Es war einmal und es ist sehr lange her und die Milch wurde verschüttet und die Eier waren zerbrochen, ehe das Milchmädchen damit auf dem Markt anlangte.
Um uns in dieser Welt einen Halt zu geben, müssen wir den von uns geschaffenen Institutionen, diesen sehr gebrechlichen Einrichtungen, eine Struktur geben. Immer wieder aber werden diese Strukturen übermächtig, fesseln uns mit Sachzwängen, schnüren unsere Kehlen zu, bis wir außer Atem sind oder den Verstand verlieren, und verkehren unsere Ziele und uns selbst geradewegs ins Gegenteil.
"Geht einmal euren Parolen nach bis zu dem Punkt, wo sie verkörpert werden." (Büchner)
Das Fernsehen der DDR übertrug am 4. November 1989 völlig überraschend und ankündigungslos die Demonstra
digungslos die Demonstration vom Alexanderplatz direkt und ungekürzt. Eine Woche nach jener Demonstration erzählte mir ein Fernsehchef aus dem deutschen Süden, dass es am Morgen des 4. November eine kurze Intendantenkonferenz in der ehemaligen Bundesrepublik gegeben habe. (Es ist bei einigen Politikern und Journalisten neuerdings üblich, von der "ehemaligen DDR" zu sprechen. Vermutlich soll diese sprachliche Merkwürdigkeit den verspäteten, aber um so heftigeren Abscheu über den untergegangenen Staat demonstrieren, belegt allerdings lediglich mangelnde Sprachkenntnisse. Eine "ehemalige" DDR, das ist sprachlicher Nonsens. Es gab nur einen Staat mit diesem Namen, von einer späteren Republik mit gleichem Namen ist nichts bekannt. Jedoch gab es eine ehemalige BRD, die sich östlich bis zur Elbe erstreckte, und jetzt existiert eine andere, die bis zur Oder reicht. Ihrer eigenen Logik folgend müssten diese Sprachexperten auch Worten wie "3. Reich", "SS", "Wehrmacht" und "Reichsparteitag" das Wort "ehemalig" vorsetzen. Oder ist - da sie dies unterlassen - daraus zu folgern, dass diese Kritik und ihr Abscheu hier stark gemildert sind? Heiliger Karl Kraus, nimm sie bei die Ohren!) Die Fernsehgewaltigen hatten am 4. November zu entscheiden, ob das öffentlich-rechtliche Fernsehen der ehemaligen Bundesrepublik die Übertragung übernimmt. Die Herrenrunde entschied sich schließlich dagegen, und es blieb im Westen bei der Live-Sendung eines Tennisspiels mit Boris Becker. Damit konnte man mehr anfangen, hier waren die eigentliche deutsche Identität zu finden und die höhere Einschaltquote.Das war zweifellos eine richtige Entscheidung, sie war realistisch und entsprach der Wahrheit. In dieser Wahrheit haben nun West und Ost seit zehn Jahren zu leben. Mit der hilfreichen Lüge von den Brüdern und Schwestern lebte es sich leichter, so lange diese jenseitig waren.Ich bedauere das Zerrissensein der Deutschen nicht. Ich denke, es ist uns und der Welt hilfreich. Jahrhundertelang war es in Deutschland üblich und sittsam, Antisemit zu sein. Der Antisemitismus fand sich in allen Volksschichten, auch bei bedeutenden Politikern, Intellektuellen und Wissenschaftlern. Seriöse, bürgerliche Zeitungen hetzten gegen die Juden.Antisemitismus ist in Deutschland momentan politisch nicht korrekt. Ein gewaltiges Hasspotential liegt brach und braucht einen neuen Feind. Wenn nun Ost gegen West und West gegen Ost hetzen, wenn selbst seriöse Tages- und Wochenzeitungen dafür ins Gespann gehen und Wissenschaftler wie Publizisten sich aufgerufen fühlen, die dafür geeignete Munition zu liefern, wenn dabei nach alten überkommenen Mustern bösartig Halbwahrheiten und absurde Verallgemeinerungen für Diffamierungen anderer angeboten, regionale Besonderheiten zu Beweisen der Andersartigkeit erklärt werden, die Überlegenheit der jeweiligen deutschen Religion, Moral, Physik und Vorgartenpflege nachgewiesen wird, und man sich in dem jeweils anderen Teil Deutschlands mit einer Haltung bewegt, die an die Gesinnung jener Nazifilme erinnert, welche das Leben in jüdischen Ghettos zu zeigen vorgaben, so stimmt das hoffnungsvoll. So lange wir so zerrissen sind, stehen die gewöhnlich Beschuldigten - die Randgruppen, die Fremden, die Anderen, der Erbfeind - außer Gefahr. Offenbar brauchen wir zu unserem Heil und Seelenfrieden ein Bewusstsein von der eigenen Einzigartigkeit, und es trägt dazu bei, wenn wir unseren Nächsten als minderwertig ansehen. Die Perspektive mag wechseln und sich dem Geschichtsverlauf anpassen, die Gewohnheit bleibt.Die fremdenfeindlichen Übergriffe der letzten Jahre in Ost und West jedoch deuten ein Zusammenwachsen der Deutschen an.Ich sagte vor zehn Jahren, dass die Einigung der beiden deutschen Teile nach der staatlichen Einigung vierzig Jahre dauern würde, also so lange, wie die Zeit des Auseinanderlebens andauerte. Ich wurde damals als bodenloser Pessimist beschimpft. Ich werde nicht mehr lange warten müssen, um wegen dieser Äußerung als hoffnungsloser Optimist beschimpft zu werden.Der Philosoph Nietzsche sagte über Goethe, er habe sich zeitlebens auf das feine Schweigen verstanden, wenn es um die Deutschen ging. Und ein anderer deutscher Philosoph, befragt nach seinen Landsleuten, erwiderte: Die halbe Nation ist irre, und die andere nicht ganz bei Groschen.Mein Gedächtnis aber ist, danke der Nachfrage, noch immer nicht schlecht.