Feste Meinung auf schwankendem Boden

Willenskraft Warum glauben wir, was wir glauben? Und warum sind politische Überzeugungen so verdammt hartnäckig? Eine Annäherung

Ein Mann geht in ein Kaufhaus. Er erwirbt dort eine Uhr zum Preis von dreißig Euro. Er bezahlt mit einem Fünfziger. Zurück erhält er zehn Euro. Er weist den Verkäufer darauf hin, dass zehn Euro zuwenig zurückgegeben wurden. Der Verkäufer bedauert nicht etwa seinen Fehler, sondern er behauptet, es habe seine Ordnung, dreißig und zehn seien nun einmal fünfzig und daran sei nicht zu rütteln. Was kann unser Kunde tun? Wird er sich mit dem Verkäufer auf eine Diskussion darüber einlassen, wer von beiden richtig rechnet? Szenenwechsel: Ein deutscher Politiker äußert Verständnis für palästinensische Selbstmordattentäter. Ein Journalist reagiert empört mit dem Vorwurf des Antisemitismus. Eine öffentliche Diskussion schließt sich an. Ist die Äußerung des Politikers antisemitisch? Anders als eine Debatte über das richtige Rechenergebnis scheint eine Diskussion über die Äußerung des Politikers zumindest im Prinzip sinnvoll zu sein. Warum eigentlich?

Zwei Arten des Wissens

Wir alle hegen eine Vielzahl von Meinungen. Vieles von dem, was wir glauben, halten wir mit Recht für wahr. Die meisten Menschen, wenn nicht alle, werden der Überzeugung sein, dass zwei und zwei vier ergibt, oder dass Wale Säugetiere sind. Es sind allerdings nicht nur solche Kenntnisse, die zum Inventar unseres Überzeugungshaushalts gehören. Überzeugt ist man in der Regel nicht nur von denjenigen Dingen, die man sicher weiß, und in einer für die meisten Menschen nachvollziehbaren Weise begründen kann, sondern auch von den jeweils eigenen Urteilen darüber, was schön und wertvoll, hässlich und bedauernswert ist. Oder auch davon, wann und warum eine Äußerung antisemitisch ist. Und wer glaubt, dass eine Äußerung antisemitisch ist, der hält seinen Glauben ebenfalls für wahr. Auch wenn sich darüber streiten lässt und es hier kein sicheres Wissen oder von allen Seiten geteilte Begründungen gibt. Ohne die Spannung zwischen dem Anspruch, dasjenige was man selber glaubt, für wahr zu halten, und dem Umstand, dass sich über viele unserer Überzeugungen mit Fug und Recht streiten lässt, würde es keine sinnvollen Diskussionen geben können. Nicht nur moralische Überzeugungen oder ästhetische Vorlieben, sondern insbesondere auch politische Meinungen gehören zu den Überzeugungen, über die sich streiten lässt. Mit den bevorstehenden Bundestagswahlen stehen sie auf besondere Weise zur Diskussion. Anlass genug, sich zu fragen: Warum glauben wir eigentlich, was wir glauben? Wie gelangen wir dazu, bestimmte Überzeugungen auszubilden? Unter welchen Umständen sind wir bereit, sie zu ändern?

Die einfachen Dinge zuerst. Rechnen lernen die meisten von uns in der Schule. Dass zwei und zwei vier ergibt, könnte man zudem in jedem beliebigen Lehrbuch der Mathematik nachschlagen. Dass Wale Säugetiere sind, lässt sich ebenfalls nachlesen, aber auch auf andere Weise in Erfahrung bringen. Viele Überzeugungen entstehen durch Erfahrung, oder - wie im Fall der Mathematik - durch den Erwerb eines Systems von Regeln, die befolgen muss, wer erfolgreich mitmachen möchte. Anlass zu einem Streit gibt es hier eigentlich nicht. Derartige Überzeugungen lassen sich dadurch rechtfertigen, dass man die für sie einschlägigen Evidenzen - ein Mathematik- oder Biologiebuch, die Meinungen von Experten - anführt. Hatte man auf Tatsachen bezogene falsche Überzeugungen, wird man sie in der Regel korrigieren, sobald man entdeckt, dass man einen Fehler gemacht hat. Vernunft und Wirklichkeit nötigen uns zur Ausbildung der jeweils richtigen Meinungen. Schließlich möchte niemand für verrückt oder dumm gehalten werden.

