Im Rahmen eines kürzlich mit dem Spiegel geführten Interviews hat der niederländische Schriftsteller Leon de Winter sich in einem Nebensatz über die besondere Art des deutschen Humors geäußert: »Jüdischen Humor versteht man in ganz Europa und in Amerika. Alles dreht sich darum, dem Leiden im Leben einen Platz zu geben. Den deutschen Humor versteht man woanders nicht. Wenn man bedenkt, dass das große kulturelle Ereignis in Deutschland das Oktoberfest in München ist, dann weiß man, dass die Ausstrahlung in die Welt ziemlich begrenzt ist.«
Der scharfsinnige de Winter hat recht und gleichzeitig tappt er doch vollkommen im Dunkeln. Denn das Leiden im Leben vieler Deutscher hatte jahrzehntelang einen ganz tastbaren Grund und diverse vers
verse verschleiernde Bezeichnungen: »Staatsgrenze der DDR«, »Antifaschistischer Schutzwall« (niedlich verkürzt in »AntifaSchuwa«) oder einfach nur »Berliner Mauer«.Über die Mauer hat die ostdeutsche Frohnatur viele Witze gemacht. Einer der schönsten geht so: Die Callas gastiert im Palast der Republik. Riesiger Erfolg. Begeistert geht Honecker nach dem Konzert in die Garderobe. »Gnädige Frau«, sagt Honnie, »Sie waren wunderbar! Mit Ihrer Kunst haben Sie unseren Menschen viel Schönes gegeben. Sie haben einen Wunsch bei mir frei!« »Reißen Sie die Mauer nieder«, sagt die Callas. Honnie stutzt: »Ich verstehe«, sagt er geschmeichelt, »Sie wollen mit mir allein sein!«Die Berliner Mauer war ein bizarres Monument deutscher Geschichte. Auf der Suche nach Zeugnissen für die damalige Teilung der Stadt irren heute die Touristen hilflos durch die einstige Frontstadt des Kalten Krieges mit ihrem 43,1 Kilometer langen Beton-Wall. Als Teil stalinistischen deutschen Gutmenschen-Wahns war die Mauer ein kulturelles Schockereignis besonderer Vollendung. Ihre Ausstrahlung auf die Welt war von kaum zu überbietender Dominanz. Jetzt, wo kaum noch ein Originalteil zu sehen ist, will der Berliner Bürgermeister die Grenzanlage wieder nachbauen lassen - das Schreckensszenario als deutsches Disneyland. Der Witz der Deutschen ist wirklich nicht zu überbieten.Jeder, der noch im Sommer 1989, als Tausende DDR-Bürger über Ungarn in den Westen flüchteten, vom Fall der Berliner Mauer orakelt hätte, wäre für verrückt erklärt worden. Zu fest stand auch die Mauer im Kopf. Ein Vierteljahr später begann sich die DDR aufzulösen. Die Mauer wurde in handliche Souvenirstücke zerbröselt, verschenkt und weltweit verhökert.Susan Sontag, in Notstandsgebieten erfahrene Krisentouristin, ängstigte sich damals für die Berliner - sie seien erst gut dreißig Jahre lang Zaungäste einer »Tragödie« gewesen, nun zu Mitspielern in einer »Komödie« mutiert und es stehe zu vermuten, sie könnten »normal« werden. Im gleichen Atemzug prophezeite sie der Stadt: »Dies wird das New York Europas. Bloß mit einer Verspätung von sechzig Jahren«. (Sontag: The very comical lament of Pyramus and Thisbe, in: Die Endlichkeit der Freiheit. Ein Ausstellungsprojekt in Ost und West. Edition Hentrich Berlin. 