Die junge deutsche Literatur ist in aller Munde. Seitdem die Belletristikverlage nicht mehr auf überteuerte angloamerikanische Lizenzen setzen und auch der Spiegel mit einer Titelgeschichte zur letzten Frankfurter Buchmesse den literarischen Nachwuchs feierte, ist in den Editionshäusern lauter denn je zur Jagd nach hoffnungsvollen Talenten geblasen worden. Was bietet sich da besser an, als erst einmal Kurzgeschichten schreiben zu lassen und Sammelbände zu konzipieren, da bekommt man einen guten Überblick und kann die Spreu vom Weizen trennen. Als Thema wähle man etwas, wovon die »jungen Menschen« bei vergleichsweise geringer Lebenserfahrung tatsächlich etwas verstehen, zum Beispiel Erotik und wechselnde Liebesbeziehungen.
Also legt die Berliner Depend
die Berliner Dependenz des Frankfurter Eichborn-Verlages in Zusammenarbeit mit der Zeitschrift Das Magazin eine Anthologie vor, in der - so der Klappentext - die »Jungen Wilden ... selbstbewusst, respektlos und intelligent« mit dem Thema Nummer Eins umgehen. In der Buchhandelswerbung ist sogar davon die Rede, dass die 22 jungen Autoren die »Sau rauslassen«. Zudem wird der Band mit einem reizvoll-erotischen Foto auf dem Umschlag versehen, auf dem eine zarte Hand das eigentliche Zentrum der Lust bedeckt. Der erhaben geprägte Titelschriftzug »Bitte streicheln Sie hier!« legt sich dafür ironisch um den Bauchnabel. (Kompliment an die Gestalterin Christina Hucke!)Doch ach, was findet sich dann im Inhalt. Es beginnt schon mit dem Vorwort der Herausgeberin Susann Rehlein, die meint, dass es Erotik eigentlich gar nicht gäbe, dass dies eher ein Hirngespinst sei, das irgendwo zwischen Sex und Liebe läge und »im besten Fall diese transzendiert«. Ganz in diesem Sinne ist dann Karen Duves Auftaktgeschichte auch die spätpubertäre Vision eines 28-jährigen Studenten, der sich in einer langweiligen Vorlesung vorstellt, er könne alle seine (bisher abweisenden) Kommilitoninnen zu seinen Sklavinnen machen und anschließend auf dem Markt in Tanger verkaufen. So wenig dieser Text aus dem Kapitel »Exotik« trotz mancher Witzigkeit überzeugt, so wenig sind es die vier Geschichten aus der Abteilung »Orgasmus«. Kathrin Röggla läßt ihre Protagonistin erkennen, dass deren bisherige Gewissheit, beim Ficken etwas zu erleben, weil man dabei neue Wohnungen und andere Städte kennenlerne, nicht mehr stimme, sie trotz »solider Animalität« letztlich auf der Stelle trete. Auch die anderen haben zumeist »Verkehr mit dem Verkehrten« und absolut keine Ahnung davon, was eigentlich Erotik ausmacht. Das Aushalten einer Spannung zwischen Mann und Frau scheint ihnen allen kaum gegeben, und der Beziehungsreichtum, der ganz real zwischen Flirt, Sex und anhaltender Liebe existiert, harrt offensichtlich noch der Erkundung in späteren Lebensjahren. Lediglich in Tanja Langers Titelgeschichte über die Verstrickungen eines reiferen Bibliothekars und bei Steffen Kopetzkys Text vom Eros eines bulgarischen Schlafwagenschaffners erhält man eine vage Ahnung davon. Ihre Texte graben sich auch deshalb beim Leser ein, weil sie als eine der wenigen über das Miniformat früherer Magazin-Beiträge hinausreichen. Auf fünf bis sieben Seiten lassen sich eben kaum Handlungsstränge entwickeln und Figuren mit ihren Motivationen überzeugend aufbauen. Die hohe Kunst der Short story ist nicht einfach aus dem Ärmel zu schütteln.Leander Scholz und Michael Zöllner haben im Rowohlt-Taschenbuch Die Akte Ex - Abrechnung mit der Liebe von gestern ihren 24 Autoren etwas mehr Raum gegeben. Auf jeweils 10 bis 15 Seiten können sie sich über Trennungen und ihre seelische Bewältigung auslassen, wobei manche das eigentliche Thema jedoch kaum zu interessieren scheint.Im ersten Teil des Bandes sticht John von Düffel heraus, dessen Telefonerzählung Rinne nicht nur die Boulevarisierung des heutigen Medienbetriebes thematisiert, sondern zugleich die Verzweiflung des Verlassenen über die neue Wahl seiner Ex-Geliebten glaubhaft werden lässt. Prägnant auch Tanja Dückers' Brazil, deren Heldin das Zauberwort »Ex« benutzt, um jederzeit neue Männer kennenzulernen, bei Bedarf auch im Beisein des amtierenden Freundes. Bei Katrin Askan findet sich der gleiche selbstverständliche Umgang mit den vielfältigen früheren Beziehungen, die als Lebensreichtum empfunden werden.Auch wenn das Spektrum logischerweise nicht so breit ist wie im Reportageband Die Verflossenen von Heike Olbrich und Jörg Schmidt, der letztes Jahr erschien, so finden sich in dieser Anthologie doch zahlreiche Facetten des Umganges mit früheren Lieben, zu denen auch das homoerotische Zusammenleben von Frauen und Männern gehört. Julia Franck etwa führt die ausgebrannte Beziehung einer Lehrerin und einer Bankangestellten vor, die durch den Zuzug eines unkonventionellen Malers in die kleinbürgerliche Idylle der Vorstadtsiedlung aufgewühlt wird. Tobias Thomas, der mit Harold-Brodkey-Zitaten jongliert, lässt das schwule Credo verkünden, man solle im anderen im wesentlichen sich selbst lieben und sich vor zu heftiger Zuneigung schützen, da man sonst seine innere Ruhe verliere.Als ausgesprochene Meisterin der Kurzgeschichte erweist sich in diesem Band übrigens Zoë Jenny, die mit dem verzweifelten Flug eines eingesperrten Kondors gegen die Gitter seines Käfigs eine Parabel findet, um auf viereinhalb Seiten die Hypothek einer neuen Liebe vorzuführen, die sich auf den Verrat an einem gemeinsamen Freund gründet.Nach der Lektüre beider Sammelbände fragt man sich unwillkürlich, worauf der Feuilleton-Enthusiasmus in punkto junger deutscher Literatur eigentlich beruht. Es finden sich nur wenige neue Erfahrungshorizonte und - zumindest in der kurzen Form - kaum neue stilistische Mittel. Was sich einprägt, sind einige wenige Namen und das Bedürfnis, von ihnen größere Texte zu lesen. Auf diese Weise kann man dann womöglich auch die Spreu vom Weizen trennen.Susann Rehlein (Hrsg.): Bitte streicheln Sie hier! 22 erotische Geschichten. Eichborn-Verlag Frankfurt am Main 2000, 192 S., 29, 80 DMLeander Scholz, Michael Zöllner (Hrsg.): Die Akte Ex. Abrechnung mit der Liebe von gestern. Rowohlt Taschenbuchverlag Reinbek bei Hamburg 2000, 288 S., 14,90 DM.