Auch politische Überzeugungen erwerben wir, indem wir sie lernen. Die Prozesse des Überzeugungserwerbs und die Elemente, die ihn beeinflussen, sind komplexer als im Fall der auf einfache Tatsachen oder das Rechnen bezogenen Überzeugungen. Schulen und Elternhäuser, Vorbilder und Freunde, Tradition und Zeitgeist, geographische Region und soziales Milieu, Lebensgeschichte und kulturelles Umfeld - dies sind wohl nur einige der in diesem Zusammenhang maßgeblichen Faktoren. Einschlägige Evidenzen für die Richtigkeit oder Falschheit politischer Überzeugungen gibt es in vielen Fällen allerdings nicht. Was nicht heißt, dass es sie in manchen Fällen nicht gäbe: Kein Wahlrecht für Frauen, Todesstrafe für den Besitz weicher Drogen, Einrichtung einer Militärdiktatur - das mögen Meinungen sein, die dem Selbstverständnis der meisten aufgeklärten Demokratien auf eine so fundamentale Weise widersprechen, dass derjenige, der für diese Dinge einträte, ähnlich da stünde, wie der falsch rechnende Uhrenverkäufer. Aber für eine Beurteilung der meisten politischen Inhalte, welche die zur nächsten Bundestagswahl kandidierenden Parteien und Personen vertreten, gibt es keine einschlägigen Evidenzkriterien. In welchem Umfang sollte Vermögen besteuert werden? Welche Rezepte zur Senkung der Arbeitslosigkeit sind sinnvoll? Welche Maßnahmen sollten in der Familienpolitik ergriffen werden? Sicher lassen sich bezogen auf diese Fragen eine Menge - mehr oder weniger - guter Gründe dafür anführen, warum man eher diese als jene Überzeugung haben sollte. Manche dieser Überzeugungen sind sicher auch vernünftiger und besser begründet als andere. Anders als im Fall der Wale oder der Mathematik lässt sich allerdings nicht einfach auf die Welt oder ein verbindliches Regelwerk verweisen, welches auch die hartnäckig Andersmeinenden umstimmen könnte. Das berühmte, in der Praxis so erfolgreiche, obgleich philosophisch fragwürdige "Schau-doch-einfach-hin"-Argument versagt.

Eine Frage der Identität

Dennoch wird das "Schau-doch-einfach-hin"-Argument, wo immer es geht, bemüht: Arbeitslosenzahlen, Wirtschaftswachstum, Kinder als Armutsrisiko und so weiter. Zahlen oder Daten aber sprechen noch nicht für oder gegen eine bestimmte Art von Politik. Jedenfalls nicht in dem Sinne, in dem die Beobachtung der Geburt eines Walsäuglings für die Überzeugung spricht, dass Wale Säugetiere sind. Die Daten mögen sein, wie sie sind, ohne dass dies bereits eine ganz bestimmte Überzeugung, beispielsweise hinsichtlich der Besteuerung von Vermögen oder bezogen auf die Frage, wie die Arbeitslosigkeit zu senken ist, nach sich zieht. Weder die äußere Wirklichkeit wie im Fall der auf einfache Tatsachen bezogenen Überzeugungen, noch auch die Vernunft wie im Fall der Mathematik und des richtigen Rechnens nötigen uns, zu glauben, was wir glauben und zu glauben, wem wir glauben. Viele Menschen haben die politischen Überzeugungen, die sie haben, weil sie genau diese, und keine anderen, haben wollen. Sie schenken genau derjenigen Partei ihr Vertrauen, der sie ihr Vertrauen schenken wollen. Das einzige, was sie nötigt, scheint ihr jeweils eigener Wille zu sein. Dies ist wohl auch der Grund dafür, warum es ihnen häufig so schwer fällt, eine politische Überzeugung zu ändern. Es gehört zu ihrer Identität, für diese oder aber jene politische Maßnahme einzutreten, dieser oder aber jener Partei ihre Stimme zu geben. Deshalb erwecken Debatten über politische Fragen häufig den Anschein, es ginge um Fragen jeweils persönlicher Weltanschauungen, über die sich zwar reden lässt, die aber letztlich nur mit großer Mühe ins Wanken zu bringen sind. Wer an sich als Person festhalten möchte, der hält auch an seinen politischen Überzeugungen fest. Und er hält an der Partei fest, die er oder sie wählt. Anders als die Korrektur eines Rechenergebnisses oder einer auf die äußere Wirklichkeit bezogenen falschen Überzeugung, die leicht fällt, sobald eingesehen wurde, dass die Rechnung bzw. die Überzeugung falsch war, erweisen sich die politischen Meinungen vieler Menschen als vergleichsweise beharrlich. Die betreffenden Personen müssten ihren Willen, ihre Wünsche und damit sich selbst ändern. Sogenannte Wechselwähler machen dies manchmal.

