Anfang der achtziger Jahre traf sich der harte Kern unseres Freundeskreises einmal im Monat heimlich jeweils in einer anderen Wohnung von Ostberlin. Selbst der Staatssicherheit - die von den Treffen wußte -gelang es nicht, etwas über den Gegenstand unserer Zusammenkünfte in Erfahrung zu bringen. Die zuständigen Genossen hätten sich vermutlich auch sehr gewundert: Wir lasen Marx. Nicht mehr und nicht weniger. Mit einem Freund aus Westberlin gingen wir noch einmal den ersten Band des »Kapital« durch. Obwohl wir im Studium alle diese Pflichtlektüre absolviert hatten, verschlug es uns jetzt - mit anderem Blick gelesen - an vielen Stellen die Sprache. Da fanden wir auf Seite 118 der dicken blauen Ausgabe im Kapitel über die Warenzirkulation die Feststellung, daß zum täglichen Austauschprozeß auch sich widersprechende und einander ausschließende Beziehungen gehören und daß diese Widersprüche mit fortschreitender Entwicklung keineswegs aufgehoben werden, sondern statt dessen eine Form geschaffen wird, in der sich die Widersprüche bewegen können. Und danach folgt der lapidare Satz: »Dies ist überhaupt die Methode, wodurch sich wirkliche Widersprüche lösen.« Das stellte nun alles, was uns bisher in der DDR beigebracht worden war, auf den Kopf.
Egal ob im FDJ-Studienjahr, im Polit-Unterricht bei der Armee oder im M/L-Kurs an der Uni, überall hieß es, daß die sozialistische Gesellschaft die Widersprüche planmäßig löst, indem sie eine Seite des Widerspruchs, die Rudimente der alten Gesellschaft, überwindet und beseitigt. Von der Schaffung von Bewegungsräumen für neue Widersprüche als notwendiger Voraussetzung für deren Entfaltung und somit Lösung, war nie die Rede. Plötzlich standen sich die Vitalität einer konfliktreichen Gesellschaft, die erst im Verhandeln ihrer Widersprüche vorankommt, und die zentralistische Vision eines Staates gegenüber, der versucht, von einem Kontrollpunkt aus nahezu alle Bereiche des öffentlichen - und möglichst auch individuellen - Lebens zu gestalten.
Die damals heftig geführte Diskussion um den einen Marx-Satz erscheint heute eher befremdlich. Sie fiel mir jetzt schlagartig wieder ein, als ich Gerd Koenens großen Essay über die Säuberungen in der Sowjetunion der Stalin-Zeit las. Koenen gelingt es nämlich, von den reinen Vorgängen - er schildert detailliert die einzelnen Säuberungswellen zwischen 1917 und 1952 - abzuheben und auf ein dahinter liegendes grundsätzliches Problem einzugehen. Er stellt die Frage, wie es zu den millionenfachen Opfern überhaupt kommen konnte, was das eigentliche Motiv der Herrschenden war und inwieweit dieses auch für die anderen Länder des Systems galt.
Frühere Erklärungsansätze, daß es sich hierbei lediglich um eine spezifische Form gewaltsamer nachholender Modernisierung gehandelt habe, wozu einfach riesige Kolonnen von Zwangsarbeitern erforderlich waren, oder auch die Lesart des »Schwarzbuches«, wonach vor allem eine »kriminelle Ideologie« schuld sei, überzeugen Koenen wenig. Damit läßt sich für ihn weder das spezifische Wüten gegen die eigenen Genossen im Parteiapparat noch das gegen Schriftsteller und Ärzte schlüssig begründen. Gerade am Beispiel des »Großen Terrors« von 1937/38, als mindestens eine Million Menschen zu Tode gebracht wurden, macht Koenen deutlich, was er für die entscheidende Kraft hält: die Vision einer gereinigten, möglichst widerspruchsfreien, zentral gesteuerten Gesellschaft. Dazu bedurfte es einer radikalen Umgestaltung und Ausrichtung aller sozialen Gruppierungen, der »Zurichtung der ganzen Gesellschaft«. Es sollten die Eliten ausgetauscht, die »Reste alter Klassen liquidiert«, das dissidente Milieu ausradiert und die Verbindungen zum feindlichen Ausland gekappt werden. Auf diese Weise hoffte man, die Voraussetzungen für einen störungsfreien sozialistischen Aufbau zum Wohle aller nicht »sozial fremden« Gruppen zu schaffen.
