Glaube und Illusion

Nein danke Die Zauberformel "Steuer- statt Beitragsfinanzierung" ist der falsche Weg

Sollen die Sozialsysteme aus Steuern finanziert werden? Beitragsfinanzierte Sozialsysteme (wie das deutsche Gesundheitssystem) geraten unter Druck, denn die Erwerbsbevölkerung ist immer weniger in der Lage, die steigenden Kosten zu finanzieren. Steuerfinanzierung heißt nun das Rezept, das in einem ersten Schritt mit der jüngsten Gesundheitsreform angegangen wird: Die Gesundheitsausgaben der Kinder werden ausgelagert. Doch Steuerfinanzierung hat Nachteile. Der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge hält sie sogar für eine komplette Fehlorientierung. Da irrt er sich, widerspricht ihm der Volkswirtschaftler Gert G. Wagner, denn die Steuerfinanzierung könnte verteilungs- und arbeitsmarktpolitisch sinnvoll sein - vorausgesetzt, man gestaltet den Umbau richtig.

Steuer- statt Beitragsfinanzierung der sozialen Sicherung fungiert häufig als politische Zauberformel, die das Kosten- und somit das Kardinalproblem des Wohlfahrtsstaates lösen soll. Aus sozial- ebenso wie aus gesellschaftspolitischer Sicht stellt sie jedoch eine Fehlorientierung dar. Eine fundierte Position in der aktuellen Reformdiskussion kann nur beziehen, wer erkennt, dass die paritätische Finanzierung der Sozialversicherung bereits seit geraumer Zeit untergraben wird und durch eine weitere Umstellung auf Steuermittel völlig zu Lasten der Arbeitnehmer verschoben würde.

Stattdessen übernehmen selbst prominente Gewerkschafter die neoliberale Argumentation, wonach der "Standort D" unter zu hohen Nebenkosten leidet und die Sozialversicherungsbeiträge deshalb auf die Steuerzahler umgewälzt werden müssen. Sie ignorieren dabei nicht nur die überaus starke Stellung der deutschen Volkswirtschaft, die riesige Exportüberschüsse erzielt, sondern auch die negativen Verteilungswirkungen einer stärkeren Finanzierung der sozialen Sicherung aus Steuermitteln. Hauptleidtragende einer solchen "Reform" sind Arbeitnehmerhaushalte und Mehrkinderfamilien, selbst wenn nicht indirekte beziehungsweise Massensteuern wie die Mehrwert- oder Mineralölsteuer erhöht würden, um die notwendigen Geldbeträge aufzubringen. Diese müssen auch Arbeitslose, Sozialhilfebezieher, Studierende und Schüler über Preiserhöhungen bei Gebrauchsgütern entrichten, während sie von einer Senkung der Sozialversicherungsbeiträge gar nicht profitieren.

Nach der herrschenden Meinung sind die Lohnnebenkosten, das heißt vor allem die ständig steigenden Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung, für die hohe Arbeitslosigkeit verantwortlich. Deshalb soll der "Faktor Arbeit" - in Wahrheit: das investierende Kapital - entlastet und ein größerer Teil der sozialen Sicherung aus Haushaltsmitteln finanziert werden. Gedacht ist dabei meist an eine drastische Erhöhung indirekter Steuern. Da schon während der Kohl-Ära die Arbeitslosigkeit und die Unternehmensgewinne gleichermaßen Rekordhöhen erreicht hatten, ist es mehr als naiv zu glauben, die Senkung der Personalzusatzkosten werde einen Beschäftigungsboom auslösen.

Gegen eine Zurückdrängung der Beitrags- und einen Ausbau der Steuerfinanzierung des sozialen Sicherungssystems sprechen im Wesentlichen vier Gründe:

Für die Betroffenen ist die Inanspruchnahme von Versicherungsleistungen erheblich weniger diskriminierend als die Abhängigkeit von staatlicher Hilfe, deren Inanspruchnahme ihnen noch mehr Missbrauchsvorwürfe eintragen würde, weil ihr keine "Gegenleistung" in Form eigener Beitragsleistungen entspricht.