Dass es manchen Personen leichter fällt sich und ihren Willen, damit auch ihre politischen Meinungen zu ändern, während andere sich schwerer tun, ist ein Umstand, der die Frage nach den Gründen oder Motiven für die jeweils eigene Willensbildung aufwirft. Der Wille ist ja nicht einfach da, sondern er bildet sich - und manchmal ändert er sich - im Zusammenspiel mit anderen Eigenschaften einer Person und auf der Grundlage einer Vielzahl unterschiedlicher Aspekte. So können der Wechsel in ein anderes gesellschaftliches Milieu, die Erfahrungen des sozialen Aufstiegs oder Abstiegs, Unrechtserfahrungen, die Konfrontation mit der Arbeitslosigkeit, die Beobachtung gravierender Veränderungen im Gefüge einer Gesellschaft, aber auch bereits die einfache und unvermeidliche Veränderung des jeweils eigenen Lebensalters, Umorientierungen nach sich ziehen. Wie sich solche Prozesse im einzelnen vollziehen, ist eine Frage der individuellen Psychologie und lässt sich allgemein nur schwerlich auf den Begriff bringen.

Vernunft zählt dennoch

Dass mit dem eigenen Willen die eigene Person bei der politischen Überzeugungsbildung eine wichtigere Rolle spielt als der Zustand einer Gesellschaft oder vernünftige Überlegungen, welche diesen Zustand betreffen, mag man für bedauerlich halten. Aber es ist wohl so. Wer zudem das Geschehen in der Politik, und dies gilt nicht nur für den Wahlkampf, zur Kenntnis nimmt, der könnte auf den Gedanken kommen, dass auch die Politik, und vor allem diejenigen, die sie im buchstäblichen Sinne des Wortes ›verkaufen‹ möchten, nicht besonders deutlich machen, dass es Kriterien, Gründe und Argumente dafür geben könnte, warum man dieser und nicht jener Meinung sein sollte. Auch Politiker, Politiker aller Parteien, haben sich angewöhnt, zunächst einmal an Identitäten zu appellieren, statt Sachfragen zu diskutieren und Gründe für ihre jeweiligen Positionen zu benennen.

Dass sich politische Überzeugungen dem eigenen Willen verdanken, heißt nicht, dass nicht manche dieser Überzeugungen vernünftiger sind als andere und besser zur Wirklichkeit passen. Politische Meinungen sind nicht ausschließlich eine Frage des Willens, und auch auf dem Gebiet der Politik kann niemand im buchstäblichen Sinne glauben, was er will. Wer so denkt, zieht aus der richtigen Einsicht in die Wichtigkeit des Willens falsche und übertriebene Schlüsse, indem er sich auf die Irrwege des politischen Voluntarismus und Dezisionismus begibt. Politische Überzeugungen hängen lediglich insofern mit dem eigenen Willen zusammen, als dass der Spielraum des eigenen Willens bei der Ausbildung dieser Überzeugungen weitaus größer ist als bei der Lösung von Rechenaufgaben oder der Ausbildung von auf die äußere Wirklichkeit bezogenen Überzeugungen. Wir fühlen uns nicht so sehr durch von uns unabhängige Faktoren genötigt und lassen uns auch nicht so sehr von anderen nötigen. Nichts - außer uns selbst - scheint uns zu zwingen, alte Meinungen aufzugeben und neue auszubilden. Dass politische Überzeugungen in der Regel fest mit der eigenen Identität verbunden sind, erklärt die Vehemenz, mit welcher über Politik gestritten wird, und es macht deutlich, warum zumindest die Möglichkeit besteht, alte Überzeugungen beizubehalten, auch wenn sich die Zeiten geändert haben.

Christoph Demmerling ist Privatdozent im Fach Philosophie an der Universität Dresden, Autor und Herausgeber von Publikationen im Bereich analytischer Philosophie, Vernunftkritik und praktischer Philosophie. Demnächst erscheint von ihm Sinn, Bedeutung, Verstehen, Mentis-Verlag, Paderborn 2002.

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