Das Mittagsmahl von Volker Braun, dem in diesem Jahr der Ver.di-Preis, der Kollegen-Preis des Schriftstellerverbandes, zugesprochen wurde, ist ein kleines Buch, ein sehr schmales Buch, vom Verlag durch einen großzügigen Druck scheinbar vermehrt, mit zwei beigefügten Gedichten ergänzt und durch die großartigen Kupferstiche von Baldwin Zettl - wunderbare Stiche, über die aber heute nicht zu reden ist - vergrößert und als Inselbändchen herausgegeben. In Wahrheit jedoch besteht der Text wohl aus nicht viel mehr als zwei Dutzend Manuskriptseiten.
Es ist eine Erzählung oder vielmehr ein Bündel von Erzählungen, es sind Erinnerungen, Mutmaßungen, Bruchstücke aus dem Gedächtnis, Splitter von Vermutungen, Ängsten, Befürchtungen, erhaltene Scherben der Erinnerung an die Familie, Überbleibsel aus der Vertrautheit eines Elternhauses. Der Autor benennt eine frühe Kindheit, spricht von seinem Vater, Erich Braun, der im Krieg blieb, der von den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs nicht mehr zurückkehrte. Der spätere Erzähler und seine vier Brüder sahen ihn ein letztes Mal, als er fünf Jahre alt war. Und der kleine Band spricht von der Frau, um die jener Erich Braun wirbt, die er heiratet, mit der er die Kinder zeugt, die um ihn kämpft und die schließlich - als noch junge Frau, als Kriegerwitwe - fünf kleine Kinder durch die restliche Kriegszeit und die Nachkriegszeit durchzubringen hat. Sie, die Mutter, ist die heimliche Heldin dieser Erzählung. Und der Autor lässt uns vieles nur erahnen, so wie er es damals selbst, als Kleinkind, nur erahnen konnte.
Es ist ein sehr persönlicher Text, ein Privatissimum geradezu, Nachrichten aus der Familie Braun, so persönlich, wie uns der Autor Volker Braun in den vergangenen Jahrzehnten selten erschien, recht eigentlich nie.
Volker Braun war uns in den letzten vier Jahrzehnten ein verlässlicher Begleiter und Chronist der stattfindenden Geschichte, vor und nach der Wende. Er legte uns immer wieder, in Gedichten, Stücken und in seiner Prosa, Berichte zur Zeit vor, aktuelle Meldungen zum Stand der Gesellschaft. Das Individuum Braun war stets ein unbeirrbarer und zuverlässiger Zeitzeuge. Er war und ist wohl der politischste aller deutschen Autoren der letzten Jahrzehnte, für mich nur vergleichbar einem Peter Weiss, der ebenso unbedingt wie gesellschaftsversessen uns sein Weltbild präsentierte, uns seinen verkürzten Spiegel der Zeit vorwies. Schroff und spröde ist die Sprache der beiden Autoren, Liebliches ist in ihrem Werk kaum zu finden, Privates nie, Persönliches stets verfremdet.
Doch bei Peter Weiß gab es als Unikat jenen Abschied von den Eltern, und bei Volker Braun nun Das Mittagsmahl.
Es ist noch immer seine uns bekannte Sprache, mit der er hier Familiäres benennt. Seine Verknappungen, der lapidare Braun-Ton, das plötzliche und unvermutete Aufreißen einer alltäglichen Beobachtung in einen größeren, in einen weltumspannenden, philosophischen Zusammenhang, all das ist auch ansatzweise in diesem Familienbericht vorhanden. Seine politische Sprache trägt scheinbar mühelos auch die vertraulichen Mitteilungen, das vor allem war für mich das Auffälligste an diesem Text. Und das Private bringt ganz ungewöhnliche Sätze auf das Papier, wundersame Sätze, denen man lange nachsinnt.
