Nun ist er also beschlossen, der 5. Armuts- und Reichtumsbericht. Seit anderthalb Jahren war der Bericht der Großen Koalition von CDU/CSU und SPD überfällig – jede Regierung muss ihn laut einem Bundestagsbeschluss vom Oktober 2001 zur Mitte der Legislaturperiode vorlegen. Dass die Einigung nun erst so spät erfolgt ist, hat seine Ursache vor allem in dem, was man als subversive Opposition der Union gegenüber diesem Projekt der Großen Koalition nennen kann.
„Was lange währt, wird endlich gut“, behauptet der Volksmund. Im Fall der Armuts- und Reichtumsberichterstattung verhält es sich allerdings wohl eher umgekehrt: Der ursprüngliche Berichtsentwurf aus dem Hause von Arbeits- und Sozialministerin Andrea Nahles (SPD) war sehr viel aussagekräftiger und gehaltvoller als die späteren, gleichfalls durch Indiskretionen bekanntgewordenen Fassungen. Ihnen merkt man an, dass auf zahlreiche Einwände Rücksicht genommen werden musste, die im Rahmen der ersten Ressortabstimmung vorgebracht worden waren.
Kürzungen und Umformulierungen
Da die Großkoalitionäre bis in die letzte Phase der laufenden Legislatur gebraucht haben, um sich auf einen gemeinsamen Text zu einigen, kann man durchaus von einer Missachtung des Parlaments und der Öffentlichkeit sprechen. Die zähe Entstehungsgeschichte verdeutlicht aber auch, wie kontrovers die Meinungen zu den „Lebenslagen in Deutschland“ – so der Titel des Berichts – sind. Die soziale Ungleichheit ist also nicht bloß ein Kardinalproblem der Gesellschaftsentwicklung, sondern auch ein Zankapfel zwischen den Regierungsparteien.
Kanzleramt und Finanzministerium, beide von Unionspolitikern geführt, beanstandeten mehrere Passagen, in denen es um die Negativeffekte der sozialen Ungleichheit und die Notwendigkeit einer Behebung der Verteilungsschieflage ging. Zudem wurden Teile gestrichen, die die Möglichkeit der Einflussnahme wohlhabender Bevölkerungsgruppen auf politische bzw. Regierungsentscheidungen und die Beeinträchtigung der demokratischen Willensbildung durch eine sinkende Wahlbeteiligung armer Bevölkerungsschichten behandelten.
Die grundsätzlichen Überlegungen zum Verhältnis von Armut, Reichtum und (repräsentativer) Demokratie entfielen genauso wie das „Einfluss von Interessensvertretungen und Lobbyarbeit“ überschriebene Unterkapitel. Und auch das Ergebnis einer Untersuchung, wonach die Wahrscheinlichkeit für eine Politikänderung wesentlich höher ist, wenn diese von vielen Befragten mit höherem Einkommen unterstützt wird, wurde stark zusammengestrichen.
Dem Rotstift fiel außerdem die folgende Feststellung zum Opfer: „Personen mit geringem Einkommen verzichten auf politische Partizipation, weil sie die Erfahrung machen, dass sich die Politik in ihren Entscheidungen weniger an ihnen orientiert.“ Genau daraus entsteht das, was Fachwissenschaftler eine „Krise der politischen Repräsentation“ nennen – ein Terminus, der ebenfalls getilgt wurde. Das ändert jedoch nichts an dem Problem: Arme fühlen sich nicht mehr von den politischen Entscheidungsträgern vertreten und beteiligen sich deshalb weniger stark an Wahlen. In einem politischen Teufelskreis führt das wiederum dazu, dass die etablierten Parteien ihnen und ihren Interessen noch weniger Beachtung schenken.
Die Brisanz bleibt
Umformuliert wurde auch ein Absatz, in dem es hieß, hohe Ungleichheit könne nicht nur den gesellschaftlichen Zusammenhalt beeinträchtigen, sondern auch das Wirtschaftswachstum dämpfen. Deshalb müsse die „Korrektur von Verteilungsergebnissen“ als „wichtige gesellschaftliche Aufgabe“ gelten: „Dabei sollte nicht nur die Verteilung der verfügbaren Haushaltseinkommen, sondern auch die Primärverteilung in den Blick genommen werden. Je geringer die Ungleichheit der Primärverteilung ist, desto weniger muss der Staat kompensierend eingreifen.“ Jetzt liest es sich anders: Der Leser wird beruhigt, die Auswirkungen großer sozialer Ungleichheit auf das Wirtschaftswachstum eines Landes seien empirisch nicht eindeutig belegt.
Zwischen den Zeilen kommt immer wieder das Unbehagen der Regierenden darüber zum Ausdruck, sich für die soziale Spaltungstendenzen rechtfertigen zu müssen. Wer – wie etwa Angela Merkel und Wolfgang Schäuble – davon überzeugt ist, dass es den Menschen in Deutschland „so gut wie noch nie“ geht, hält einen Armuts- und Reichtumsbericht im Grunde seines Herzens ohnehin für Teufelszeug, weil das Land dadurch ihrer Meinung nach nur schlechtgeredet wird. Da ist auch schon mal von „Sozialpopulismus“ die Rede, wenn Kritiker der Regierungspolitik nach mehr Steuergerechtigkeit rufen.
Das monatelange Ringen der Regierungsparteien um konsensfähige Formulierungen glich einer Hängepartie. Die politische Brisanz die vor dem Hintergrund der anstehenden Bundestagswahl in die Verhandlungen gekommen war, bleibt auch nach der Einigung bestehen: Fortan spielt die Frage der sozialen Gerechtigkeit eine Schlüsselrolle. Besonders die Altersarmut dürfte dabei ein wichtiges Thema werden. Denn die amtierende Bundesregierung hat zwar mehrere Leistungen eingeführt oder erhöht – zum Beispiel die abschlagsfreie „Rente ab 63“, die sogenannte Mütterrente und die zweimalige Verlängerung der Zurechnungszeiten bei der Erwerbsminderungsrente, allerdings nur für Neuzugänge. Doch entschieden entgegengetreten ist die sie der Armut im Alter nicht. Nicht einmal durch den im Koalitionsvertrag angekündigten kärglichen Rentenzuschuss für jahrzehntelang versicherte Geringverdiener mit dem wohlklingenden Namen „Solidarische Lebensleistungsrente“.
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