Streit war nicht zu vermeiden

Fast-moderner Idylliker Ein Nachruf auf den ostdeutschen Zweifler Wolfgang Mattheuer (1927-2004)

Wer in der DDR Gefühle zeigte, gehörte zu den Außenseitern. Sein Herz in Händen zu halten, machte verletzlich. Malerei unter sozialistisch geweiteten Bedingungen durfte zwar ihre Betrachter romantisch anglotzen, konnte sensualistisch, poetisch oder eine süßlich klingende Lockpfeife sein, aber wenn es an´s Eingemachte ging, dann nur unter streng parteilicher Choreographie, für unkontrollierte Fließbewegungen des Sentiments blieben die Ausstellungsräume lange Zeit verschlossen. Das änderte sich erst mit Beginn der achtziger Jahre, als die Generation der nach 1955 Geborenen das Regime der Gerontokraten ordentlich in Rotz und Feuerwasser badete.

Bereits 1970 hatte der Leipziger Wolfgang Mattheuer ein in fahlem Nebensonnenlicht wunderbar schwerelos schwebendes Liebespaar gemalt, das 1972 zum Geheimtip der VII. Dresdner Kunstausstellung wurde. Im Gegensatz zu Willi Sittes rauschhaft kopulierenden Körpern auf den Turnierplätzen des sozialistischen Daseins etwa, tauchen Mattheuers Figuren aus dem milchigen Licht der Erinnerung, gar des Mythos auf, getragen von einem Gefühl existentieller Gebundenheit. Der Raum, in dem sie in gegenseitigem Näherkommen leben, sind sie selbst. Für einen in den offiziellen Kunstbetrieb der DDR integrierten Künstler hatte Wolfgang Mattheuer eine erstaunlich romantische Ader, das Innen für Außen nehmend.

Im Osten Deutschlands kennt man seine lauernd fragenden Bilder aus allen großen Ausstellungen, im Westen machte er erstmals 1977 aufgrund seiner Teilnahme an der documenta 6 in Kassel (zusammen mit Heisig, Sitte, Tübke, Cremer und Jastram) und einer vielbeachteten Einzelausstellung im Hamburger Kunstverein von sich reden. Ein gesamtdeutscher Maler (was er sich sehr gewünscht hatte!) ist er dennoch nicht geworden.

1927 als Sohn eines Buchbinders im vogtländischen Reichenbach geboren, entwickelt Mattheuer schon als Kind eine besondere zeichnerische Begabung, entscheidet sich dann aber zunächst für eine Lithografen-Ausbildung. Kriegseinsatz, Verwundung und sowjetische Kriegsgefangenschaft (aus der er den Mut hatte zu fliehen!) bringen es mit sich, dass er erst 1946 die Kunstgewerbeschule in Leipzig besuchen kann. Ein Jahr später wechselt er an die Hochschule für Grafik und Buchkunst. Mattheuer studiert Buch- und Schriftgrafik. Nach dem Studium als Gebrauchsgrafiker aktiv, lässt er sich gut zehn Jahre Zeit, um einen eigenen Stil auch in der freien Kunst zu entwickeln. Als Maler und Grafiker ist Mattheuer Autodidakt. Doch ab Mitte der sechziger Jahre sind seine in Form und Empfindung ganz eigenen Bilder aus der DDR-Kunst nicht mehr wegzudenken.

Nachdem er es trotz gelegentlicher Unstimmigkeiten mit den Parteioberen schafft, eine Professur an der Leipziger Hochschule zu bekommen, schlägt er den Weg zu einer typischen DDR-Künstler-Karriere mit Hindernissen ein. Mattheuer, seit 1958 in der SED, lässt Reibung entstehen zwischen "Übereinstimmung und Protest, zwischen Ja und Nein". In der Hoffnung, man würde ihm (der doch nicht einmal das Stadtgefüge aushalten konnte und immer in die Landschaft, ins Offene strebte) zuhören, riskierte er den leisen Widerspruch. 30 Jahre hält er das durch, stets "ein Bündel Bedenken" (wie er sich selbst einschätzt), doch 1988 reißt der Knoten und er tritt aus der ungeliebten Partei aus. In seiner Austrittserklärung heißt es: "Ich fühle mich mitverantwortlich, im Engen wie im Weiten, und denke nicht daran, meine Verantwortung zu leugnen oder nach ›oben‹ zu delegieren und mich zum Mitläufer zu entwerten". Mattheuer, der fast-moderne Idylliker mit der Menzelschen Frühprägung, dem es auf tatsächlich phantastische Weise gelang seine Zauderlichkeit, oft auch sein stummes Nein in Bilder von hoher Popularität zu gießen, stieg aus.

Den Wiedereinstieg in die aktuellen Debatten schaffte er nicht, weder politisch noch künstlerisch. Als er sich im Herbst 1989 an die "Wende"-Spitze vorschieben wollte, fand er im Osten kaum mehr Freunde unter den Jüngeren. Dafür winkte man ihm von Westen her mit dem Bundesverdienstkreuz. Mit seinem Lob für die Rechtsintellektuellen ("Ich lese die Junge Freiheit mit ideellem Gewinn") wurde er noch schwerer verständlich, zugleich blieb er trotz aller gerechten und ungerechten Vorbehalte einer, der sich unablässig mit der Vergeblichkeit herumplagte. Es ist dieses Bewusstsein, in der Korrektur des Scheiterns abermals zu scheitern, welches das Vertrauen in den evolutiven Prozess nicht abreißen lässt, ihn aber auch oft mürrisch und verstockt reagieren ließ. Er hätte mikro-politisch zwischen seinen Keilrahmen bleiben oder zumindest weiter durch seine Innenlandschaften wandern sollen und sich nicht aufmachen, um sein Künstler-Glück "Hinter den sieben Bergen" zu suchen.