Da heißt es plötzlich. "Sie stand verwirrt, aber er lächelte sacht und kühn, so daß sie ihm glauben musste." Oder: "Es war sein kühnes sanftes Gesicht, das ihr gefiel, denn von Statur war er klein, aber wie er stand und sie mit den Augen einnahm, das ging ihr durch und durch." Und die Braun´schen lapidaren Verknappungen, wortarm und unkommentiert, wenn er beispielsweise die Hochzeit beschreibt und den Bericht mit zwei Sätzen beendet: "Die Girlande aus der Kirche wurde an der Stiege befestigt. Am nächsten Tag kam der Gerichtsvollzieher."
Es sind Sätze, die an einen Johann Peter Hebel erinnern, an Kalendergeschichten, an den Versuch, die Welt nicht allein in der Nuss-Schale, sondern auch mit dem familiären Mittagstisch zu erfassen. Ein Satz lautet: "Lange nachdem mein Vater gefallen war - wie das Sterben im Krieg heißt -, hörte ich meine Mutter einmal sagen: Wer weiß, wofür es gut war, daß er nicht wiederkam."
Was für ein Satz! Ein Satz, der einem nachgeht. "Gefallen - wie das Sterben im Krieg heißt", hinter der naiv und fast kindlich wirkenden Bemerkung steckt ein närrischer Simplicius mit einem Sprengsatz im Gepäck. Das belanglose Wörtchen "gefallen", es soll etwas beschönigen, sagt dieser Simplicius beiläufig, nämlich Mord und Totschlag. Die zerfetzte, blutige Leiche wird mit einem Wörtchen geschminkt, um sie recht vaterländisch, geschmückt mit der Nationalflagge, auf einer Lafette aufzubahren. Um den Toten zu ehren, vor allem aber, um neues Frischfleisch für die Front zu bekommen.
Was braucht es, sagt dieser Simplicius, um Hunderttausende aus dem Register der Ermordeten herauszunehmen und sie in eine Helden- und Ehrenabteilung zu befördern: ein einziges beschönigendes Wörtchen. Und dann dieser ungeheuerliche Nachsatz: "Wer weiß, wofür es gut war, daß er nicht wiederkam." Da steckt ein ganzes Leben dahinter, ein Leben in einer irrwitzigen, blutigen, mörderischen Welt, in der die Liebende dem geliebten Toten den Tod gönnt, eben weil sie ihn liebt.
Zwei Gedichte sind dem Band beigegeben, beschließen ihn. Auch diese beiden Texte sprechen von persönlichen Erfahrungen, doch sie sind älteren Datums, sind zehn und dreißig Jahre früher entstanden und für mich wie eine Brücke zu den Texten des bekannten und vertrauten Volker Braun. Auch hier spricht ein Ich, ist der Autor das Zentrum, doch die persönlichen Umstände sind immer auch Messlatte für eine wechselnde Gesellschaft, der Autor ist keine private Person, vielmehr das Individuum der Geschichte, der heroischen, der lächerlichen, der erbärmlichen Geschichte.
Ich habe Das Mittagsmahl mit vorbehaltsloser Bewunderung gelesen. Ein knapper, ein makelloser Text, ein klassischer Text. Aber Sixtus Beckmesser hat doch noch einen Fehler gefunden, und ich will ihn nicht verschweigen, auch wenn wir zusammengekommen sind, um Volker Braun zu ehren. Gerade weil wir deswegen zusammengekommen sind, denn es ist zwar ein Fehler, auch wenn es nur ein einziges Wort ist, doch dieser kleine Makel ist so fruchtbar provozierend und anregend, das ich ihn nennen will.
Es gibt nur wenige wirkliche Regeln unseres Handwerks, eine uralte lautet: Meide die Adjektive. Und jener Makel ist eben der Nichtbeachtung dieser Regel geschuldet.
