Keine Frage, ein fairer Wettkampf war das nicht vor 2000 Jahren. Die Gallier Asterix und Obelix sind bis an die Haarwurzeln mit dem Zaubertrank ihres Druiden abgefüllt, wenn sie Römer oder Piraten vermöbeln. Die potion magique verleiht ihnen übermenschliche Kräfte, und auch ein weiteres Kriterium des Doping ist hier sicher erfüllt: Die Einnahme der leistungssteigernden Substanz erfolgt bewusst und zielgerichtet. Doch Kontrolleure gab es damals nicht. Und wer hätte die beiden auch von weiteren sportlichen Aktivitäten ausschließen sollen? Die Römer?
Tatsächlich ist Doping gar nicht neu - offenbar kam es bereits bei den Olympischen Spielen der Antike vor. Bei den Spielen 1904 in St. Louis muss man den amerikanischen Marathonläufer Thomas Hicks wiederbeleben, er soll ein Gemisch aus Strychnin, Eiern und Weinbrand zu sich genommen haben. In den zwanziger Jahren machen Sprinter sich vor dem Lauf mit einem Schluck Sekt locker, die "schnelle Pulle" der Radrennfahrer ist legendär. Nach seinem letzten Kampf murmelt Muhammad Ali zur Erklärung seiner Niederlage: "and then the drugs". Dabei bleibt unklar, ob er Doping-Mittel oder andere Pharmaka meint.
Grenznutzen des Trainings
In den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts ist das Thema noch kaum präsent. 1962 kommt der Europarat zum Schluss, Doping sei in erster Linie ein Problem der Tour de France. Wenn die Franzosen dazu ein Gesetz erlassen wollten, sei das sicher angebracht. Weiterer Handlungsbedarf wird nicht gesehen. In den siebziger Jahren wird zunehmend deutlich, dass Doping nahezu flächendeckend und systematisch betrieben wird.
1994 bringt DLV-Präsident Helmut Digel schon Wesentliches zum Thema auf den Punkt. Der Steigerungsimperativ des Spitzensports bewirke, "dass Athleten immer intensiver mit Fragen des Grenznutzens ihres Trainings und ihrer Wettkämpfe konfrontiert werden. Dies führt uns zur Vermutung, dass die Systemlogik des Hochleistungssports Doping-Verstöße zwangsläufig bedingt".
Bis in die dreißiger Jahre hinein brauchte ein Sportler sich mit Fragen des Grenznutzens nicht zu beschäftigen. Bei den ersten Olympischen Spielen 1896 in Athen errang man noch ziemlich leicht eine Medaille. Denn die Leistung, die damals einer dafür erbringen musste, erzielt heute jeder Anfänger bei seinen ersten Versuchen. So gewann das Diskuswerfen 1896 tatsächlich ein Athlet, der einen Tag vor dem Wettkampf zum ersten Mal eine Scheibe in der Hand gehabt hat. Seit den dreißiger Jahren ist der zeitliche Aufwand für Training, Wettkämpfe, ärztliche Betreuung und Regeneration jedoch enorm gestiegen. Schätzungen zufolge trainiert ein Leistungssportler 1980 viermal so lange wie 1950. Dabei macht er irgendwann in seiner Karriere unweigerlich eine ernüchternde Erfahrung: Nach raschem Erfolg bei geringem Aufwand zu Beginn muss er bald für eine minimale Leistungssteigerung immer mehr trainieren.
Aus der Soziologie stammt die Theorie sozialer Differenzierung, nach der die Gesellschaft aus ungleichen, aber gleichrangigen Teilbereichen besteht. Jedes dieser Segmente bildet seine eigene Logik aus, etwa Wirtschaft, Politik, Erziehung, Recht, Religion und Sport. Damit solche "Wertsphären" (Max Weber) Bestand haben, brauchen sie eine Orientierung. Nahezu alle Teilbereiche operieren dabei mit sogenannten binären Codes, zum Beispiel das Rechtssystem mit dem Code von Recht/Unrecht.