1999).Die Wirklichkeit sieht ein bisschen harmloser aus, aber immerhin wollen Architekten und Investoren Berlin zu einer Metropole des 21. Jahrhunderts machen. Berlin, die »Stadt der 1.200« Kräne, liegt im Hauptstadtfieber. Potsdamer Platz, Pariser Platz, das neue Regierungsviertel in der Nähe des Reichstags, Lehrter Bahnhof als neuer Zentralbahnhof, Friedrichstraße, Alexanderplatz, Kurfürstendamm und der neue Großflughafen in Schönefeld sind die Lieblingsspielwiesen der Städteplaner. Ordinäre Löcher reihen sich an Buddelplätze, an Baugruben. Längst ist die Baustellenperformance zur touristischen Superattraktion geworden. Bisher sollen an den etwa 2.000 Schaustellenplätzen pro Jahr weit über eine Million Gäste vorbeigezogen sein.Der hirnverbetonierende Wahnsinn kennt keine Grenzen. Was also ist zu tun, um dem orientierungslosen Loch-Glotzen Einhalt zu gebieten? Man hat sich auf Stadtführungen verlegt, auf Bauzaungalerien, Kunst- und Tourismusmarketing, Brot und Spiele.Die Verpackung des Berliner Reichstages durch Christo im Juni 1995 war eine ganz besondere Zirkusnummer, die märchenhafte Ummäntelung des Kilimandscharo (oder nein: des »Pik Kommunismus«!) hätte nicht aufwendiger inszeniert werden können.Christo gab vor einzupacken, um zu enthüllen - aber was sollte mit dem Spektakel verdeutlicht werden? Dass es in schweren Zeiten umso einfacher ist, Leute an der Nase herumzuführen? Berlin im Christo-Fieber. ChristoMania over Germany. Sogar einige der angesehensten Berliner Galerien waren sich nicht zu schade, die zwanghafte Kondom-Manie eines Künstlers, der vergaß, wie kurz der Schritt vom Erhabenen zum Lächerlichen ist, mitzumachen.Das war der Super-Gau der Kunst, ein Triumph des Narrenkleids. Christo spielte den Pausenclown im deutschen Nachwende-Programm.Das Publikum störte sich daran wenig. Es genoss die Volksfeststimmung. Selbst wenn es Kunst ist, geht man hin. Erstmalig zelteten auch die Mongolen nicht mehr am Berliner Müggelsee.Seit sich das politische Berlin mit seiner Hauptstadtplanung verrannt hat (der Stadthistoriker Michael Bienert spricht gern von der »eingebildeten Metropole«), spielt »das Loch« auch im übertragenen Sinn die entscheidende Rolle. Ganz gleich ob Bohrloch oder Haushaltsloch, es herrscht die unbezwingbare Sehnsucht der Winzlinge, ihr Mikrobiotop ständig in Beziehung zu setzen zur Schwärze und den unfassbaren Weiten eines geschäftigen bis katastrophischen Alltags. Das Loch ist zum Indiz geworden für die stufenweise Aufrichtung des späteren Baugebirges wie für das selbstkasteiende Abtragen des Schuldenberges. Fasziniert vom eigenen Immer-geringer-Werden glotzt der durch die Stadtmitte flanierende Berlin-Besucher mal in das eine, mal in das andere Loch und labt sich am eigenen Schauder. Und wenn er sich dann genug gegruselt hat, setzt er sich ab in die heimeligeren Zonen der Stadt, nach dem Berliner Scheunenviertel zum Beispiel oder in die Spandauer Vorstadt, wo, so projiziert das der werbebewußte Berliner, alles noch so schön von früher sein soll.Aber die Zeiten haben sich geändert. Der Geist der Bau-Giganten weht jetzt überall, die Hackeschen Höfe sind saniert, die Neuen Hackeschen Höfe dazugekommen und die Erlebnisintensität des Schmuddel-Images bestimmter Innenstadtbereiche im Osten Berlins zwischen der Brunnenstraße im Norden und der Leipziger Straße im Süden ist längst offizieller Teil der Innenstadt-Dekoration geworden. Schon ist die Szene nach Friedrichshain ausgewichen und versucht unter sich zu bleiben in Wohnzimmer-Bars und bei Elektronik-Konzerten in Zimmerlautstärke.Kurz nach dem Mauerfall galt die »Auguststraßen-Kunst« und das, was in den kleinen Ladengalerien, in Abbruchhäusern und in ehemaligen Fabriketagen zu sehen war, als selbstbewußter Gegenentwurf zu allem, was nach Mainstream, Marktzwängen und nach den Ritualen der »westlichen« Saubermänner-Gesellschaft roch.Zehn Jahre später haben