Da steuerfinanzierte - im Unterschied zu beitragsfinanzierten - Sozialausgaben den staatlichen Haushaltsrestriktionen unterliegen, fallen sie eher den Sparzwängen der öffentlichen Hand zum Opfer; außerdem ist ihre Höhe von wechselnden Parlamentsmehrheiten und Wahlergebnissen abhängig. Wie sollen die ständig sinkenden Steuereinnahmen des Staates zur Finanzierungsbasis eines funktionsfähigen Systems der sozialen Sicherung werden?

Man muss sich nur die Struktur der Steuereinnahmen ansehen, um zu erkennen, dass Unternehmer und Kapitaleigentümer im "Lohnsteuerstaat" Deutschland kaum noch zur Finanzierung des Gemeinwesens beitragen. Die steuerliche Schieflage würde zu einer einseitigen Finanzierung der Sozialleistungen durch Arbeitnehmer führen, wohingegen die bisher erst ansatzweise durchbrochene Beitragsparität der Sozialversicherung für eine angemessene(re) Beteiligung der Arbeitgeberseite an den Kosten sorgt.

Gegenwärtig wird die Steuerpolitik im Wesentlichen von zwei Trends bestimmt: Zum einen findet unter dem Vorwand der Globalisierung wie der Notwendigkeit, durch Senkung der Einkommen- und Gewinnsteuern (potenzielle) Kapitalanleger zu ködern und den "Standort D" zu sichern, eine Verlagerung von den direkten zu den indirekten Steuern statt. Zum anderen neigt die öffentliche Meinung, begleitet von einem Wandel des Gerechtigkeitsverständnisses im neoliberalen Sinne, viel stärker als früher zur Nivellierung der Steuersätze. Statt progressiver Einkommensteuern präferiert man Stufensteuersätze, die sich nach US-Vorbild der Einheitssteuer (flat tax) annähern. Friedrich Merz´ (CDU) Drei-Stufen-Modell (12, 24 und 36 Prozent) sowie das Konzept des früheren Bundesverfassungsrichters Paul Kirchhof (Einheitstarif 25 Prozent) stehen dafür. Unter diesen Voraussetzungen wäre es jedoch naiv anzunehmen, der Ausgleich wachsender sozialer Unterschiede könne aus Steuermitteln erfolgen. Vielmehr sinkt das Steueraufkommen tendenziell, zumal sich die Parteien der Bundesrepublik - ebenso wie die Nationalstaaten - in einem regelrechten Steuersenkungswettlauf befinden.

Der weit verbreitete Glaube, die Umstellung des Sozialleistungssystems auf eine Steuerfinanzierung schaffe Arbeitsplätze, wirtschaftliche Stabilität und mehr soziale Gerechtigkeit, dürfte sich genauso als Illusion erweisen wie die Überzeugung, das Kapitaldeckungsprinzip ("Riester-Rente") löse die Probleme der Alterssicherung einer schrumpfenden Erwerbsbevölkerung. In beiden Fällen wird das Problem nur verschoben.

Eine sinnvolle Reform müsste Sozialabgaben von den unter Druck geratenen Löhnen abkoppeln, wofür sich ein auch "Maschinensteuer" genannter Wertschöpfungsbeitrag geradezu anbietet. Der Vorschlag stammt aus einem sozialdemokratischen Spektrum der achtziger Jahre: Nicht mehr (nur) die Bruttolohn- und -gehaltssumme, sondern (auch) die Bruttowertschöpfung eines Unternehmens solle einbezogen werden, schlugen damals SPD-Politiker vor, weil die bis heute gültige Regelung negative Auswirkungen hinsichtlich der Beschäftigung und Verteilungsrelationen habe. Durch den oft "Maschinensteuer" genannten Wertschöpfungsbeitrag sollte eine ausgewogenere Belastung der Unternehmen erreicht und ein positiver Beschäftigungseffekt erzielt werden. Ohne dass man davon Wunderdinge erwarten sollte, hätte es der Wertschöpfungsbeitrag verdient, wieder in die politische Debatte gebracht zu werden.

Christoph Butterwegge leitet die Abteilung für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Letzte Buchveröffentlichungen zum Thema: Krise und Zukunft des Sozialstaates, Wiesbaden 2005; Kinderarmut in Ost-und Westdeutschland, Wiesbaden 2005


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