Das gab es noch nie!“ titelten Halles Lokalzeitungen nach der Stadtratssitzung. Ende Oktober hatten etwa hundert Kinder, Jugendliche und Schauspieler des Thalia Theaters das Stadthaus gestürmt. Axel Gärtner, der seit mehr als 30 Jahren am Thalia engagiert ist, wurde von Ordnern aus dem Saal geworfen. Er hatte den Geschäftsführer von Halles Kultur GmbH Rolf Stiska, zu der das Theater gehört, als ein Lügner bezeichnet, der unverantwortlich mit Geldern umgehe.
Die als Thalia 21 organisierte Protestbewegung will verhindern, dass die einzige Kinder- und Jugendbühne des Landes mit einer bis in DDR-Zeiten zurückreichenden Tradition geschlossen wird. Halles Kultur GmbH, zu der neben dem Thalia auch die Oper, ein Puppentheater und das „neue theater“ gehören, steht mit einer Million Euro Defizit da. Der Aufsichtsrat beschloss daher, das Haus zum 31. Juli 2011 zu schließen – falls die Anfang November aufgenommenen Haustarifvertragsverhandlungen scheitern. Damit hängt die Existenz des Kinder- und Jugendtheaters von der Solidarität der Beschäftigten ab.
Halle ist kein Einzelfall: Dem Rostocker Volkstheater fehlen ebenfalls eine Million Euro im Etat. Das Theater Erlangen soll ein Zehntel seines Produktionsbudgets einsparen. Am Theater Altenburg-Gera wurde mit Thüringer Landesmitteln soeben die Insolvenz abgewendet. Und in Hamburg hat unlängst ein Kultursenator am Beispiel des Schauspielhauses demonstriert, wie man durch (mittlerweile revidierte) Sparauflagen eine Traditionsbühne zerstören könnte. Zwar liegen die Fälle verschieden. Aber deutlich wird: Die Finanzkrise ist in den Kommunen angekommen, die Kämpfe und Debatten werden härter. Halle zeigt allerdings auch exemplarisch, wie verkürzt die se Debatte in der Öffentlichkeit meist geführt wird. Mit dem in der Kulturszene weit verbreiteten Bild vom böswilligen (Provinz-)Politiker, der kulturelle Kahlschläge plant, rettet man jedenfalls genauso wenig Kultur wie mit der Vorstellung, man könne durch eine Theaterschließung einen maroden Haushalt sanieren
Was Halle betrifft, so gibt es viele gute Gründe, das Thalia Theater zu verteidigen. Es macht, um mit Sachsen-Anhalts Kultusministerin Birgitta Wolff zu sprechen, die sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten für seinen Erhalt einsetzt, „eben nicht die Art von Kindertheater, wo Eltern sonntagnachmittags mit ihren Kids hingehen.“ Wer ins Hallenser Thalia reist, fühlt sich eher wie in einem Ableger der Kreuzberger Avantgarde-Bühne Hebbel am Ufer – nur eben für Kinder: Intendantin Annegret Hahn hat den traditionellen Theaterbegriff gehörig erweitert und damit ein Zuschauerklientel gewonnen, das sich sonst selten ins Theater verirrt. Hahn bespielt leer stehende Plattenbauten, organisiert mit der Martin-Luther-Universität eine Kinder-Uni, oder holt „Ultras“ auf die Bühne, radikale Fans von Halles Fußballklub HFC Chemie. Dass solche Projekte gelegentlich umstritten sind, ist für ein Theater noch nie ein schlechtes Argument gewesen: Umstritten ist nur, wer tatsächlich den Finger in Wunden legt. Und dass Hahn immer wieder Kooperationspartner wie die Bundeskulturstiftung oder Künstler wie Dirk Laucke gewinnen kann, einen der wichtigsten jungen Gegenwartsdramatiker, hat natürlich genau mit dem von Birgitta Wolff benannten „hohen Anspruch“ zu tun, „der für Eltern in einem kulturell doch recht konservativen Land nicht so leicht verdaulich ist.“
Sinkende Einwohnerzahl
Als Annegret Hahn mit ihrem Thalia der GmbH beitreten sollte, die sich zum Januar 2009 gründete, tat sie das nur widerwillig. Jetzt sitzt sie in ihrem Stammcafé, dem Fräulein August neben dem Theater, und sieht partout nicht ein, warum ausgerechnet sie, die von jeher mit flexiblen Strukturen gearbeitet, erfolgreich Drittmittel eingeworben und Halles Theaterlandschaft in die überregionale Aufmerksamkeit katapultiert hat, das Defizit der GmbH ausbaden soll. Man kann Annegret Hahn sehr gut verstehen. Da muss die Gegenseite schon zwingende Argumente haben!
