In Deutschland schmücken sich Politiker gern mit Kunst, was meist nichts anderem als dem Imagegewinn dient, wie gegenwärtig in einer Ausstellung des Deutschen Historischen Museum zu besichtigen ist. In Italien ist das Verhältnis komplexer. Die Rechten geben sich oft betont banausenhaft und die Linken symbiotisch mit der Kultur verbunden. Diese italienische Kulturbeflissenheit gilt auch für die Sprache, während sich die deutsche Öffentlichkeit mit dem artifiziellen Kumpeljargon eines Gerhard Schröder oder den autistischen Durchhalteparolen eines Franz Müntefering abfinden musste, haben führende italienische Genossen wie Massimo D’Alema oder Walter Veltroni eine ähnliche Politik formuliert, ohne die eigene Sprache permanent zu misshande
ndeln.Gerade bei letzterem wird immer wieder spürbar, dass er sich in seinen frühen Jahren als Journalist einen Namen gemacht hat und das nicht auf den Politikseiten, sondern im Feuilleton. Als er zwischen 1991 und 1996 Chefredakteur der sozialdemokratischen Zeitschrift L’Unita war, schaffte Veltroni es durch Aufwertung des Kulturteils, dem Politblatt wieder Leben einzuhauchen und die Auflage steil in die Höhe zu treiben. Viele Leser waren traurig, als er 1996 die Chefredaktion verließ, um Kulturminister zu werden. Aber auch der Minister, Bürgermeister von Rom, Parteivorsitzende und Spitzenkandidat Veltroni blieb dem geschriebenen Wort treu.Merkwürdig untote ZeitVeltronis Sachbücher sind mehr als die üblichen Politikerbücher, weil sie nicht nur selbst, sondern auch gut geschrieben sind. Das Talent für Sprache und Narration zeigt sich auch in den Romanen, mit denen Veltroni Furore macht. Einen davon hat Klett-Cotta nun unter dem Titel Die Entdeckung des Sonnenaufgangs auf Deutsch herausgebracht. Ganz unaufgeregt, fast untertreibend erzählt Veltroni hier eine ziemlich brisante Geschichte. Er geht dabei recht unkonventionell vor, obwohl seine Ausgangssituation fast klassisch zu nennen ist, denn sie zeigt einen mittelalten Mittelschichtsmann in der Identitätskrise. Die Hauptfigur Giovanni Astengo hält sich für einen vom Schicksal arg gebeutelten Menschen: seine Frau will nicht mehr viel von ihm wissen, seine Tochter ist behindert und sein Sohn ein literaturbesessener Eigenbrödler.Schuld an seinem Elend ist der Vater, denkt er, der in den Siebzigern von einem Tag auf den anderen spurlos verschwand und damit die Familie nachhaltig traumatisierte. Da Astengo in seinem Beruf als Archivar damit beschäftigt ist, privat gedruckte Familienchroniken und Autobiografien zu katalogisieren, entscheidet er, die Lücke in seiner eigenen Geschichte zu schließen und nach dem Verbleib des Verschwundenen zu forschen.Dafür begibt er sich in das seit langem nicht mehr benutzte Ferienhaus der Familie und auf eine Reise in die eigene Vergangenheit. In dem Gespenster-Ferienhaus kommt er mit seinem jüngeren Ich ins Gespräch. In den über ein altes Telefon geführten Dialogen schafft er es, sich selbst als pubertierenden Knaben zu rekonstruieren und sein Leben vor dem Verschwinden des Vaters wiederauferstehen zu lassen. Als er auf offene Fragen und Widersprüche stösst, fängt er an, sich aus seiner Phantasiewelt zu befreien. Auslöser ist die Erinnerung an die Ermordung eines Architekturhistorikers durch die Roten Brigaden, der dem Vater nicht nur kollegial, sondern auch durch langjährige Freundschaft verbunden war.Die Terrorgruppe hatte zumindest unterschwellig schon länger eine Rolle im Roman gespielt, denn wer im Italien des Jahres 1977 verschwand, tat dies meist, um in den Untergrund zu gehen und sich den bewaffneten Linksradikalen anzuschließen, die im damaligen Italien – anders als die Baader-Meinhoff-Gruppe in Deutschland – durchaus über eine Massenbasis verfügten. Auf seiner Suche nach der merkwürdig untoten Zeit trifft Astengo die Tochter des Ermordeten sowie die Mörderin, die mittlerweile aus der Haft entlassen wurde und ein bürgerliches Leben als Bibliothekarin führt. Die Begegnung mit der Attentäterin wird jedoch nicht zum erhofften Showdown, sondern zur Antiklimax, denn von ihr erfährt er die Wahrheit über seinen Vater. Danach ist es egal, ob der noch lebt oder nicht, denn auf einmal erweist sich dessen Verschwinden als das Beste, was passieren konnte.Damit ist Astengo nun der Grund für seine Krise und sein Selbstmitleid abhanden gekommen und so fasst er den Entschluß, zukünftig besser als der Vater mit der Verantwortung der Familie gegenüber umzugehen. Ob er dies realisieren kann, wird dem Leser nicht mitgeteilt, aber immerhin erfährt man, dass Astengo aus seiner Geschichte, deren Lücke nun geschlossen ist, ein Buch gemacht hat, das sich bald zu den anderen Büchern in seinem Archiv gesellen wird.Kongenial übersetztVeltronis erster Roman ist von der italienischen Kritik sowie von Kollegen wie Dacia Maraini oder Andrea Camillieri positiv aufgenommen worden und hat den Autor endgültig zum Liebling der Medien werden lassen. Die Entdeckung des Sonnenaufgangs ist kongenial übersetzt und auch auf Deutsch gut lesbar, obwohl der Roman eine sehr italienische Geschichte erzählt, in der Veltroni gekonnt den Albtraum der Bleiernen Jahre (anni di piombo) wiederauferstehen läßt. Die sind zum Trauma der italienischen Linken geworden und werfen bis heute lange Schatten.Deutlich arbeitet der Autor die Absurdität des damaligen linksbürgerlichen Sympathisanten-Milieus heraus, das für die proletarische Sache der Roten Brigaden mordete; noch durchgeknallter erscheinen aber Linksterroristen, die sich durch Attentate auf Architekturprofessoren hervortun. Schwerer als mit den Bleiernen Jahren, die er spannend und mit viel magischem Realismus aufbereitet, tut sich Veltroni mit der in der Gegenwart angesiedelten Rahmenhandlung, hier wirkt einiges doch aufgesetzt und konstruiert. So erscheint die Vergangenheit trotz aller Fragwürdigkeiten interessanter und farbiger als die Gegenwart.