Let`s go Leipzig

Medientagebuch Mediale Wanderungen oder Erlebnisbericht eines Theater-interessierten Users

Vielsurfer besitzen bei der Entwicklung von Vorlieben ihre eigene Logik. Es regt sie an, was herausragt, und es regt sie auf, was regungslos dahinsiecht - da unterscheiden sie sich nicht vom Normal-User. Die besondere Liebe zu einer Website erfasst sie aber nur, wenn ihr Auge auf irgendetwas ganz Nebensächliches fällt, etwas wunderbar Hinreißendes wie etwa die freundliche Waschfrau des Leipziger Schauspielhauses. Zwischen den anderen Mitarbeitern des Hauses - Backstage - sitzt sie direkt neben ihrer Waschmaschine, verschämt weglächelnd, und der User denkt sich, wer kann einem Theater widerstehen, das der Waschfrau einen Platz auf seiner Webseite sichert?

Und mit warmen Herzen rast er weiter, von Theater zu Theater; Spielplan; Service; Repertoire; Karten; Preise; Programm; Spielplan; Aktuell; Service, ach, war ich da schon mal? Deutsches Theater Göttingen und er zuckt zum ersten Mal zusammen: "Alleine?" heißt es im Menü. Oh Gott, denkt der User, das Theater stellt mir existentielle Fragen. Was muss ich tun? Doch hinter dem Link befindet sich ein ganz spezieller Service für Zuschauer, die sich für den Theaterbesuch eine Abendbegleitung wünschen. In einem Standardformular kann der User kurz sein Alter und seine Stückvorlieben beschreiben und dann per Email kontaktiert werden. Die Idee stammt aus Hannover und funktioniert dort als Prinzip genauso. Psychologisch ziemlich gewitzt, denn die Kommunikation des Publikums untereinander trägt wesentlich zum Wohlgefühl bei, und da, wo sich Menschen verbinden, entwickeln sie auch eine Form von Treue an das sie Verbindende. Was könnte einem Theater gelegener kommen als ihr Publikum zu fesseln, sozusagen.

Bindung findet auch über Schauspieler statt. Immerhin sind sie abgesehen vom Kassierer und Platzanweiser die einzigen anderen Menschen, denen das Publikum im Theater begegnet. Auf den Webseiten werden sie sträflich vernachlässigt. Häufig werden sie wie beim Berliner Ensemble in einer langen, formlosen Auflistung genannt. Erst allmählich setzt es sich durch, dass dem Foto des Schauspielers auch ein kurzer Lebenslauf beigefügt wird. In ganz seltenen Fällen darf das Ensemble sogar selbst zu Wort kommen. Das liest sich dann auszugsweise so: "Sehr geehrter Finder dieses Bildes [Schauspielerporträt] Schönen Guten TACH. Respektive Gute Nacht!" oder "Mit der Flüssigkeit eines Wasserfalls; überraschend wie das Leben selbst; und: zumindest halbnackt." Vielleicht kann darum nur in Bautzen den Schauspielern persönlich gemailt werden: Sie könnten zurückschreiben.

Auf den Seiten der Berliner Volksbühne gerät der User richtig ins Stocken. Praxis, Theorie und Konsum: das Publikum wird überschüttet mit Essays und Pamphleten. Begrüßt wird wahlweise in Englisch, Französisch oder Russisch; im Forum wurde zeitweise beschworen, sich aus Diskussionen seiner Freunde und Feinde rauszuhalten und nur heimlich zu zensieren. Erleichtert nutzte daraufhin eine Frau aus Düsseldorf die Gelegenheit, mit dem Haus in Verbindung zu treten. Seit Tagen hätte sie versucht, telefonisch eine Karte für das Stück Rosebud zu bestellen, es sei aber dauernd besetzt. Sie befände sich quasi schon auf dem Weg nach Berlin, ob ihr endlich einer Bescheid sagen könne, ob da noch etwas machbar wäre. Ihr Eintrag wurde kaum zwei Wochen später aus dem Forum gelöscht. Wahrscheinlich hatte sie sich nicht als repräsentativ erwiesen. Leider kann sich das Theater sein Publikum nicht immer aussuchen.

Wählerischer darf dagegen der User sein. Die Funktionalität der Seite sollte stimmen, der Service überzeugen. Doch gerade das ist so eine Sache. Mangelnde Wartung der Seiten, lange Ladzeiten oder ein kompliziertes Online-Kartenbestellsystem verschrecken Besucher. Email- und Forumsanfragen werden häufig nicht beantwortet oder die Kontaktadressen von vorn herein gut versteckt. So freizügig Telefonnummern preisgeben wie das Landestheater Detmold, das nicht nur die der Kassiererinnen, der Abendleitung und den Herrn des Telefondiensts einzeln ausweist, sondern ihnen auch noch ein Gesicht gibt, ist nicht gerade üblich.

Warum nicht Detmold, überlegt der User. Endlich einmal kann man auch per Online-Kartenbestellung seinen Ermäßigungsanspruch anmelden. In Mainz verzweifelt man währenddessen am Fünf-Schritte-System der Online-Buchung. Wenigstens das Schauspielhaus Dresden bietet eine Orientierungshilfe. Nicht für das Kartenbestellsystem. Für den unentschlossenen Zuschauer, der nicht weiß, welches Stück zu ihm passt. Er kann sich nun überlegen, ob er sich der Young Generation, der Familie, den Senioren oder den Experimentierfreudigen zugehörig fühlt und bekommt entsprechend eine Auswahl für ihn reizvoller Stücke aufgelistet. Das ist beinahe genauso praktisch wie der Babysitter-Dienst in Oldenburg (kostenlos) und Altenburg/Gera (DM 5), der junge Familien für die Zeit der Vorstellung von ihrem Nachwuchs befreit.

Es sind besonders die kleinen Theater, die sich durch einen Hang zum liebevollem Detail auszeichnen. Manch biederes Design sei ihnen deshalb verziehen, zumal auch größere Häuser davor nicht gefeit sind. Recht modernisierungsbedürftig kommen das Berliner Ensemble oder Stuttgarter Staatstheater daher. Seiten, die durch ihre schlichte Eleganz und Funktionalität auffallen, sind die vom Bremer Theater oder dem Deutschen Theater Berlin und besonders herausragend ist das ambitionierte Projekt des Hamburger Schauspielhaus, das das Netz gleich zu seiner fünften Spielstätte erklärt und damit ganz andere Ansprüche erfüllen will.

In jedem Fall sind die Webseiten der Theater eine Erweiterung ihres Wirkungskreises - Empfindungen, die sich beim User während des Surfens einstellen, überträgt er auch auf den Ort des wirklichen Geschehens, auch wenn er sich da manchmal etwas irrational beeinflussen lässt. Aber wenn nicht emotional, wie sollte sich der Mensch denn sonst seinem Theater nähern?

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