Es war einmal eine menschenbewohnte Stätte, in der böse Geister sich eingenistet hatten. Unsichtbar und nur wie leichte Schatten unter den Menschen huschend, trieben sie ihr Unwesen, schändeten und töteten und tranken Menschenblut. Unzählig und furchtbar waren ihre Verbrechen, so furchtbar, dass man sie einander nicht zu erzählen wagte, und denjenigen, denen man sie flüsternd berichtete, wurden die Haare weiß vor Grauen, und sie selbst wurden zu Greisen. Und kein Mittel, keine Rettung gab es gegen die bösen Geister, da man sie nicht sah und nicht treffen konnte ..."
Nein, das ist nicht "Akte X", auch nicht Harry Potter. Es ist die Unheimliche slawische Volkssage vom Wij. Rosa Luxemburg erzählt davon 1899 in einem Artikel für die Leipzig
ür die Leipziger Volkszeitung. Unter dem Titel "Nur ein Menschenleben" beschreibt sie einen lokalen Kriminalfall: Ein 38jähriger Mann tötet erst seine beiden minderjährigen Töchter und dann sich selbst. Er hinterlässt einen Brief: Armut, Arbeitsunfähigkeit und zunehmende Erblindung hätten ihn dazu getrieben. Die Autorin interessieren allerdings weniger die Motive der Tat - was sie beschäftigt ist das Verhältnis zwischen dem Raum, in dem sich die Verzweiflung zur Bluttat verdichtet, und der Welt vor dem Haus, an dem die Menschen vorbeigehen, als wenn alles in Ordnung wäre. Sie deutet das als Metapher für die Auflösung der Gesellschaft im Kapitalismus: "Wären sie vom Monde, er könnte ihnen nicht fremder, nicht gleichgültiger, unbekannter sein. Die ÂGesellschaftÂ, die Zusammenfassung der Einzelmenschen zur Âhöheren EinheitÂ, das Âorganische Ganze war in jenem Augenblick eine freche Lüge, ein Phantom... "Die Welt des Kapitalismus ist, wie in der Volkssage vom Wij, eine von Geistern bewohnte Stätte. Die "normale" Gewalt, solange sie nicht in Verzweiflungstaten mündet, bleibt unsichtbar, unbegriffen, nicht mitteilbar.Eine gewisse Geringschätzung für RegelnAuch der IV. Band von Harry Potter beginnt mit einer scene of crime: dem düsteren Haus der Riddles. Verfallen, seit es einst Schauplatz dreier mysteriöser Todesfälle war. Die Zeiten sind andere, und die Märchen sind andere. Wir können nicht sagen, was Rosa Luxemburg in sie hineingelesen hätte - aber wir können selbst nach Spuren suchen, an denen sich heutige politische Fragen in den heutigen Märchen erkennen lassen. Und wir können feststellen, welche dieser Fragen von einer Art sind, dass wir sie gern noch einmal bei Rosa Luxemburg nachschlagen möchten.Jane Rowlings Harry-Potter-Stories sind ein politischer Glücksfall. Ihre magische Welt ist voll von krassem, ironischem Realismus und verschafft den 11- bis 14-Jährigen Leseerlebnisse, die in ihrer Darstellung von Grauen und Gewalt, in der Kritik an Erwachsenen und Institutionen und in ihrem zeitgenössischen sozialen Flair erheblich weiter gehen als das, was im Kinder- und Jugendbuch sonst als erlaubt gilt. Die Vorstellung des Magischen, auf der die Harry-Potter-Welt beruht, ist eine sehr spezielle. Man versteht sie am besten, als das erste Mal die Zauberschule von Hogwarts, in der die Handlung größtenteils spielt, beschrieben wird: Ein riesiger, unübersichtlicher Komplex, in dem sich die Neuankömmlinge anfangs ständig verirren. Es gibt allein 144 Treppen unterschiedlichster Art, doch damit nicht genug: "Manche davon führten am Freitag anderswohin als sonst."Das Magische in Harry Potter hat eine utopische Qualität. Es ist eine Welt des Eigensinns, der Differenz, der Kooperation, nicht der totalen Kontrolle. Es gibt große Ölbilder mit lebenden Figuren, die Passworte an verschiedenen Eingängen entgegennehmen, und man kann es sich ordentlich verscherzen mit ihnen. Hogwarts ist berühmt für sein extrem schräges, multikulturelles Personal, das niemand sonst einstellen würde. Im Lehrkörper finden sich Halbriesen, Wehrwölfe, notorisch erfolglose Wahrsagerinnen und rehabilitierte Kriminelle.Regeln spielen eine große Rolle bei Harry Potter - genauer gesagt: das Brechen von Regeln. Ihm selbst wird zu Recht "eine gewisse Geringschätzung für