Die Schattenseite der Autonomie

Volkskrankheit Depression Sie grassiert wie kaum eine andere Störung - doch der forcierte Behandlungsauftrag verdeckt auch die produktive Dimension depressiver Verstimmtheit

Schätzungen zufolge leiden fünf Prozent der Deutschen an einer behandlungsbedürftigen Depression, das sind bundesweit rund vier Millionen Menschen. Tendenz steigend - die Weltgesundheitsorganisation WHO geht davon aus, dass bis 2020 Depressionen die zweithäufigste Ursache für Arbeitsunfähigkeit sind. Werden wir - trotz Wirtschaftsaufschwung - also unweigerlich ein Volk von Depressiven?

Überforderung macht krank

Michael Kastner, Arbeits- und Organisationspsychologe an der Universität Dortmund, führt die Häufigkeit der Depression auf die zunehmende "Dynaxität" (Dynamik plus Komplexität) moderner Lebens- und Arbeitsvollzüge zurück. Weil diese so schnell und vielschichtig geworden seien, könnten die Menschen oft nicht mithalten. Aus der wiederholten Erfahrung persönlicher Überforderung zögen sie den krank machenden Schluss, den Anforderungen modernen Lebens dauerhaft nicht gewachsen zu sein.

Dabei ist die Frage, ob depressive Erkrankungen tatsächlich zunehmen, gar nicht leicht zu beantworten. Neuere Ergebnisse legen diesen Schluss zwar nahe - für alle Industrieländer. Insbesondere sollen depressive Störungen bei jüngeren Menschen ansteigen ("häufiger und früher"). Doch wird dieser so genannte Alters-Kohorten-Effekt seit Jahren kontrovers diskutiert. Als mögliche Ursachen werden zum einen die zunehmende Urbanisierung und Mobilität, die schnellere Veränderung der Lebensbedingungen und die Erosion sozialer Netzwerke angeführt. Andererseits ist auch möglich, dass jüngere Menschen sich eher als depressiv bezeichnen und über entsprechende Symptome berichten als ältere.

In der Medizin gilt als gesichert, dass Depressionen multifaktoriell bedingt, dass an ihrer Entstehung also mehrere Umstände beteiligt sind. Neben genetischen und biologischen Faktoren betont Joachim Bauer, Oberarzt an der Psychosomatischen Uniklinik in Freiburg, die Bedeutung zwischenmenschlicher Beziehungen und den Verlust des Selbstwertgefühls bei allen Formen depressiven Krankseins. Das Gefühl des eigenen Werts speist sich ihm zufolge vor allem aus zwei Quellen - der kindlichen Erfahrung, bedingungslos geliebt zu werden, und der Anerkennung eigener Leistungen durch andere im späteren Leben. Besonders gefährdet, an einer Depression zu erkranken, sind demnach sehr pflichtbewusste und selbstlose Menschen. Fallen Anerkennung und Zuwendung plötzlich weg, etwa wenn sich ein nahestehender Mensch emotional abwendet, kann das Selbstwertgefühl Schaden nehmen, und eine Depression ist die Folge.

Depression oder Melancholie?

Doch handelt es sich bei der depressiven Störung eher um eine Depression oder um Melancholie? Beide Begriffe durchziehen die Psychiatriegeschichte. Während jedoch die Melancholie über 2000 Jahre alt ist, kommt der Begriff "Depression" erst um 1800 auf und soll auf eine Anregung des schottischen Arztes William Cullen zurückgehen. Im Unterschied zu älteren Vorstellungen erklärt er die Schwermut endgültig zur Gehirnkrankheit. Im Lauf des 19. Jahrhunderts gewinnt der Begriff Depression dann zunehmend die Oberhand. Die Melancholie ihrerseits ist mittlerweile mit derart vielen Bedeutungen und Theorien überfrachtet - Uwe Peters beschreibt 1999 einunddreißig Melancholieformen! -, dass das Wort alles und nichts aussagt. Doch im Lauf des 20. Jahrhunderts verliert auch der Begriff Depression an Klarheit und bezeichnet heute nur noch irgendein Herabgestimmtsein ohne weitere Abstufung.

