Und Maria lächelt

Unbefleckte Empfängnis I Vor 150 Jahre etablierte Papst Pius IX. ein häufig missverstandenes katholisches Dogma

Besucht man dieser Tage die Kathedrale von Sevilla und will in einer der vier Alabasterkapellen an der Südseite des Chors ein Kleinod bestaunen, so findet man es nicht. Denn La Cieguita, eine Marienstatue aus buntem Holz, 1606 vom großen andalusischen Bildhauer Juan Martínez Montanés geschaffen, steht nicht an ihrem Platz. Sie ist Teil einer Ausstellung, die in der Kathedrale an das Dogma der Unbefleckten Empfängnis Marias erinnert. Am 8. Dezember vor 150 Jahren hat Papst Pius IX. dieses Dogma in seinem Lehrschreiben Ineffabilis Deus (Der unbegreifliche Gott) verkündet.

Die Unbefleckte Empfängnis Marias wird häufig mit der sogenannten Jungfrauengeburt verwechselt. So glaubten Anfang der neunziger Jahre 99 Prozent der Deutschen, das Dogma der Unbefleckten Empfängnis beziehe sich auf den Zeitpunkt, an dem Maria Jesus vom Heiligen Geist empfangen hat. Es bezieht sich aber auf den Zeitpunkt, an dem Maria von ihrer Mutter Anna empfangen wurde. Mit dem Wort "unbefleckt" ist nicht, wie viele glauben, die Abwesenheit von menschlichem Vater und Geschlechtsverkehr gemeint, sondern fehlende Befleckung durch Erbsünde, wie sie bei allen anderen Menschen gegeben ist. Maria selbst hatte durchaus einen leiblichen Vater; sein Name war Joachim.

Seit Augustinus (354-430) befindet sich die katholische Kirche in einem logischen Dilemma. Der Kirchenvater gilt als Vater der Lehre von der Erbsünde - die Sünde Adams wird durch den elterlichen Zeugungsakt "weitervererbt". Augustinus fand es unerträglich, dass die Mutter Jesu durch die Erbsünde befleckt sein könnte, und löste das Problem auf seine Weise: propter honorem domini - wegen der Ehre des Herrn wollte er von keiner Sünde Marias etwas wissen. Ihr sei die Gnade zuteil geworden, die Sünde in jeder Hinsicht zu überwinden, weil sie den gebären sollte, der frei von Sünde war. Nicht ganz astrein, aber immerhin: Die Reinheit des Sohnes erzwingt hier sozusagen rückwärts die Reinheit der Mutter.

Die Sonderstellung Marias in Bezug auf die Erbsünde war schon früher Thema gewesen. Seit Kirchenvater Irenäus (gestorben etwa 202) wurde ihre Reinigung von jeder Sünde im Moment der Verkündigung von Jesu Geburt angenommen. Zwar verlegte man in den folgenden Jahrhunderten den Zeitpunkt immer weiter bis in ihre ersten Lebenswochen zurück, aber noch Anselm von Canterbury (1033-1109) geht davon aus, dass Maria in der Erbsünde empfangen worden ist. Erst sein Schüler, der Mönch Eadmer (gestorben 1141), wagt sich weiter vor. In seinem "Traktat über die Empfängnis der heiligen Maria" urteilt er, es sei unziemlich, für die Wohnung der göttlichen Weisheit "irgendwelche" Sünde anzunehmen, und verlegt den Augenblick der Heiligung Marias nahe an den Zeitpunkt, da sie von ihrer Mutter empfangen wurde.

Was die katholische Kirche in ein zweites Dilemma brachte. Aristoteles (384-322 v. Chr.) hatte nämlich die Ansicht vertreten, die Beseelung eines männlichen Fötus erfolge vierzig Tage und die eines weiblichen Fötus neunzig Tage nach der Empfängnis (sog. Sukzessivbeseelung). Einer alttestamentarischen Anordnung Gottes im dritten Buch Mose folgend, verkürzte man in der christlichen Tradition die weiblichen neunzig auf achtzig Tage. Das Problem: Der Empfang der Reinigungs- und Heiligungsgnade setzt natürlich einen geistigen Empfänger, nämlich die Seele Marias, voraus; demnach kann ihre volle Heiligung nicht schon mit dem Augenblick ihrer Empfängnis zusammenfallen. Diesem Grundsatz folgen zunächst auch die Scholastiker des Mittelalters. Sie alle richten ihr Augenmerk auf die Frage "ante vel post animationem" - vor oder nach der Beseelung? Konsequenterweise konnte die Antwort nur lauten: nach der Beseelung.

