Groß im Hintergrund

Bands Für das Publikum sind sie Nobodies, aber viele Popstars wären ohne sie nichts: von Sessionmusikern und ihrem prekären Leben
Ausgabe 38/2015
„It’s a job“, sagt Jorja Chalmers. Nicht mehr, nicht weniger
„It’s a job“, sagt Jorja Chalmers. Nicht mehr, nicht weniger

Foto: Dimitri Hakke/Redferns/Getty Images

Sie fällt kaum auf, wenn sie mit Bryan Ferry auftritt. Um den Hals ein Saxofon baumelnd, umgeben von Keyboards, steht Jorja Chalmers rechts hinten auf der Bühne. Nur für ihre Soli klettert sie von ihrem Podest herunter, dann steht sie im Mittelpunkt, manchmal nur wenige Takte, manchmal minutenlang. Ferry rückt stets zur Seite und überlässt ihr die Bühne. Ist das Solo zu Ende, zieht sie sich wieder zurück in den Hintergrund zwischen ihre Keyboards, so als sei nichts gewesen. Für Ferry, den einstigen Gründer von Roxy Music, ist sie eines der wichtigsten Bandmitglieder – aber für das Publikum nur eines von vielen Gesichtern, die es neben dem Star kaum wahrnimmt.

Und trotzdem sagt Chalmers, die derzeit mit Ferry durch Deutschland tourt: „Es ist die schönste Phase meines Lebens.“ Wir treffen uns in einer Bar im Londoner St.-Pancras-Bahnhof. 2007 war Ferry auf die damals 25-jährige Saxofonistin aufmerksam geworden und hatte sie über Myspace gefragt, ob sie nicht mit ihm und seiner Band auf Tour gehen wolle. Chalmers zögerte nicht lange und das war der Beginn einer engen musikalischen Beziehung zwischen dem Star und der Studiomusikerin, die nebenbei noch Saxofonunterricht geben muss, um in London über die Runden zu kommen. Seit Jahrhunderten nämlich läuft ein Großteil des Musikgeschäftes nach dem immer gleichen Muster ab: Irgendjemand stellt sich auf die Bühne, dirigiert, singt, performt, wird berühmt – und wird dabei begleitet von namenlosen Musikern, ohne Rechte, ohne Ruhm, zumeist abgespeist mit einem Hungerlohn.

Das gab es bereits bei Georg Friedrich Händel, dem autokratischen Chef des damals vielgerühmten Londoner Opernorchesters. Die 34 Instrumentalisten, darunter Deutsche, Franzosen und Italiener, galten als hervorragende Virtuosen. Aber sie standen immer im Schatten des Stars Händel und sind heute längst vergessen.

Götter des Motown-Sounds

Diese widrigen Verhältnisse änderten sich auch im 20. Jahrhundert nicht wirklich. Zwar kennt jeder die Hits von den Supremes und Diana Ross, den Temptations, Marvin Gaye, den Four Tops und Stevie Wonder. Diese genialen Songs wurden von einer kleinen Gruppe immer gleicher, außergewöhnlich begabter Musiker eingespielt, deren herausragendste Eigenschaft war, einen unverwechselbaren Sound für die Stars zu schaffen: den Motown-Sound. Die Gruppe nannte sich The Funk Brothers und dazu gehörten unter anderem Johnny Griffith (Klavier), Joe Messina und Eddie Willis (beide Gitarre), Eddie „Bongo“ Brown (Vibrafon), Richard „Pistol“ Allen (Schlagzeug) und der Keyboarder Earl Van Dyke. Regelmäßige Sessions im Studio, US-Tourneen mit dem gesamten Portfolio der Motown-Größen sowie intensive Bekanntschaft mit Alkohol und Drogen führten zu kaputten Beziehungen und noch kaputterer Gesundheit. Die Musiker bekamen zwar ein regelmäßiges, aber sehr kleines Gehalt vom Motown-Management – oft weniger als 1000 Dollar im Monat. Die Plattenfirma erwartete dafür ständige Verfügbarkeit. „Wir hatten zwar eine Menge Spaß. Doch das Geld war mau und für Gesundheit und Familie war das Leben bei Motown Mist. Aber ich war besessen davon, Musik zu machen“, sagte Richard „Pistol“ Allen kurz vor seinem Tod 2002.

Schon besser erging es in den 70er und 80er Jahren einer anderen, locker zusammengewürfelten Gruppe von Musikern. Sie nannten sich die Wrecking Crew. Aber auch diese Band erlangte erst am Ende ihrer Karriere weltweite Bekanntheit. Und zwar nicht durch ihre Musik, sondern durch einen Film. Aber sie waren wenigstens kommerziell erfolgreich. Drummer Hal Blaine, Bassist Carol Kaye, Saxofonist Plas Johnson und Gitarrist Tommy Tedesco gehörten dazu, ebenso wie Leon Russell, der später durch seine „Mad Dogs & Englishmen“-Tour mit Joe Cocker bekannt wurde, sowie Glen Campbell.