Eine Stunde später, Gespräch mit der Oberbürgermeisterin im Ratshof. Zwar hängt im Flur neben Dagmar Szabados’ Zimmer ein Porträtfoto, das für einen eher konservativen Theatergeschmack spricht: Es zeigt Peter Sodann, den ehemaligen Tatort-Kommissar, aussichtslosen Ex-Bewerber ums Bundespräsidentenamt und Gründer der Hallenser Kulturinsel mit eben jenem neuen theater, das mittlerweile ebenfalls zur Kultur GmbH gehört und von Sodanns Nachfolger Christoph Werner geleitet wird. Aber den Eindruck, dass es ihr Spaß machen könnte, ein ambitioniertes Kinder- und Jugendtheater zu schließen, vermittelt Szabados wahrlich nicht. Halle ist pleite, rechnet die Bürgermeisterin vor. Das aufgelaufene Defizit beträgt 267 Millionen Euro. Und 50 bis 55 Millionen – 12 Prozent des Gesamtverwaltungshaushaltes – gibt die Stadt jährlich für Kultur aus. Das ist, nur mal so gesagt, das Zehnfache der Ausgaben für Sport und das Zwanzigfache der Ausgaben für den Jugend- und Sozialbereich. Allein 24 dieser 50 bis 55 Kulturmillionen gehen an die GmbH. Knapp 12 Millionen kommen zusätzlich aus der Landeskasse Sachsen-Anhalts dazu. Damit verfügt Halles Kultur GmbH in etwa über ein Volumen wie das Deutsche Theater und die Volksbühne Berlin – zwei der profiliertesten Hauptstadt-Häuser mit jeweils mehr als zwei Spielstätten. Und das bei einer Bevölkerungszahl von etwas mehr als 200.000 Einwohnern. „Halle ist die Stadt mit den deutschlandweit niedrigsten Gewerbesteuereinnahmen – und gleichzeitig mit den höchsten Kulturausgaben pro Kopf“, benennt Szabados ein Dilemma, das sie sich schlichtweg nicht mehr leisten kann. Wer aus ihrem Empfangszimmer blickt, kann sie intuitiv verstehen. Es ist beste Einkaufszeit. Aber auf dem sanierten Marktplatz, an dem sich historische Bauten mit Shopping-Ketten die Hand reichen, sind nur wenige Menschen unterwegs.
Halles Bevölkerungszahl ist seit 1990 um ein Drittel gesunken. Von den massiven infrastrukturellen Rückbaumaßnahmen blieb die Kultur bisher weitgehend verschont. „Als ringsum im Lande schon überall gespart wurde, gab es hier immer noch zwei große A-Orchester mit jeweils über 100 Musikern, wo man von außen so dachte: Mensch, das ist ja Wahnsinn, wie machen die das“, sagt der Geschäftsführer der Kultur GmbH, Rolf Stiska. Erst unter enormem Druck, auch der Landesregierung, habe man 2009 reagiert, die beiden Orchester fusioniert, die GmbH gegründet, Verwaltung, Technik, Theaterpädagogik und Öffentlichkeitsarbeit zentralisiert und so 4,5 Millionen Euro eingespart. Doch zahlenmäßig haben sich Halles Theater seit 1990 nicht reduziert. „Wer soll das alles nutzen?“, fragt Dagmar Szabados und sieht ehrlich ratlos aus. „Die Auslastung unserer Bühnen liegt im Schnitt bei 60 Prozent!“
Daran, dass Annegret Hahn für diese 60 Prozent hervorragendes Theater macht, zweifelt eigentlich keiner. Hahns Intendanten-Kollege Christoph Werner vom neuen theater kann die „Verdienste, die sich das Thalia um die Erweiterung des Kulturbegriffs“, um neue Theaterformate und eine veränderte Kommunikation zwischen Bühne und Zuschauerraum in Halle erworben hat, gar nicht hoch genug schätzen. „Würde man das Haus schließen, wäre dieser Bereich nicht zu ersetzen“, ist er sich sicher. „Jeder, der was anderes erzählt, betreibt Augenwischerei.“ Und Dagmar Szabados selbst outet sich als Fan der „Kinderstadt“, in der Halles Nachwuchs alle zwei Jahre eigenverantwortlich sein Biotop errichten und praktisch Demokratie erproben darf.