Regeln" nachgesagt, was stetige Konflikte mit der Schule und dem Ministerium für Magie bringt. Das Übertreten von Regeln gilt als selbstverständlicher Bestandteil einer Politik der aktiven Korrektur: Man muss Regeln brechen, wenn man sich gegen Mächtigere behaupten will. Um sich gegen den Hausmeister und seine spitzelnde Katze ("Mrs. Norris") zu wehren, braucht man eben mindestens einen Unsichtbarkeitsmantel und einen magischen Lageplan, auf dem man herannahende Autoritätspersonen rechtzeitig erkennt. Mit Institutionen lässt sich nicht zurecht kommen, wenn man immer die Wahrheit sagt oder stets nach ihren Regeln spielt.Harrys Freund Ron, der aus einer mäßig bemittelten Beamten-Familie stammt, hat mit dem Übertreten von Regeln wenig Probleme. Ganz im Gegensatz zu beider Freundin Hermione, die aus einer Familie von Nicht-Zauberern kommt, auch schon mal Fächer belegt, die gleichzeitig stattfinden. Abgesehen davon, dass Harry, Ron und Hermione ganz nebenbei das auch vom FBI empfohlene "buddy-Prinzip" verkörpern - du musst Erwachsenen nicht die Wahrheit sagen, aber deine Freunde müssen wissen, wo du bist -, arbeiten sie sich ausgiebig durch die Probleme gemischter Bündnisse und freier Kooperation. Sie kämpfen um Anerkennung und Loyalität in der Differenz. Durch Einschränkung von Kooperation wollen sie Einfluss auf die Regeln der Kooperation nehmen.Im IV. Band taucht das im klassischen Sinn Politische am deutlichsten auf. Die Bemühungen Hermiones, eine Befreiungsfront für die unterdrückten Hauselfen zu gründen, bleiben letztlich noch eine Nebenhandlung. Dafür tritt das Thema der gesellschaftlichen Reaktion in den Vordergrund: das Wiedererstarken der Dark Wizards beziehungsweise Death Eater unter ihrem faschistischen Führer, Lord Voldemort. Die von ihnen ausgeübten Spielarten der Magie - die dark arts - sind das Gegenbild der Magie à la Hogwarts. Sie handeln von totaler Kontrolle, vom Brechen des Willens, von Folter und Vernichtung. Die reaktionäre Utopie der Death Eater will die reale gesellschaftliche Pluralität zurückdrehen zugunsten einer Herrschaft der Reinblütigen; sie sind männerbündisch organisiert. Den Hauselfen ging es, wie wir aus dem dritten Band wissen, zu Zeiten des größten Einflusses der Death Eater besonders schlecht.Das "Parting of the Ways"Die Bildung zweier Lager, die um eine gesellschaftliche Weichenstellung ringen, das "Parting of the Ways", wie das vorletzte Kapitel heißt, vollzieht sich jedoch nicht zwischen den "Rechtsextremen" und dem Rest. Die Mitte spaltet sich: Wesentliche Kräfte des "Ministeriums" - des politischen Apparats - verzichten auf eine Aufklärung eigener Verstrickung in den rechten Aufschwung und wollen die demokratisch-sozialen Veränderungen lieber wieder zurückdrängen, als sie zum Ausgangspunkt erweiterter Bündnisse zu machen. Die Lagerbildung verläuft gemäß der Haltung zur Autorität, zu den "Regeln". Oder umgekehrt: zu Eigensinn, Differenz, Kooperation.Es fasziniert mich, wie viele Ähnlichkeiten Harry Potter zu politischen Fragen enthält, die mich heute beschäftigen: Die Betonung von Eigensinn und Differenz statt Objektivismus. Das Training zur Gegenwehr, zu einer Politik der konkreten Abwicklung von Machtverhältnissen, anstatt auf eine utopische "rationale" Ordnung zu verweisen. Die Vorstellung, dass Regeln immer auch gebrochen werden können, und dass dies Bestandteil von Veränderung und freier Kooperation ist. Die Priorität von Bündnissen gegenüber der Frage des "Rechthabens". Die Herausbildung gesellschaftlicher Weichenstellungen.Diese Fragen sind zumindest eng verwandt mit einer Reihe von Themen, die Rosa Luxemburg Zeit ihres Lebens - energisch, kontrovers, mitunter widersprüchlich - bearbeitet hat. Ihre Auseinandersetzung mit Spontaneität und Organisation handelt gleichfalls davon, dass die Treppen freitags manchmal anderswohin führen. Dass die soziale Bewegung ihrem Eigensinn folgen muss und nicht abstrakt ableitbar ist. Luxemburgs wichtigstes Argument für den Massenstreik etwa ist die Tatsache, dass es ihn gibt. Ihr