Dieses Denken, das über die Jahre auch immer mehr Menschen im Lande selbst erfaßte, da viele durchaus dankbar dafür waren, daß man ihnen existentielle Risiken abnahm, führte dann auch zu entsprechender Beteiligung beim Aufspüren von »feindlichen Elementen« und der Beseitigung von »Störungsherden«. Die »IM's« mußten nicht zwangsweise rekrutiert oder teuer bezahlt werden, sie handelten zumeist aus der Überzeugung heraus, für eine »Besserung« der Gesellschaft zu arbeiten. Im wahnhaften Ziel einer vollständigen Säuberung der Gesellschaft - egal ob nach politischen, sozialen oder rassischen Kriterien - sieht Koenen dann auch die Parallelität der beiden großen totalitären Gesellschaftsentwürfe dieses Jahrhunderts. Ausdrücklich wendet er sich gegen eine Gleichsetzung von Stalinismus und Nationalsozialismus oder eine kausale Ableitung aus einander. Doch er macht deutlich, daß es zwei äußerste Möglichkeiten einer Politik der Gewalt waren, die sich zwar zur selben historischen Zeit, aber unter vollkommen verschiedenen Bedingungen entwickelt haben. Der hemmungslose Radikalismus der Nazibewegung richtete sich vor allem nach außen, denn die Eroberung fremden »Lebensraums« war die Voraussetzung für die Neubegründung eines kontinentalen Rassenimperiums. In ihm sollte für Juden kein Platz mehr sein, weshalb man nach einer ersten Phase der Ausgrenzung später bei der Gestaltung der neu eroberten Bereiche zur systematischen Vernichtung überging. Der Bolschewismus zielte dagegen vor allem auf die Umgestaltung im Innern der Gesellschaft. Dabei wurde der Tod von Hundertausenden zynisch in Kauf genommen, aber nicht planmäßig herbeigeführt. Insofern sei der Begriff des »Genozids am eigenen Volk« irreführend, denn historisch ungenau.
Aus diesen beiden unterschiedlichen Grundausrichtungen erklärt sich für Koenen dann auch, wieso es im Innern der NS-Führung - abgesehen vom frühen Mord an Röhm und seinen Mitstreitern - kaum gewaltsame Auseinandersetzungen gegeben hat. Man war eben durch einen stabilen Außenfeind - das Weltjudentum - zusammengeschweißt. Anders die Situation bei den Bolschewiki. Sie waren bei ihrem Versuch der radikalen Umorganisation der inneren Gesellschaft auf der ständigen Jagd nach Feinden, und dies zunehmend auch in den eigenen Reihen.
Unwillkürlich fallen einem bei der Lektüre über die frühe Sowjetunion die Erfahrungen in der DDR ein, obwohl im Buch sehr wohl zwischen der Stalin-Zeit und den gelockerteren posttotalitären Verhältnissen seit Ende der fünfziger Jahre unterschieden wird. Doch egal, ob man sich an die Reinigungen nach dem Ungarn-Aufstand mit dem Prozeß gegen Janka und Harich erinnert oder auch an abgelegenere Debatten wie die um das einheitliche sozialistische Nationaltheater in den sechziger Jahren, die Auseinandersetzung unter Ökonomen der siebziger Jahre über die Rolle des Geldes im Sozialismus oder die Kämpfe der achtziger Jahre um kleine Freiräume unter dem Dach der Kirche - überall stößt man auf das Bestreben einer »führenden« Partei, die Vorgänge im Lande möglichst vollständig zu kontrollieren und von einem leitenden Zentrum aus zu steuern. Doch dem liegt der Irrglaube zugrunde, Milliarden von selbstbestimmten Einzelentscheidungen durch die Direktiven einer Zentrale ersetzen oder doch zumindest eingrenzen zu können. In unserer heutigen komplexen, hochdifferenzierten Welt muß das unweigerlich im Desaster enden.