Wenn sich also alle einig sind über die zukunftsweisenden Qualitäten des Thalia Theaters: Gäbe es dann nicht andere Wege als die Schließungsdrohung? Zumal vom Gesamtbudget der GmbH auf Hahns Haus „nur“ 3 Millionen Euro entfallen und das entstandene Defizit aktuell „nur“ bei einer Million liegt? Entweder, rechnet Geschäftsführer Stiska knallhart die Alternativen vor, kürze man überall ein bisschen und senke dadurch flächendeckend die Qualität. Oder man mache eben den harten Schnitt und schließe eine Sparte. „Nehme ich dabei die Oper weg, gibt es kein Musiktheater mehr in der Stadt. Nehme ich dagegen eines der beiden Schauspiele“ – also entweder das neue theater oder das Thalia – „die schlecht ausgelastet sind und sich auch sicherlich irgendwo überschneiden, habe ich immer noch alle Genres.“
Spielräume
Anstelle des Kinder- und Jugendtheaters das neue theater zu schließen, das die Versorgungsaufgaben eines klassischen Stadttheaters übernimmt, habe natürlich „keiner ernsthaft diskutiert.“ Man kann Stiskas Rechnung nicht wegdebattieren. Zumal Christoph Werners Vorgänger Peter Sodann viele Schauspieler in den Unkündbarkeitsstatus gebracht hat, den es nach 15 Jahren festem Engagement gibt. So zeigt Halle exemplarisch eben auch die Gefährdung junger, flexibler Kräfte und Strukturen zugunsten einer alten Bewahrungsmentalität: Von Hahns 14 Schauspielern sind gerade mal zwei unkündbar. Die anderen wird man durch „Nichtverlängerung“ ihrer Verträge im Nu los.
Im Moment besteht jedoch eine reelle Chance, dass die Haustarifverträge zustande kommen, vielleicht sogar bis 2016. Konkreteres ist nicht zu erfahren, weil die Verhandlungen noch andauern. Gemunkelt wird über Gehalts- bzw. Zuwendungsverzichte zwischen 10 und 20 Prozent – bei entsprechendem „Freizeitausgleich.“ Das hieße: Alle Bühnen blieben erhalten, ihre Mitarbeiter verdienten aber weniger und spielten entsprechend noch seltener – auch, um die niedrige Auslastung abzufangen.
Es hieße aber auch: Selbst mit Haustarifverträgen würden sich GmbH und Stadt, so Szabados, lediglich „eine gewisse Zeit relativer finanzieller Sicherheit erkaufen“. Die Tarife werden schließlich weiter steigen – im Gegensatz zu den finanziellen Spielräumen von Stadt und Land. Eine Politikerin, die das Dilemma zwischen aufrichtigem Kulturwillen und nachvollziehbaren Sparzwängen vielleicht am besten verkörpert, ist Sachsen-Anhalts Kultusministerin Wolff: Die Bitte von Szabados, wenigstens die Hälfte der Tarifaufwüchse – genau: 450.000 Euro – aus dem selbst hoch verschuldeten Landeshaushalt zuzuschießen, hatte Wolff im Juli noch abschlägig beantworten müssen. Später setzte sie selbst ihre Unterschrift unter die Proklamation des Thalia Theaters, selbstständig weiterspielen zu dürfen und die Entscheidung des Aufsichtsrats zu überprüfen.
Den Forderungen, das Thalia Theater einfach zu hundert Prozent aus Landesmitteln zu finanzieren, kann Wolff beim besten Willen nicht nachkommen: Abgesehen vom miserablen Finanzbudget hat Sachsen-Anhalt hat keine einzige Landesbühne. Die studierte Betriebswirtin denkt in eine andere Richtung: „Vielleicht muss man überlegen, wie man das Thalia noch stärker akzentuieren und die Kosten nochmal senken kann. Zum Beispiel, indem man auch andere Ensembles im Haus spielen lässt, die Trägerschaft an einen Förderverein ausgliedert – den es im Prinzip schon gibt – und noch gezielter Sponsoren anspricht. Dann hätte man ein Haus für Kinder- und Jugendtheater, in dem das Thalia dieses avantgardistische Spektrum mehr bedienen und andere Ensembles vielleicht ein traditionelleres Angebot leisten könnten.“ Denn auch die Thalia-Unterstützerin Wolff weiß: „Wir sind nicht Berlin oder Hamburg, wo man sich Avantgarde einfach mal so leisten kann, im wahrsten Sinne des Wortes.“
Man kann allen am Thalia-Konflikt Beteiligten tatsächlich nur die Daumen drücken. Und leider deutet alles darauf hin, dass Halle erst der Anfang ist.
Christine Wahl, geb. 1971 in Dresden, ist freie Theaterkritikerin. Der Text bildet den Auftakt zu der losen Serie "Theater heute", die sich mit verschiedenen Aspekten des aktuellen Bühnengeschehens befassen wird.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.