auch überzeugte Dilettanten begriffen, dass ihr Kontrastprogramm sie nicht schützen kann vor dem Karrierehoch - im Gegenteil. Die Erwartungen der Feuilletons und der Kleinbürger-Kunstwahn haben die Allianz von »Volksbühnen«-Rotz und Auguststraßen-Romantik aus ihrer Nische herausgehebelt und ihr einen festen Platz in der kulturellen Kuschelgemeinschaft zugewiesen. Jeglicher Kampfgeist ist dahin. Die Gewieften und Klugscheißer regieren wieder, und sogar die Jammer-Ossis, über die ein freundliches Schicksal längst schon die Gnade des Vergessenseins breitete, haben begriffen, dass ihre neue Identität aus der Quelle der Deutschen Bank sprudelt. Alle sind nun schrecklich lieb zueinander in der Gewissheit, dass es im nächsten Jahr wieder eine x-Millionen-«Berlin-Biennale« gibt.Schwamm drüber!Man kann diese Entwicklung mit einem lachenden und einem weinenden Auge sehen. So wie sie, einem Lauffeuer gleich, an Boden gewinnt, ist sie der Gradmesser für ein sich änderndes Lebensgefühl.Auf der Ebene der Galerien heißt das, aus Nostalgie und Stagnationsprozessen werden Visionen. Die jungen Aufsteiger geben sich hart, aber zeigen eine fast kindliche Begeisterung am Rollenspiel. Ein stets freundlicher Hedonismus regiert. Der maßgebliche Erfolg einiger Galeristen im Umfeld der Auguststraße beruht jetzt weniger auf dem Ambiente, in das die Kunst eingebettet ist, als vielmehr auf der Professionalität und dem wie maßgeschneidert wirkenden Image-Kanon.Aber das Berliner Kunstleben spielt sich nicht nur im Bezirk Mitte ab.Verblüffend ist auch die Tatsache, dass Nicht-Orte, wie die Gegend um den Ostbahnhof, plötzlich ins Blickfeld rücken. Unmittelbar an der Grenze zwischen Friedrichshain und Kreuzberg gibt es seit gut einem Jahr die »Maria am Ostbahnhof« (einen Club für Tech-Punks, Futuristen, und emotionale Staubsauger) und gleich daneben befindet sich der Interims-Standort des Multikulti-Zelts »Tempodrom«. Eine Mischung, die aus dem neuen Geist linken Pop-Erlebens gespeist scheint. In Berlin passieren zur Zeit komische Sachen. Und endlich, endlich wacht auch Kreuzberg wieder auf aus zehnjähriger Nischenexistenz.Aber auch die subkulturellen Basisarbeiter der DDR der achtziger Jahre (Wolfgang Krause von »O Zwei« oder Maximilian Barck, jetzt beim »Kunstverein Herzattacke«), die nach wie vor im Prenzlauer Berg und anderswo ihre Schaltstellen besetzt halten, tragen kräftig dazu bei, dass die etablierten Formen der Kultur nicht zu dominant werden. Zwar hat gerade die Zeitschrift Sklaven, ein Standbein linker Kulturkritik, mit der 51. Nummer ihr Erscheinen eingestellt, auch das Nachfolgeblatt Sklaven Aufstand ging ein, doch die Blattmacher um den Dichter Bert Papenfuß planen im Geist des undogmatischen Sozialisten Franz Jung bereits ein neues Pamphlet: Gegner soll es heißen und erneut zum Sammelbecken werden in dem »ganz normale Kulturinteressierte auf Trotzkisten, Hardcore-Anarchisten und Linksradikale auf Bürgerbewegte treffen«, sagt Papenfuß. Im Abtasten von Politikbegriffen, In-Verhalten, Dissidenz in Pop und Kultur legt auch die Zeitschrift Die Beute, die im ID Verlag erscheint, Meilenschritte zurück. Berlin liegt zwar nach wie vor wie eine Insel in der Mitte der Provinz. Aber dort, wo karger Boden ist, bleibt auch viel Himmel ... . Gegner und Die Beute sorgen dafür, dass es in den politischen Turbulenzen nicht dazu kommt, dass Druckabfall-Zonen entstehen.
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