Die so genannte evolutionäre Psychiatrie dagegen fragt danach, ob Depressionen im Rahmen der Evolution womöglich einen Vorteil, einen Anpassungswert hatten. Sie geht davon aus, dass nicht alle psychischen Störungen auch Krankheiten im engeren Sinn sein müssen. Schon Sigmund Freud hatte in seiner klassischen Arbeit Trauer und Melancholie normale Trauer und Depression als Gegensätze nebeneinander gestellt. Könnte eine depressive Phase auch für etwas gut sein? John Price und Anthony Stevens zufolge ist es vorteilhaft, nach einer Niederlage oder einem Verlust deprimiert zu reagieren. Das halte die Betroffenen davon ab, es gleich wieder (und mit hoher Wahrscheinlichkeit erfolglos) zu versuchen, schütze also vor weiteren Niederlagen und Verlusten. Niedergeschlagenheit demnach als Selbstschutz und Anpassungsleistung des Individuums? Das gilt aber nur für leichtere Stimmungsschwankungen. Schwere Formen deutet auch die evolutionäre Psychiatrie als Krankheit.

Schutz durch ritualisierte Trauer

Anfang des 20. Jahrhunderts begründet der Psychiater Emil Kraepelin eine neue Forschungsrichtung - die transkulturelle oder vergleichende Psychiatrie. Bei seinen Studien auf Java bemerkt er, dass ausgeprägte Formen von Depression dort sehr selten sind. Inzwischen gilt zwar als gesichert, dass krankhafte Niedergeschlagenheit in nennenswertem Ausmaß auch in außereuropäischen Kulturen vorkommt. Doch wie vergleichende ethnologische Studien zeigen, gehen Menschen mit Trauer sehr unterschiedlich um. So kommen etwa traditionelle Gesellschaften Melanesiens den Bedürfnissen Trauernder erheblich entgegen: Zunächst wird hier - aus unserer Sicht paradox - der Trauernde durch heftiges Weinen der Angehörigen und Gäste geradezu in einen Zustand reaktiver Depression gedrängt. Nach der so teilweise ausgelebten Niedergeschlagenheit führt die Gruppe ihn mit geeigneten Zeremonien schrittweise ins Leben zurück.

Solche Trauer fördernden Rituale wird man in zivilisierten Ländern lange suchen. Sind Depressionen deshalb hier zu Lande häufiger? Ob und wie die Wunde eines Verlustes heilt, scheint immerhin wesentlich davon abzuhängen, wie Trauer ermöglicht und begleitet wird. Gerhard Dammann, Chefarzt der Psychiatrischen Klinik in Münsterlingen, weist jedoch darauf hin, dass der Depressive (im Sinn der Anpassung) nur dann etwas von seiner Depression "hat", wenn er in eine soziale Gruppe eingebunden ist, die auf seine Bedürfnisse eingeht. Der vereinsamte Depressive bleibe dagegen "erfolglos".

Alain Ehrenberg, Professor am Centre de Recherches Psychotropes in Paris, spricht von der "Strapaze, man selbst zu sein" und vermutet in der Depression die Schattenseite der Autonomie. Ihm zufolge spiegelt die Häufigkeit der Depression einen Wechsel im sozialen Regelwerk, eine Veränderung unserer Sicht auf die "Institution Individuum": War bis in die sechziger Jahre die Gesellschaft vor allem auf Disziplin, Gehorsam und Verbot gegründet, stützt sie sich seitdem zunehmend auf persönliche Initiative, Wahlfreiheit und das Ideal der Selbstverwirklichung.

Eine solche Gesellschaft enthüllt jedoch Mängel in der Ich-Strukturierung, die in der disziplinierenden Gesellschaft gar nicht aufgefallen sind. So ist in einer durch Disziplin und Verbot bestimmten Lebensweise mit Sigmund Freud die Hauptfrage "neurotisch": Was darf ich tun? Steht jedoch die Autonomie des Einzelnen im Vordergrund, wird die Frage "depressiv": Bin ich in der Lage, es zu tun? Ehrenberg zufolge geht dieser Wertewechsel notwendig mit einer Erweiterung der Grenzen des Selbst einher. Die Folge: zunehmende Verantwortung und persönliche Unsicherheit.