Das Bündel von kleinen Erzählungem wird mit einem winzigen Text beendet, er besteht lediglich aus zwei Sätzen, die ich Ihnen vorlesen will: "In der Stadt Wien gibt es, am Graben, gleich gegenüber vom Stephansdom, ein vornehmes Konfektionsgeschäft, über dessen Türen und Scheiben, in schönen Lettern, der Name des Inhabers prangt: Erich Braun. Immer denke ich, daß es mein Vater sein könnte, der sich darin verbirgt, und seine große Familie verlassen hat, für ein zweites, angenehmes Leben, und bin in Versuchung hineinzugehn, um den Elenden zu umarmen."
Dieser abschließende Text trägt den Titel : Verächtlicher Gedanke. Und da steckt der von mir entdeckte Makel des Bändchens. Denn ein Gedanke kann gar nicht verächtlich sein, wenn er durch ein Erleben, eine Erfahrung angeregt, affiziert wurde. Er ist dann lediglich eine absichtslose, unwillkürliche Folge, also dem Willen nicht unterworfen, vom Gedankenträger nicht kontrollierbar, eine unvermeidliche Reaktion. Ein solcher Gedanke kann einem unangenehm sein, man mag ihn bedauern, doch er ist von unserem Wollen und Denken unabhängig, er entsteht reflexhaft und ohne eigenes Verschulden, ist so elementar wie eine Leidenschaft, die plötzlich in der Welt ist, oder der Hunger. Auch diese mögen uns gelegentlich zu einer Unzeit quälen, aber sie sind doch nie verächtlich.
Gewichtiger als der logische Einwand ist aber einer anderer Umstand. Volker und ich gehören einer Generation an, in der es mehr Waisen und Halbwaisen gab und gibt als gewöhnlich, in der mehr Kinder vaterlos, mutterlos aufwachsen mussten als gemeinhin die statistische Regel zu vermelden hat. Das lag an einem Weltkrieg und an dem Ausrottungswahn der deutschen Faschisten, die das Leben von Millionen Menschen für unwert ansahen und vernichteten.
Unsere Eltern hatten einen Weltkrieg zu überstehen und - falls sie die falsche Herkunft hatten oder eine nicht gebilligte Neigung oder nicht ausreichend gesund waren - die Vernichtungslager. Und ich habe viele Männer und vor allem Frauen kennen gelernt, die ohne Mutter und noch viel häufiger ohne Vater aufwachsen mussten, weil diese umgebracht, ermordet wurden. Ich habe erfahren, wie ihre ganze Kindheit von diesem Verlust geprägt war, von der Sehnsucht nach diesem früh verlorenem Vater, der, wann immer dem Kind Unrecht angetan worden war, in ihren Tag- und Nachtträumen als Weißer Ritter erschien. Und auch die erwachsenen Frauen und Männer haben von dieser heftigen, nachgetragenen Liebe zu diesem Phantom-Vater nie lassen können. Dieser Verlust blieb, prägte, schmerzte und schmerzt unaufhörlich.
Der Gedanke, in irgendeiner wildfremden Stadt plötzlich auf diesen so sehr vermissten Vater zu stoßen, mag sentimental sein, absurd, verständlich, wundenaufreißend, er mag rührend, verwegen, dunkel und überraschend sein, mag tollkühn, finster, vergiftet, kitschig sein, schwermütig oder tröstlich, er mag sogar cremefarben, orchideenhaft, schlafraubend oder mitternächtlich sein, fast mit einem jeden Adjektiv der deutschen Sprache wäre, wenn es denn sein muss, dieser Gedanke näher zu bezeichnen, nur verächtlich, nein, das ist er - bedingt durch die deutsche Geschichte, durch einen verheerenden Krieg und einen mörderischen Faschismus - das eben ist er nicht.
Lass dieses Wort "verächtlich" weiterhin stehen, Volker, aber es sollte - wie wenige Seiten weiter und aus ganz anderen Gründen ein anderes Wort - durchstrichen stehen bleiben.
Laudatio, gehalten auf einer Feierstunde zur Verleihung des ver.di-Literaturpreises 2007 am 23. April 2008 in Berlin
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