nicht wirklich überzeugen und enthusiasmieren konnte, warum das Unbehagen bleibt, warum man auf der Hut sein muss. Das schmälert aber nicht ihren strategischen Wert und nicht die Arbeit derjenigen, die sich für sie einsetzen.Gekürzte Fassung der Eröffnungsrede, gehalten auf dem Kongress Geschlechterdemokratie der Heinrich-Böll-Stiftung in der Humboldt-Universität Berlin am 3./4.11.2000. Christina Thürmer Rohr ist Professorin für Erziehungswissenschaft und Sozialpädagogik an der TUBerlin
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