Die Logik von Sieg und Niederlage
Im Sport lautet dieser Code Sieg/Niederlage. Mit unerbittlicher Logik bestimmt er jede Sportlerkarriere. Und er sorgt dafür, dass die Rolle des Athleten im Unterschied zu anderen Berufen keine "dauerhaft konservierbare Leistungslizenz" kennt, wie die Soziologen Karl-Heinrich Bette und Uwe Schimank ausführen. So erringen Spitzensportler immer nur vorübergehende Siege - "Leistungszertifikate mit geringer Haltbarkeitsdauer". Helden auf Zeit nennt sie der Hochspringer Carlo Thränhardt. Dabei ist der künftige Erfolg eines Leistungssportlers paradoxerweise um so unsicherer, je mehr Erfolge er bereits errungen hat - muss er sich doch, dem Siegescode folgend, immer wieder selbst überbieten, um weiter zu bestehen.
Zudem laufen Spitzensportler mehr als andere Menschen Gefahr, in der "biographischen Falle" zu landen - ihre "Wahl" eines bestimmten Weges ist meistens unumkehrbar und dessen Verlauf zum Zeitpunkt der Wahl in der Regel nicht übersehbar. So geraten Sportler in eine verfahrene Situation, in der sie bereit sind, Dinge zu tun, die sie früher weit von sich gewiesen hätten.
Wo aber beginnt Doping? Bei der künstlich herbeigeführten Leistungsminderung im Reitsport, wenn einer den Gaul seines Konkurrenten mit Arsen vergiftet? Anfang des 19. Jahrhunderts ist das eine beliebte Methode. 1990 veröffentlicht Joseph Keul, langjähriger Leiter der Sportmedizinischen Abteilung an der Freiburger Uniklinik, in der Deutschen Zeitschrift für Sportmedizin einen Artikel, der sich mit den leistungsmindernden Aspekten des Jetlags und der Verabreichung von Schlafmitteln als Gegenmaßnahme befasst. Der Hintergrund: Hochleistungssportler müssen bei ihren Wettkampfvorbereitungen dem Jet-lag-Phänomen besondere Aufmerksamkeit widmen - es wirkt nämlich deutlich leistungsmindernd. Als Faustregel gilt: Pro Stunde Zeitdifferenz ein Tag Anpassung.
Wollte er die auf natürlichem Weg bewältigen, müsste ein deutscher Athlet zu einem Wettkampf in Japan eine Woche vorher anreisen. Aber wer macht das schon? Keul und seine Mitarbeiter befassen sich mit dem Jetlag ausschließlich, um "leistungshemmenden Einflüssen entgegen zu wirken" und um die "Leistungsfähigkeit sicherzustellen". Sportarzt Hans Spring schreibt 1990 von der "Annehmlichkeit des schlafenden Fliegens" - ebenfalls hervorgerufen durch ein Benzodiazepinpräparat. Vom erheblichen Abhängigkeitspotential dieser Substanzen ist keine Rede, eine medizinische Indikation für die Einnahme nicht erkennbar. Doping?
Für den Sozialwissenschaftler Günter Amendt ist Doping "nichts als ein Sonderfall des weltweiten Drogenproblems". Für ihn gibt es keinen Unterschied zwischen Sportlern, die ihre körperliche Leistungsfähigkeit künstlich zu steigern versuchen und Menschen, die ihre Psyche mit Hilfe von Rauschmitteln beeinflussen: "Sie alle folgen der Vorstellung, der menschliche Körper sei beliebig manipulierbar." Risiken des Medikamentengebrauchs werden dabei in Kauf genommen, und sei es um den Preis eines verkürzten Lebens. "Wenn ich Olympiasieger werde, ist es mir egal, wenn ich in zehn Jahren tot bin", sagt etwa ein Gewichtheber. Der Turiner Staatsanwalt Raffaele Guariniello hat zahlreiche Fußballprofis vernommen - ein Bewusstsein für die Gefahren des Dopings hat er nur bei wenigen erkennen können.