In der Fortschrittsfalle

Vor diesem Hintergrund ist Depression weniger ein trauriges Gefühl als ungenügendes Handeln. Parallel dazu vollzieht sich laut Ehrenberg in der Medizin ein Paradigmenwechsel: Konflikt und Schuld treten in den Hintergrund zugunsten von Vorstellungen persönlichen Ungenügens. Angesichts der neuen Frage, welche Antidepressiva der Arzt für diese oder jene Depression verschreiben solle, verliere die Kategorie der Neurose ihren Sinn. Neue nebenwirkungsarme Antidepressiva erlaubten heute die Behandlung jeder "Dysfunktion", unabhängig davon, ob sie einen Krankheitswert habe oder nicht. Indem sie die Hoffnung wecken, psychisches Leiden zu überwinden, stehen diese Medikamente, so Ehrenberg, für die unbeschränkte Möglichkeit, die Seele gefahrlos zu beeinflussen.

"In der Fortschrittsfalle" sieht der Hamburger Psychiater Klaus Dörner ein Gesundheitssystem, in dem der Einzelne sich immer weniger gesund fühlt, je mehr er für seine Gesundheit tut. Der gesundheitsbewusste Bürger ist gerade nicht der gesunde Bürger, ist doch Gesundheit nach Hans-Georg Gadamer verborgen, "selbstvergessenes Weggegebensein an die privaten, beruflichen und sozialen Lebensvollzüge" und damit eben nicht herstellbar. Nur wenn Vitalität durch Krankheit beeinträchtigt sei, so Dörner, sollten Ärzte tätig werden; für die Gesundheit selbst dürften sie sich keinesfalls zuständig erklären, sonst werde das Gesundheitssystem zur größten Vitalitätsvernichtungsmaschine.

Wie kann man erklären, dass sich in den USA zwischen 1987 und 1997 die Zahl der wegen Depression Behandelten nahezu vervierfacht hat? Dörner zufolge gelang es dort, in einer Art "Rasterfahndung" mit Hilfe suggestiver Aufklärung und aggressiver Werbung für Antidepressiva bislang unentdeckte Depressive aufzuspüren. Davon profitierten zwar immer einige Menschen, doch viele andere nähmen durch zusätzliche Etikettierung in ihrer Vitalität Schaden.

In Deutschland ist die Situation zwar weniger drastisch; doch auch hier erhöhte sich die Zahl der mit einem Antidepressivum behandelten Frauen und Männer zwischen 1998 und 2003 um 43 Prozent. Seit 1991 stiegen die verordneten Tagesdosierungen von 200 auf 600 Millionen an. Laut Gerd Glaeske, Professor am Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen, gehören Medikamente gegen Depression damit zu den am stärksten wachsenden Gruppen in der Arzneimittelversorgung. Dabei ist den Psychiatern die Gefahr der zu häufigen Diagnose - indem etwa eine normale Trauerreaktion zur behandlungsbedürftigen Depression erklärt wird - durchaus bewusst. Dörner plädiert hier für äußerste Zurückhaltung, sonst werde im Rahmen "zunehmender Marktabhängigkeit (...) eher für eine neue Pille eine Krankheit erfunden als umgekehrt".

Bei allem Nachdenken über die "Volkskrankheit Depression" sollte man nicht vergessen, dass immerhin 95 Prozent der Deutschen nicht (noch nicht?) depressiv sind, obwohl sie alle den Anforderungen des modernen Lebens täglich ausgesetzt sind. Fast immer lohnt es sich also, nicht nur zu fragen, was uns krank macht, sondern auch, was uns eigentlich gesund erhält. Auch ein Depressiver ist niemals nur depressiv, mag in schweren Fällen die Krankheit auch alles andere überschatten.

Christof Goddemeier ist ist Arzt für Neurologie und Psychiatrie in einem Psychiatrischen Krankenhaus.


Zum Weiterlesen:

Hans-Georg Gadamer: Über die Verborgenheit der Gesundheit. Frankfurt a.M. 1993

Gabriela Stoppe, Anke Bramesfeld, Friedrich-Wilhelm Schwartz (Hrsg.): Volkskrankheit Depression? Berlin, Heidelberg 2006

Rolf Baer: Themen der Psychiatriegeschichte. Stuttgart 1998

Heinz Schott, Rainer Tölle: Geschichte der Psychiatrie. München 2006


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Die Vielfalt feiern – den Freitag schenken. Bewegte Zeiten fordern weise Geschenke. Mit dem Freitag schenken Sie Ihren Liebsten kluge Stimmen, neue Perspektiven und offene Debatten. Und sparen dabei 30%.

Print

Für 6 oder 12 Monate
inkl. hochwertiger Weihnachtsprämie

Jetzt sichern

Digital

Mit Gutscheinen für
1, 6 oder 12 Monate

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden