Männer machen die Geschichte oder verhindern sie. Sternstunden der Menschheit: Wäre nicht am 18. Juni 1815 Marschall Grouchy mit einem Drittel der französischen Heeresmacht Waterloo ferngeblieben, Napoleon hätte gesiegt. Und hätte nicht am 22. September 2002, wider jede Prognose, der Grüne Hans-Christian Ströbele der PDS den Berliner Wahlkreis Kreuzberg/Friedrichshain entrungen, dann säße jetzt, via drittes Direktmandat, ein Doppeldutzend Sozialisten im Bundestag. Gerhard Schröder regierte die Große Koalition, und niemand behelligte uns mit dem nervtötenden Dauerhit Wahlbetrug!
Der Volkszorn über Rot-Grün ist mediengemacht; am besten weiß das der Osten. Fällt nicht auf, dass die Ostdeutschen, denen Schröder seine Wiederwahl maßgeblich verdankt, am Kanzler-bashing unbeteiligt sind? - Nein, das fällt nicht auf; der Osten hat ja im Westen nicht Stimme noch Ohr, falls wir Angela Merkel diesbezüglich weiter unterschätzen dürfen. Freilich distanziert bei den Ostdeutschen, laut einer Erhebung des Leipziger Instituts für Marktforschung, die CDU die SPD derzeit mit 43 zu 28 Prozent; die PDS dümpelt bei 13. Solche Umfragen ähneln im wechselwählerischen Osten Stimmungsberichten aus der Achterbahn. Die Wagen steigen und rasen zu Tal; entsprechend wechselt das Bauchgefühl. Überdies wird jetzt ja nicht gewählt. Wichtiger ist eine andere Zahl: 57 Prozent der Ostler finden, Schröder "macht seine Arbeit so gut es geht, die Opposition könnte es auch nicht besser". 94 Prozent der SPD-Anhänger sind dieser Ansicht, sogar 29 Prozent der CDU-Klientel, wogegen nur vier Prozent der SPD-Präferenten meinen, Schröder habe seine Wahl "mit Lügen erschlichen".
Seit die DDR weg ist
Was erklärt diesen Kontrast? Jenes Prinzip, dem im Osten mittlerweile alles unterliegt: gnadenloser Realismus, die ingrimmige Demoralisierung jedweder Partei und Politik. Man glaubt nicht mehr. "Weil der Hoffnung die Arbeit fehlte, kam die Arbeit an der Hoffnung zum Erliegen." (Wolfgang Engler, Die Ostdeutschen als Avantgarde) Helmut Kohl wurde seinerzeit per Nationalgottesdienst als Ost-Messias inthronisiert. In gottvoller Naivität hielten die Ossis den Kanzler der Wirtschaft gegenüber für weisungsbefugt und wähnten, die christdemokratische Nähe zur Hochfinanz saniere das mürbe Land. Auch Gerhard Schröders Erstwahl enthielt noch Glauben an die Politik des starken Manns. Da trat ein Kerl auf, der Anti-Kohl, nannte den Osten Chefsache und verpfändete sein Kanzlergeschick dafür, dass er der Arbeitslosigkeit abhelfe. Aber er half nicht ab. Der Osten lag ihm derart fern, dass er Thierses Krisenanalyse (Der Osten steht auf der Kippe) zur unerwünschten Prosa erklärte, bis ihm deren Echo in beide Ohren brüllte, Thierse habe recht.
Und doch gab der Osten Schröder ein zweites Mandat - inmitten der Rezession, obwohl er die Flickschusterei zur Regierungskunst erhob und sein Konkurrent hernieder kam wie die Madonna der Arbeitslosen und des Mittelstands. Edmund Stoiber wird wahrscheinlich nie begreifen, welchen Ost-Dämonen er jene Niederlage verdankt, von der er bis heute nicht zu erfahren wünscht. Zutiefst empfindet sich der Osten als alimentiertes Protektorat: ein Land am Tropf des Westens. Dieses Wissen kränkt schon fast nicht mehr. Der Status quo wird als alternativlos empfunden. Selbsttragender Aufschwung ist, fürs Ganze, völlig außer Sicht. Einige Leuchtturm-Regionen wie Leipzig oder Jena prosperieren - relativ. Die Jugend wandert aus, die Älteren werden alt. Aber wenige Ostler dürften klagen, der Wahlkämpfer Schröder habe sie getäuscht. Schröder beschallte den Osten als kämpferischer Moderator komplizierter Zeiten. Nicht Zuwachs versprach er, sondern sozial verträgliche Lastenverteilung. Nach Gesamtkonzepten, Visionen gar, Generationsverträgen fragt im Osten kaum noch einer. Man lebt sich so durch, reduziert die Welt auf seine Gegenwart, die Republik aufs persönliche Gelingen. Und Etliches gelingt, das rede keiner klein.
Von einem Ostvorsprung schrieb Friedrich Dieckmann, schon vor Jahren. Eines habe der Osten dem Westen voraus: die Erfahrung des Scheiterns. Dies wurde drüben nicht gern gehört; es schmeckte nach DDRlers klammheimlichem Verlangen, dass nun auch das Siegerdeutschland, die alte Bundesrepublik, ihre Karre an den Baum fahren möge. Gemeint war Anderes: das ostdeutsche Sensorium dafür, wie ein Gemeinwesen zerfällt, dessen Fundamente überfluten. Die Ostdeutschen, marxistisch schutzgeimpft, erkannten die Struktur der Krise, die Kohl, dann Schröder mit der Konjunktur verbrämten. Auf Kneipen-Ostdeutsch hat der Abbau des Sozialstaats schlichte Gründe: Seit die DDR weg ist, kann sich der Kapitalismus ungeniert austoben, da ist jeder Kanzler Hampelmann.
Die Sicherheiten des Westens - Gewerkschaftsfürsorge, Flächentarif, lineare Arbeitsbiographien, Sesshaftigkeit - sind im Osten längst der Einzelkämpfer-Anthropologie gewichen. Jetzt zieht der Westen nach. Schröders Regierung habe im Wahlkampf Bilanzen vernebelt? Kein Wahlkämpfer wagte doch auszusprechen, was niemand hören wollte, weil es jeder weiß: Wettbewerb braucht Opfer, Effizienz schafft Verlierer. Die vollbeschäftigte Gesellschaft kehrt nie wieder. Vollarbeit ist unsere legenda aurea, so jenseits der Realität wie unverzichtbar als Volkserzählung und sinnstiftender Konsens. Ihr sozialpartnerschaftliches Feuerchen flackert sogar noch im Märlein von unser aller Chancengleichheit als Aktienbesitzer. Die brutalst aufklärende Partei möchte den Wahlbetrüger Schröder vorführen, doch die wahrhaft zeitgemäße Bitte um Vergebung ist längst ausgesprochen: Manfred Krug entschuldigte sich bei den Aktionären der Telekom, denen der Ritt auf dem kapitalistischen Tiger weniger bekömmlich war als diesem selbst.
Gestiefelter Kanzler
Wer übers Ostvolk grübelt, sei nicht zu kompliziert. Der Osten wählt sprunghaft, mit so groben Gründen wie der Westen, aber ohne dessen Treue zu Parteien - bis auf eine. Nicht Schröders Sieg, nicht der Höhenflug der Grünen - wie die Sozialisten stürzten, war die Überraschung der Septemberwahl. Der Ost-Realismus wilderte auch in den linken Schrebergärten. Das Finish der Kanzlerkandidaten schien knapp, die eigene Stimme, sonst vielleicht aus Osttrotz, Pazifismus oder Antikapital-Korrektheit der PDS gewidmet, sollte wirksam werden und fiel Gerhard Schröder zu. Wer will, darf solches Wählen ein Stück deutsche Einheit nennen.
Weiterhin gilt, dass eine sozialdemokratische SPD vom Osten mehr Zulauf erwarten könnte als die Union. Mit klassischem SPD-Sound gewann Schröder die Wahl, natürlich auch Dank der sächsischen Flut. Der gestiefelte Kanzler im Muldestrom triumphierte als Helmut redivivus, mit Macht- und Tatenworten wie zur Gründerzeit: NATIONALE AUFGABE! ALLE HAND ANLEGEN! KEINEM SCHLECHTER ALS ZUVOR! Glaube, ein letztes Mal. Was blieb denn sonst?
Aber nichts half und hilft Gerhard Schröder im Osten wie sein NEIN! zum Kriege. Mit großem Abstand, weit vor der Arbeitslosigkeit, verzeichnen Umfragen als Hauptsorge der Ostdeutschen einen Krieg gegen den Irak. Wahrscheinlich ist Schröder selbst kaum bewusst, welche fast verehrungswürdige Statur er - Bush widerstehend - in den Augen eines Volks gewann, dessen Regierende ihrer Schutzmacht gegenüber jahrzehntelang nur Satellitengepieps von sich gaben. Die deutsch-amerikanische Politbeziehung gehört, anders als die US-Popkultur, nicht zur Ost-Sozialisation. Um so hellhöriger, mit allergischem Ohr, registriert der Ostler ihm herzlichst vertraute Koloraturen der Bruderbund-Hymnologie. Unfassbar, wie unisono die westdeutschen Kommentatoren den Kanzler zum Kratzfuß gen Washington befahlen, gipfelnd in der forschen Unterwürfigkeit des Herrn Glos und seinem transatlantischen Epochenruf: Ihr Canossa liegt am Potomac!
Der Papst residiert derzeit in Rom. Auch mahnt er zum Frieden, während am Potomac ein Hegemonialkrieg vorbereitet wird. Im NEIN! zu diesem Verbrechen kulminiert derzeit fast alles, was der Osten an Politikvertrauen aufzubringen weiß. Friedliche Konfliktlösung ist die ultima ratio ostdeutscher Erfahrung, Gewaltverzicht ihre 89er Schlüsselvernunft, und was ich zu verweigern wage, rettet die Welt - mindestens die meine. Es lag von Anbeginn auch Resignation in diesem NEIN! - ein Unschuldsbegehren, das - falls es die Feuerwalze schon nicht stoppen kann - wenigstens die eigene Seele bewahren will: den sächsischen Weltfrieden. Doch im Ost-Urteil hat maßgeblich der deutsche Kanzler George Bush zum Gang über die UNO genötigt. Realpolitiker mag derlei lachhaft dünken, Zyniker wie Moralisten müssen auf Tschetschenien weisen, Psychologen auf die Naivität verweigernder Dissidenz. Aber Schröders NEIN!, solange es eins bleibt, strahlt als Nukleus des Wahlkampfs 2002. Ein großer Kanzler spräche jetzt Klartext gegen diesen Krieg, statt allgemach hinüberzugleiten ins Alia bellum gerrent... - Männer machen die Geschichte? Es reichte, sie würde verhindert.
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