Noch aus einem anderen Grund lehnen Bernhard von Clairvaux, Gründer des Zisterzienserordens (gestorben 1153), und Thomas von Aquin (1225-74) die Erbsündenfreiheit Marias ab: Sie kollidiert mit der Vorstellung von der Erlösungsbedürftigkeit aller Menschen. Wäre Maria frei von Erbsünde, wäre sie nicht wie alle anderen Menschen erlösungsbedürftig. Das ist insofern bedeutsam, da hier der englische Franziskaner Duns Scotus (gestorben 1308) ansetzt. Wegen seines scharfen Intellekts trägt er den Beinamen "doctor subtilis". Ausgewiesener Kenner der aristotelischen Philosophie, kann er den Widerspruch zwischen dem Welt und Natur zugewandten heidnischen Philosophen und der Grundhaltung des christlichen Glaubens nicht übergehen. Eine so vollkommene Übereinstimmung zwischen Theologie und aristotelischer Philosophie, wie sie Thomas von Aquin angestrebt und erreicht zu haben glaubt, hält er für unmöglich. Duns Scotus gelingt nun das Kunststück, die Erlösungsbedürftigkeit jedes Menschen mit der besonderen Auserwähltheit Marias zu verbinden. Bereitwillig gibt er Marias Erlösungsbedürftigkeit zu. Doch ist die Erlösung in ihrem Fall nicht eine Befreiung von der Erbsünde und persönlichen Sünden; vielmehr wird sie vor der Erbsünde bewahrt und "vorweg erlöst" (praeservatio et praeredemptio). Scotus beansprucht für seine These lediglich Wahrscheinlichkeit.

Nun beginnen die Auseinandersetzungen der Schulen erst recht: Die Dominikaner halten an Thomas von Aquin fest; dagegen stehen bald alle anderen Orden von den Barnabiten bis zu den Zisterziensern, dazu die Sorbonne mit den übrigen Universitäten, auf Seiten der "Unbefleckten" ("Immakulisten"). Zwar hält sich das Lehramt zunächst zurück; im Lauf der Zeit tendiert es jedoch mehr und mehr zur Position der "Immakulisten". 1439 entscheidet sich das Basler Konzil in einer freilich schon schismatischen Sitzung für eine Definition. 1477 führt Papst Sixtus IV. das Fest der Unbefleckten Empfängnis am 8. Dezember verbindlich ein, fördert es nach Kräften durch die Verleihung von Ablässen und verbietet in der Folge seine Bekämpfung sowie eine gegenseitige Verketzerung der streitenden Parteien.

Spätere Päpste bemühen sich, die Kontroverse in ruhigen Bahnen zu halten. 1661 fasst Alexander VII. die bisher für die "fromme Meinung" der Unbefleckten Empfängnis erlassenen päpstlichen Bestimmungen in einer Konstitution zusammen und verbietet alles, was sich dagegen richtet. So wird die "Immakulata" allmählich eine "sententia communissima". Es sollen jedoch noch mal knapp zweihundert Jahre vergehen, bis Pius IX. die Dogmatisierung in Angriff nimmt, obwohl die innerkirchlichen Meinungen zu diesem Zeitpunkt keineswegs einstimmig sind.

Die Theologen waren nämlich, wie Michael Schulz, Professor für Dogmatik an der theologischen Fakultät der Universität Bonn, ausführt, überwiegend der Ansicht, es gebe wichtigere Fragen zu bedenken als die der Mariologie. Deshalb taten sie sich schwer damit, die Erbsündenfreiheit Marias als einen über Heil und Unheil entscheidenden Glaubensartikel aufzufassen. Zudem lagen die klassischen Motive für eine Dogmatisierung (Überwindung von Unklarheit, Abwehr von abweichenden Meinungen) gar nicht vor. So ist das Echo der Bischöfe zwiespältig: begeisterte Zustimmung, was den Glauben an sich betrifft, dabei deutliche Zurückhaltung hinsichtlich einer Dogmatisierung. Sowohl die fortschreitende Entkirchlichung als auch die mit dem Dogma verbundenen theologischen Fragen, auf deren Lösung die Theologie nicht ausreichend vorbereitet scheint, sprechen ihrer Meinung nach dagegen. Eine Lehrentscheidung, so lassen sie verlauten, wollen sie jedoch trotz Bedenken mittragen. Schließlich stimmen auf der vom Papst im Herbst 1854 einberufenen Bischofsversammlung die acht Anwesenden aus Deutschland der Dogmatisierung zu, auch deren Gegner.

Doch kehren wir noch einmal zurück nach Sevilla: Montanés Meisterwerk La Cieguita hält auch außerhalb ihrer Kapelle die Augen niedergeschlagen. Von links betrachtet sieht sie ernst aus; schaut man sie dagegen von der rechten Seite an, scheint sie zu lächeln.


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