In ihren besten Zeiten als Sessionmusiker begleitete die Crew so unterschiedliche Musiker wie The Mamas & the Papas, Simon & Garfunkel, Cher, die Beach Boys und Frank Sinatra. „Diese Gruppe hat gezeigt, dass auch Sessionmusiker erfolgreich sein können – zumindest innerhalb der Musikindustrie“, sagt Jorja Chalmers. Es kam damals zu offenen Streitigkeiten zwischen Bands, die sich alle gleichzeitig die Dienste der Wrecking Crew für ihre Studioaufnahmen und Tourneen sichern wollten. Produzent Phil Spector konnte die Backgroundspezialisten für mehr als 20.000 Dollar (pro Musiker!) für seine Projekte Be My Baby und River Deep, Mountain High verpflichten, damit die Musiker ihm die typische Wall of Sound lieferten. Beide Songs waren wochenlang in den Charts und verkauften sich weltweit millionenfach.

Dabei zeigt sich hier zum ersten Mal eine neue Entwicklung für die Sessionmusiker. In der Szene wurden sie endlich anerkannt und schließlich auch einigermaßen gut bezahlt. „Es ging um Quantität, aber nicht nur. Es ging auch um Qualität“, erinnert sich Leon Russell. „Die Wrecking Crew war wie eine Fabrik, die am Fließband produziert. Aber einige Fabriken stellen eben Ford Pintos her, während bei den anderen Rolls Royces vom Band laufen.“ Allerding waren nicht alle Mitglieder der Crew erfolgreich. Hal Blaine zum Beispiel endete als Türsteher eines Strip-Clubs. Und der Gitarrist Tommy Tedesco wurde im TV in der Gong Show ausgegongt.

Jorja Chalmers sieht sich zwar durchaus in direkter Nachfolge ihrer bekannten Vorbilder; doch sie ist bescheiden geblieben. „It’s a job“, sagt sie, wenn man sie nach ihren Ambitionen befragt. Es ist ein Job. Nicht mehr, nicht weniger. Dabei ist es durchaus schon vorgekommen, dass Chalmers in Konzerten mit Bryan Ferry von Kritikern ebenso viel Lob bekommt wie der Weltstar. Will sie nicht irgendwann mal selbst im Vordergrund stehen? „Ja, ich habe auch schon mal über eigene Projekte nachgedacht und einige Stücke in meinem eigenen Mini-Studio zu Hause in Nord-London produziert“, sagt sie. Aber andererseits, so sagt Chalmers, sei es ihr enorm wichtig, die Freiheit zu haben, zu tun, wonach ihr gerade der Sinn steht. Und als Star ist man da definitiv eingeschränkt. „Da ist die Verantwortung. Und es gibt natürlich auch Gefahren“, sagt sie. Dafür genießt Chalmers die magischen Momente, die sich immer wieder ergeben, wenn sie mit Ferry auf der Bühne steht oder mit ihm und den anderen Sessionmusikern in dessen Studio in Kensington an den Songs und Konzertauftritten arbeitet. „Nach Noten wird kaum gespielt, Ferry gibt nur ein paar Referenzpunkte vor. Den Rest lernen wir für die Auftritte auswendig. Song für Song.“

Obwohl Chalmers auch mit anderen Bands wie The Ting Tings oder Musikern wie Jaakko Eino Kalevi gespielt hat – für den sie sogar umsonst arbeiten würde, weil sie ihn für schlicht genial hält –, verbindet sie doch seit mehr als acht Jahren ein besonderes Verhältnis zu Bryan Ferry, nicht zuletzt natürlich, weil ihr Instrument bei seiner Musik eine ganz zentrale Rolle spielt. Sie ist bei allen Konzerten immer dabei. Und das, obwohl das Honorar für die rund 30 Konzertauftritte im Jahr nicht ausreicht, um damit in einer Stadt wie London über die Runden zu kommen.

Unterricht für 40 Euro

Warum hat sie sich trotzdem diesem Job verschrieben? „Ich liebe Musik in allen Variationen; sei es auf der Bühne, im Studio oder bei mir zu Hause. Dafür lebe ich. Das ist das Band, das mich mit den Sessionmusikern aller Zeiten verbindet. Ruhm und Geld sind schön. Aber für mich haben sie nicht genügend Strahlkraft. Musik dagegen schon“, sagt Chalmers. Die Bodenhaftung hat sie dabei nie verloren. Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass sie neben ihren Konzerten und Studiosessions immer noch Klavier- und Saxofonunterricht gibt und dafür in Kleinanzeigen in ihrem Stadtteilblättchen wirbt. Für umgerechet 40 Euro die Stunde in ihrer Wohnung in London.

Christoph Meier-Siem lebt in Hamburg und ist Medienkaufmann und Dozent

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