Die Ethik des Lecks

Schnittstelle Wikileaks hat Dokumente aus dem Afghanistankrieg veröffentlicht und die undichte Stelle zur medialen Standardsituation gemacht. Nur was ist ein "gutes", was ein "schlechtes" Leck?

Mit etwas Abstand zur spektakulären Veröffentlichung der über 90.000 Dokumente zum Afghanistan-Krieg durch die Internet-Plattform Wikileaks im Verbund mit New York Times, Guardian und Spiegel wird ein Verlauf in mehreren Phasen erkennbar. Dabei zeigt sich der Unterschied zwischen der Echtzeit-Publikation im Netz und einer grundlegenden Debatte um die Ethik des Lecks.

Mit jedem Tag, der seit dem „Scoop“ vergeht, führen neue Details zu Perspektivwechseln. Die Aussagen hoher US-Militärs, es klebe bereits Blut an den Händen des Wikileaks-Personals, eröffnete eine Jagd auf dessen Gesicht, Julian Assange. Mit seiner Aussage, dass die nationale Sicherheit der USA nicht seine Sache sei, hat Assange, zunächst Lichtgestalt und weißer Ritter, einigen öffentlichen Kredit verspielt. Eine erneute Verschiebung des Blickwinkels ergab sich durch Hinweise auf das „Project Vigilant“, ein privatwirtschaftlich finanziertes Überwachungsnetzwerk, das verschiedenen US-Regierungsstellen zuarbeiten soll – eventuell ein Gegenstück zu Wikileaks.

Durch jeden weiteren Spin wird der Kern und Ausgangspunkt des Geschehens mehr verschleiert – von „neuen Erkenntnissen“ im Afghanistan-Konflikt reden nur noch die wenigsten. Das wirft Fragen auf: Welche Qualität hat in Zeiten des Informationsüberangebots die willentliche Weitergabe von Informationen durch leaking? Befördern die digitalen Daten-Umstände, in denen wir leben, nicht geradezu eine Kultur der undichten Stellen; dass das Leck (englisch leak) zum Informationskanal wird? Bilden sich wirksame Schutzmechanismen für couragierte whistleblower heraus?

Die Konjunktur des Lecks

Die technologisch veränderten Möglichkeiten zur Dokumentenerstellung, -vervielfältigung und -weitergabe könnten künftig für eine Konjunktur des Lecks sorgen. Bedingt durch die Digitalisierung kommen nun nicht mehr nur „einfache“ Text- oder Tondokumente als Gegenstand von Informationsweitergaben in Frage, sondern auch Filmsequenzen (der „Collateral Murder“-Film aus dem Irak), abstrakte Datensammlungen (Steuersünder-CD) oder kleinste Textmengen (der SMS-Dialog zwischen Sigmar Gabriel und Angela Merkel).

Zugleich ändert sich der Prozess der Weitergabe. Wurde früher mit den Medien als Vierter Gewalt ein relativ autarkes System mit Informationen versorgt, treten inzwischen NGOs, spezialisierte Watchdog-Organisationen und kleinere Akteure wie Weblogs an deren Stelle. Dass es allerdings noch einer klassisch-journalistischen Infrastruktur bedarf, um aus der ungeordneten Datenmenge „wertvolle“ Informationen zu generieren, haben die Afghanistan War Logs eindrucksvoll gezeigt.

Dennoch deutet sich hier eine Ausdifferenzierung an. Die verstreute Netzwerkorganisation bietet andere Schutzmechanismen als die traditionelle Vierte Gewalt. Im Rahmen einer investigativen Arbeitsteilung übernehmen Akteure des professionellen Journalismus zusätzliche Authentifizierungsfunktionen und überführen das rohe Datenmaterial in eine nachrichtenwerte Erzählstruktur.

An dieser Stelle sieht der New Yorker Journalismus-Professor Jay Rosen das Innovationspotenzial dieser „Neukonfiguration der Öffentlichkeit“. In der Unabhängigkeit von national eingepferchten Kommunikations-Regimes markiert er den zentralen Bonus von Wikileaks: „In der Mediengeschichte bis heute darf eine freie Presse darüber berichten, was die Mächtigen geheim halten wollen, weil nationale Gesetze es so wollen. Wikileaks aber kann über das berichten, was die Mächtigen geheim halten wollen, weil die Logik des Internet es erlaubt. Und das ist neu.“

Die Veröffentlichung der Dokumente über Wikileaks.org und vor allem die Debatte um den Umgang damit zeigt deutlich, dass sich der öffentliche Umgang mit Informationen in einem Umbruch befindet. Öffentlichkeit mag heute noch auf die Mitwirkung etablierter Akteure aus der Welt der „alten Massenmedien“ angewiesen sein, doch eine Bestandsgarantie gibt hierauf wohl niemand mehr.

Das Leck als Standardsituation

Das Leck als neue Standardsituation öffentlicher Kommunikationsprozesse steht somit vor einer großen Karriere. Der damit verbundene Grundgedanke, dass Transparenz als Basis politischen Handelns noch stärker in den Vordergrund rückt, liegt ebenso nahe wie die Vermutung, dass Medien hier eine wichtige Rolle spielen. Dabei ist eine Akzentverschiebung weg von einer durch die „alten Massenmedien“ geprägten Struktur hin zu einer Vielfalt aus miteinander vernetzten Klein- und Kleinstmedien zu erwarten. Eine wichtige Frage wird sein, wie sich die Kommunikation nach der Informationsweitergabe entwickelt, welche Akteure die Mittel haben, der Debatte den entscheidenden Dreh zu verleihen.