Demokratiebegriff ist keiner der idealen Ordnung, sondern in Anspruch genommene Demokratie gilt ihr als eine von vielen Formen aktiver Selbstverteidigung der unterdrückten Gruppen (der zur Entwaffnung des Gegners ist einer der wichtigsten Zaubersprüche in Harry Potter). Der zentrale Platz, den der Streik in Luxemburgs Denken einnimmt, und die immer wieder betonte Unmöglichkeit, sauber in "politische" und "ökonomische" Streiks zu trennen, stehen für das unbedingte Bejahen von Verhandlungsfreiheit der "Massen". Sie soll weder dem Kommando des Kapitals, noch einer Partei oder Regierung unterworfen sein und kann jede Regel in Frage stellen.Luxemburgs kapitalismustheoretischer Wurf - die Akkumulation des Kapitals - führt weiter hinaus in die Welt des 20.Jahrhunderts als alle anderen marxistischen Entwürfe ihrer Zeit. Er weist auf den Internationalismus und die Bedeutung der "nichtkapitalistischen Milieus". Obwohl sie an den notwendigen Zusammenbruch der kapitalistischen Ökonomie glaubt, betont sie, dass er ohne konkrete Bündnisse, die ihn bewirken, eine leere theoretische Möglichkeit bleibt. So entwickelt sie ein Gespür für die aktuelle Lagerbildung, das "Parting of the Ways", den Schlüssel für eine revolutionäre Politik - was nichts anderes heißt, als eine Politik zu verfolgen, die im Zweifel die Regeln ändert, anstatt die Entwicklung des Sozialen zurückzudrängen. Nur wer die Lagerbildung richtig erspürt und bereit ist, sie zuzuspitzen, kann grundsätzliche politische Veränderung auslösen.Die Linie der Lagerbildung lag, davon war Rosa Luxemburg überzeugt, in der Haltung zum deutschen Nationalismus und preußischen Militarismus. Sie verlief 1910 präzise entlang der Frage der Wahlrechtsreform und der demokratischen Republik, was sich 1918 letztlich bestätigt sollte. "Die Losung der Republik ist also in Deutschland heute unendlich mehr als der Ausdruck eines schönen Traumes vom demokratischen Volksstaat oder eines in den Wolken schwebenden Doktrinarismus, sie ist ein praktischer Kriegsruf gegen Militarismus, Marinismus, Kolonialpolitik, Weltpolitik, Junkerherrschaft, Verpreußung Deutschlands", schrieb Luxemburg damals.Die erwähnten Lagerbildungen lassen sich nicht durch politische Analysen finden; sie erfordern das Gespür dafür, wo politische Weichenstellungen mit Alltagserfahrungen und individuellen Utopien verknüpft sind. Die notorischen linken Kommentare, es sei bei der US-Präsidentenwahl 2000 eigentlich um nichts gegangen, waren offenbar nicht von einem solchen Gespür getragen. Tatsächlich hatte eine Lagerbildung stattgefunden, wie das sich jetzt formierende "Projekt Bush" zeigt. Und wir erleben derzeit einen Machtkampf in der CDU, an dessen Ende die Auflage einer vergleichbaren reaktionären "Alternative" à la Bush stehen kann. Diese Lagerbildung verläuft heute nicht entlang der Haltung zum "Neoliberalismus" - jedenfalls nicht in der hiesigen, ökonomisch verkürzten Auffassung davon.Das "Parting of the Ways" wird in nächster Zeit viel mehr zwischen offener und geschlossener Gesellschaft zu finden sein, entlang der Haltung zu Wertediktatur und Autorität oder der Frage nach einer erweiterten Verhandlungsfreiheit und deren sozialen Voraussetzungen. Es wird nicht zwischen Rotgrün und Schwarzgelb verlaufen, sondern - wie immer - mitten hindurch, wie sich dies jetzt schon anhand der Castor-Transporte, der Irak-Bombardierung und vieler anderer Fragen abzeichnet. Es ist die Aufgabe linker Politik, Lagerbildungen zu erkennen und dem "richtigen" Lager theoretische Fundierung und weitergehende Konsequenzen anzubieten - es zu drängen, weiter zu gehen. Dafür bedarf es allerdings des Luxemburgschen Bekenntnisses zur Politik, zur realen Bewegung, die sich nicht aus Lehrwerken ableiten lässt. Und dafür muss man auch schon mal Harry Potter oder die lokalen Kriminalfälle lesen.Christoph Spehr ist Autor in Bremen. Von ihm erschien das Buch Die Aliens sind unter uns. Im vergangenen Jahr erhielt er den erstmals vergebenen Rosa-Luxemburg-Preis.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.