Amendt zufolge leben weltweit Tausende von Spitzensportlern nach dem Motto "Dying to win" - Sterben für den Sieg. Nur vordergründig gehe es bei der Dopingdiskussion um Wettbewerbsverzerrungen, vielmehr werde die "prototypische Gestalt eines ´neuen Menschen´ antizipiert und zugleich der Moralkanon neu verhandelt". Irgendwie schlüssig: In einer Leistungsgesellschaft beansprucht der Athlet als freier Unternehmer volle Verfügungsgewalt über sein Kapital, soll heißen: über seinen Körper. Der agiert am Markt als sein eigenes Profit-Center. Laut Amendt ist Leistungssport Arbeit, die sich als Spiel zu tarnen versucht: "Leistungsprinzip, Leistungsgesellschaft, Leistungssport und Leistungsdrogen - das eine ergibt sich aus dem andern." So ist Sport lediglich ein Spiegel moderner Gesellschaften, deren "Alltagsrhythmus vom Zeitdiktat der Maschinen bestimmt wird".
Folgerichtig verhält sich ein dopender Athlet nicht etwa abweichend, sondern in einer "fatalen Weise überangepasst an die Mobilitäts- und Flexibilitätserfordernisse unserer Gesellschaft", wie der Soziologe Baldo Blinkert zeigt. In einer "durchkapitalisierten Sportrealität" (Martin Krauß) verliert das moralische Postulat des Fairplay seinen Sinn: "Doping bildet keinen Verstoß gegen die Ethik des Sports. Der Hochleistungssport ist vielmehr eine weitgehend ethik-freie Zone", schreibt der Sportphilosoph Gunter Gebauer. Damit ist jede gesellschaftliche Erwartung an den Sport, etwa Sinngeber oder Vorbild für Jugendliche zu sein, obsolet.
Pharmaindustrie und Breitensport
Wer von Doping spricht, darf von der pharmazeutischen Industrie nicht schweigen. Ihr Interesse gilt nicht dem Profi-, sondern dem Breitensport. Hier sind die Kunden Amateure und dürfen konsumieren, was sie wollen, illegal ist nur der Handel mit Dopingmitteln. Für medizinische Zwecke werden im Jahr 400 bis 500 Kilogramm Steroide benötigt, die pharmazeutische Industrie bringt jedoch mehrere Tonnen davon auf den Markt. Und die Produzenten von Erythropoietin (Epo) müssen sich die Frage gefallen lassen, wie ein verschreibungspflichtiges Medikament aus ihren Labors auf den Sportmarkt gelangt. Staatsanwalt Guariniello schätzt, dass nur zwanzig Prozent der Substanz für die Behandlung von Patienten verwendet werden.
"Der Doktor sagt, das ist ja Marathonlauf. Und er macht seinen Koffer auf. Und er gibt uns die Sachen, die uns kräftig machen, denn unsre Show will jeder sehn, und deshalb muss sie weiter gehn!" heißt es in Udo Lindenbergs Honky Tonky Show. Und wie geht die Sport-Show weiter? Bereits vor Jahren plädierte DSV-Präsident Harm Beyer "für ein Ende der Heuchelei im Spitzensport und für die Freigabe des Doping". Hochleistungssport sei ein Geschäft, frei von Idealen wie Anstand, Sitte und Ehrlichkeit, weder Funktionäre noch Medien und Sponsoren seien an dopingfreiem Sport interessiert. Günter Amendt sieht es realistisch: "No doping - no sports." Da die natürliche Leistungsgrenze des Menschen in nahezu allen Sportarten erreicht sei, werde Doping auch künftig Bestandteil jedes professionellen Sportbetriebs sein. Womöglich wird Gen-Doping - etwa Eingriffe in die Zellstruktur des menschlichen Körpers zur Stimulierung von Wachstumshormon - das traditionelle Doping schrittweise ablösen. Um solche Eingriffe nachweisen zu können, müsste jeder Athlet vor seinem ersten Wettkampf eine Art genetischen Fingerabdruck hinterlegen. Schöne neue Welt des Spitzensports?
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