Anschaulich hat mir das Kuba in den letzten Jahren noch einmal vor Augen geführt. Als die fremdfinanzierte Zentrale ihren Rückhalt im Ostblock verlor und bei anhaltendem westlichem Embargo die staatliche Zuteilung von Lebensmitteln und Industriegütern zusammenbrach, setzte die Kommunistische Partei nicht etwa auf den Erfindungsreichtum der gut ausgebildeten Bevölkerung und förderte die wirtschaftliche Entfaltung des kreativen Potentials, sondern leitete eine »moralische Korrekturbewegung« gegen all jene ein, die sich als Kleinbauern, Händler oder Handwerker angeblich bereicherten und die sozialen Widersprüche vergrößerten. Statt dessen sollten von der Zentrale initiierte freiwillige Arbeitseinsätze die Versorgungslücken stopfen. Als das erkennbar nichts half, gab es geringfügige Zugeständnisse, wie die Zulassung ausländischer Währungen und entsprechender Geschäfte sowie die Genehmigung privater Restaurants - mit maximal 3 Tischen zu je 4 Stühlen. Die Gründung kleinerer Privatbetriebe ist in den meisten Bereichen nach wie vor verboten, während zugleich die Funktionäre große Joint ventures mit ausländischen Konzernen bilden. Dies geschieht schließlich unter staatlicher Kontrolle. Das offizielle Mißtrauen gegenüber privaten Initiativen an der Basis sitzt tief, denn diese würden in ihrer eigenständigen Vielfalt das Selbstverständnis der herrschenden Zentralmacht in Frage stellen. Insofern wird wohl auch Kuba ein weiteres Beispiel dafür werden, daß die sozialistischen Staaten der alten kommunistischen Prägung nicht aus sich heraus reformierbar sind, denn ihr innerer Zusammenhalt besteht in der Utopie einer homogenen Gesellschaft, die sich mit der Pluralität bürgerlicher Zivilgesellschaften letztlich nicht vereinbaren läßt.
Wenn Gerd Koenen, dem Lauf der Geschichte folgend, mit Gorbatschow das Ende des Kommunismus als Staatsgebilde sieht und den marktwirtschaftlich strukturierten Gesellschaften eine größere Dynamik und Konfliktlösungskraft bescheinigt, so steht dies am Ende des 20. Jahrhunderts wohl außer Frage. Doch angesichts der enormen ungelösten Probleme der heutigen Welt - sei es die wachsende Schere zwischen arm und reich mit dem Massenelend ganzer Kontinente oder seien es die globalen ökologischen Katastrophen - wird vermutlich auch im nächsten Jahrtausend mancher wieder fragen, ob es wirklich ausreicht, daß sich die Widersprüche ungehemmt bewegen können, um dann irgendwann zu einer Lösung zu gelangen oder ob es nicht vielleicht doch erforderlich ist, verstärkt steuernd einzugreifen, damit die Existenz der ganzen Erde nicht inzwischen im Gerangel der Gruppeninteressen verspielt wird. Dann stellt sich abermals die Frage: Wie funktionieren zentralistische Gesellschaften? Die Untersuchung, die jetzt Gerd Koenen vorgelegt hat, kann da nur hilfreich sein bei der Suche nach neuen Ansätzen.
Gerd Koenen: Utopie der Säuberung. Was war der Kommunismus? Alexander Fest Verlag, Berlin 1998, 456 S., 44,- DM
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