Seine Denk-Bilder, durch die er zum Symbol- und Mythenspezialisten der realistischen sogenannte "Leipziger Schule" avancierte, gehörten zu den Besonderheiten des Einheits-Sozialismus wie die Bückware in der HO und der FDJ-Rock der Puhdys. Was hartleibige Provinzkader störte, erfreute sich zumeist der Zustimmung der Ausstellungsbesucher: so zum Beispiel die Darstellung einer eher unfrohen, erschöpft in sich zusammengesunkenen Arbeiterin im Festtagsgewand von 1973/74, isoliert von ihrem Arbeitskollektiv und vom Betrachter durch ein schrankengleich durchs Bild laufendes weißes Tischtuch. Das Bild der Mutter des Künstlers trägt den lapidaren Titel Die Ausgezeichnete. Ein Bild, um das belebend gestritten wurde, weil es den Widerspruch zwischen proletarischem Siegerpathos, alltäglicher Maloche und den hohlen Sprüchen der Parteiaktivisten subtil erkundet. Oder die Bildergeschichten vom flüchtenden und vom übermütigen Sisyphus, von Aufstieg und Absturz des Ikarus und die Radikalsatire auf Bonzenarroganz und Duckmäusertum.

Nach außen hin auf des Messers Schneide balancierend, klammerte er sich selbst an den Mittelweg. Mittig sind auch all seine Kompositionen ins Format gerückt, selbst die Ausbrecher aus dem Teufelskreis. Über Zwiespalt und Zerrissenheit triumphierte der Ausgleich. "Wenn mir keine Bilder der Harmonie mehr gelingen, dann sind auch die Problem- und Protestbilder falsch", bekennt er 1987. Da wusste er noch nicht, dass aus dem horizonterforschenden Bootsmann einmal ein ankerlos im Kreis rudernder Kahnfahrer werden würde.

Obwohl man Wolfgang Mattheuer der besagten "Leipziger Schule" zurechnet, verbindet ihn stilistisch kaum etwas mit Bernhard Heisig, Werner Tübke, Volker Stelzmann, Arno Rink oder Sighard Gille. Weder deren Figurenauffassung, Kompositionsschemata noch Farbauftrag haben etwas mit Mattheuers bereits in den siebziger Jahren angelegter neudeutscher Daseinslyrik zu tun. Man tut Mattheuers Bildern unrecht, wenn man sie ungeprüft in die Kategorie "gepinselte Leipziger Befindlichkeits- und Benennungsliteratur" steckt. Der undogmatische Mattheuer passt in keine Schublade, auch nicht in die, die er sich selbst gezimmert hat.

Im Vergleich zu den Dresdnern sind die Leipziger grundsätzlich wohl immer "literarischer". An ihnen zu zweifeln, war zu DDR-Zeiten erlaubt, aber sinnlos, hingen ihre rabiaten Großformate aller fünf Jahre doch immer wieder an den Vorzeigeflächen der sozialistischen Leistungsschauen. Wolfgang Mattheuer allerdings störte sich an dieser oft ungeprüft mitteilsamen Form und auftrumpfenden Bravura, weshalb seine Bilder auf bisweilen holzschnittartige Weise prägnant gearbeitet sind, so wie er die grafische Technik des Holzschnitts gleichzeitig nutzte, um parallel zu seiner Malerei Motive zu entwickeln und zu variieren. An A. R. Penck, dem Erfinder des sächsischen Strichmännchens, schätzte Mattheuer "reine Kraft ... und ... Hemmungslosigkeit". Joseph Beuys dagegen hielt er nur für einen "Wanderprediger".

In den letzten Jahren wohnte Mattheuer zwar gern öffentlichen Aufarbeitungsdebatten um den Stellenwert der Kunst in der DDR bei, reagierte aber zunehmend einsilbig. Aus Anlass seines 75. Geburtstages richteten ihm die Chemnitzer Kunstsammlungen eine Retrospektive ein, die sich sehen lassen konnte und an der ablesbar wurde, was den Skeptiker Mattheuer an- und was ihn aufregt hatte in seinem an Windungen reichen Künstlerleben. In der Nacht zu seinem 77. Geburtstag ist Mattheuer am 7. April in Leipzig überraschend verstorben.

Wolfgang Mattheuer selbst wird in die Kunstgeschichte eingehen als jener ostdeutsche Zweifler, der auch unangenehme Auseinandersetzungen annahm, um durch sie sein untrügliches Gefühl für das Verhältnis von Form und Formzwang zu schärfen und der sich in die Kuscheligkeit seiner Heimatlandschaft nur dann flüchtete wenn verdunkelte Horizonte ihn dazu nötigten.

Christoph Tannert arbeitet als Ausstellungsmacher und Kunstkritiker in Berlin. Er ist Geschäftsführer des Künstlerhauses Bethanien.


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