Neben der developing story mit fast täglich neuen Impulsen zeichnet sich als langfristige Perspektive die ethische Betrachtung des Lecks ab (gut oder schlecht, Verräter oder Informant) – und damit die Frage, wann die „Leistungsbilanz“ eines Lecks positiv ausfällt. Ist die Veröffentlichung des Datenmaterials auch dann gerechtfertigt, wenn dadurch nationale Sicherheitsinteressen verletzt werden oder Menschen sterben können? Rechtfertigen staatliche Mehreinnahmen die Ankäufe von Steuersünder-Datenbanken, die widerrechtlich erstellt wurden? Verändert die Weitergabe von Informationen Prozesse politischer Entscheidungsfindung oder die Gestaltung von Gesetzen? Und wenn ja, in welcher Weise? Profitiert davon das Gemeinwesen oder dient ein Leck nur dem individuellen Fortkommen einzelner Akteure?

Mit solchen Fragen beschäftigen sich inzwischen auch die US-amerikanischen Medien quer durch das ideologische Spektrum. Und selbst wenn die Antworten, so sie gegeben werden, ganz unterschiedlich ausfallen kann, in einem Punkt herrscht Einigkeit: eine endgültige Antwort wird es – wenn überhaupt – erst sehr viel später geben.

Sprungbrett oder neue Form?

Genau dieses Paradoxon einer sich in der Medien-Echtzeit entwickelnden Konjunktur des Lecks und der nur ex-post möglichen Bewertung ethischer Aspekte beim Prozess der Informationsweitergabe legt nahe, wodurch die kommunikativen Standardsituation Leck charakterisiert sein könnte. Denn das Auseinanderklaffen von unmittelbaren „Leck-Effekten“ und die erst mit Verzögerung mögliche Einschätzung der „Leck-Qualität“ eröffnet Optionen für die öffentliche Anschlusskommunikation: So führt das Setzen medialer Reize zur Hervorhebung bestimmter Akzente in der durch die Informationsweitergabe losgetretenen Debatte erst zu deren diskursiver Aushandlung.

Hier liegt eine neue Gefahr für einen Öffentlichkeitsakteur wie Wikileaks. Das – mit wenigen Ausnahmen – unpersönliche Netzwerk eignet sich als Projektionsfläche für verschiedenste Zuschreibungen und benötigt selbst erhebliche Ressourcen für eine aktive Gegenwehr. Die Bereitstellung einer insurance file auf der Website – die sich, ein wenig wie im Agentenfilm, im Falle eines wie auch immer gearteten Schlags gegen Wikileaks, öffnen ließe und mutmaßlich brisantes Material bereithielte – vermittelt nicht das Auftreten eines „sicheren“ Akteurs, sondern wirkt wie eine Drohgebärde. Zu Beginn dieser mittleren Phase der Debatte, einer Art Zwischenspiel nach dem Paukenschlag der Publikation und der rückblickenden Bewertung aus ethischer Perspektive, gerät Wikileaks in den Mahlstrom der traditionellen Medienlandschaft und deren mächtiger Kommunikationsapparate: zwischen globale Medienkonzerne, Regierungen und – im aktuellen Fall – Militär und Geheimdiensten.

An dieser Stelle könnte sich zeigen, inwiefern sich das Internet als Kommunikationsstruktur bereits von den power containern der nationalen Mediensysteme entfernt oder gar emanzipiert hat. Erweist sich Wikileaks tatsächlich als eine nachhaltige Struktur, als die von Jay Rosen skizzierte „staatlich unabhängige Nachrichtenorganisation“, dann wäre dies ein Hinweis auf die Schwächung massenmedial geprägter Öffentlichkeitsstrukturen. In diese Richtung zielt offenbar das Partner-Konzept von Wikileaks – zugleich fungiert die Einbindung von NYT, Guardian und Spiegel als juristische Schutzkonstruktion; etwaige Rechtsstreitigkeiten führten unverzüglich in einen multinationalen Paragrafen-Dschungel. Ein Durchdringen zu den Motiven von Wikileaks wird so nicht erleichtert – weshalb nicht zufällig die Debatte um die persönlichen Motive von Julian Assange in den Vordergrund rückte.

Doch auch hier dürfte eine Bewertung erst später möglich sein. Bislang dominieren die Versuche, Assange als Leitfigur in gängige Schemata von Aufmerksamkeits-, Prestige- oder Machtambitionen zu pressen. Doch wenn sich mit Wikileaks eine neuartige Organisationsform mit speziellen Aufgabenprofil etabliert, dann ist wohl ein Umdenken nötig. Bei einem überraschenden Karriereschritt des Australiers dagegen nicht – dann würde die Sprungbrettfunktion von Wikileaks hervortreten. In der Debatte um die Ethik des Lecks verstellt die Fixierung auf Assange jedoch den Blick auf die eigentlichen Impulsgeber – Personen, die Zugang zu sensiblen Informationen haben. Die Abwägung, ob aus deren Weitergabe ein „gutes“ oder ein „schlechtes“ Leck resultiert, muss an dieser Stelle erfolgen. Wikileaks greift erst danach in den Prozess ein: als Schutzschild für Informanten, als Schnittstelle zur Öffentlichkeit der alten Medien und als Aufmerksamkeitsgenerator.

Christoph Bieber ist Assistent am Institut für Politikwissenschaften der Justus-Liebig-Universität Gießen. Er promovierte über politische Projekte im Internet und bloggt unter internetundpolitik.wordpress.com

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