Ein Land im Wartezustand, das war die nun schon länger versunkene DDR. Ein Land, in dem man wartete, vor allem auf das, was nicht zu haben war: Güter, die es nicht zu kaufen gab, gesellschaftspolitische »Veränderungen, die nicht eintreten würden«. Doch dann kam die Wende, und mit ihr das richtige Leben, »das hieß, das richtige Geld zu haben«. Ein schlechter Tausch, auch dieses 'Geld oder Leben', und bald war den Betroffenen schon klar: »Wir tauschten das Geld gegen unsere Geschichte, mehr hatten wir nicht.« Wer das da rekapituliert (mit aller gebotenen Lakonie), ist eine, die es wissen muss (und sagen darf): Ex-Bürgerin des viel geschmähten Staates und somit geadelt von jener Zeitzeugenschaft, die nun auch von der Literatur s
r so gerne eingeklagt wird und posthume Grenzgänger des fiktiven von hüben nach drüben erst einmal zur Passkontrolle bittet ...Doch Annett Gröschner, 1964 in Magdeburg geborene Autorin von »Moskauer Eis«, weiß zu berichten aus erster Hand, ja zu berichten von langer Hand. Denn in Moskauer Eis - eine teils bis zur Respektlosigkeit witzige und bei aller Erinnerungsfülle dennoch ironisch distanzierte, ja klarsichtige Wiederbelebung der besten und schlechteren Tage der Ex-DDR - gräbt Gröschner noch einmal jene Geschichte aus, die unter der Staatsleiche erstarrte, und wandelt sie in harte Währung 1:1. Alles gilt, so wie es war. Und was war, schenkt man dem Buch Glauben, war zum Weinen so tragisch wie zum Schreien so komisch.Drei Generationen umfasst die Familiengeschichte, die im Mittelpunkt des Romanes steht, der somit zugleich - zwischen Magdeburg und Berlin pendelnd - auch zeitgeschichtlich die Geschicke der deutschen Territorien Ost und West von der Nachkriegszeit über den Kalten Krieg und die Teilung bis hin zur Wiedervereinigung belichtet. Doch das eher streiflichtartig, denn in Moskauer Eis dominiert - und besticht - die Innenschau der Privatgeschichte, deren vermeintlich affirmative Nähe zum Geschehen nur umso eindringlicher die unausweichliche Enge des Staatsgehäuses zum Ausdruck bringt und die Verwicklungen des Privaten mit dem Lauf der politischen Geschichte intoniert. Dass Gröschner dabei die Gefahr vermeidet, das Regime und die Menschen dieses Regimes zu nichts als Opfern zu banalisieren, ist dem Sarkasmus ihrer Erzählerin zu verdanken, den der naive Plauderton ihrer episodischen Erinnerungen bewusst nicht kaschiert.Weihnachten 1991 sitzt diese (ebenfalls '64 geborene) Erzählerin namens Annja Kobe in der Magdeburger Wohnung ihrer Großmutter, die im Sterben liegt, und lässt die Geschichten und Geschicke ihrer Familie Revue passieren; einer Familie, die redlich dem Staat gedient hat, denn Vater und Großvater waren beide renommierte Kühltechniker und damit wichtiges Glied in jener Produktionskette, die die Nahrung zum Endverbraucher brachte. Grund zum Grübeln und Graben hat die Erzählerin allemal: denn in der Küche thront die Kühltruhe aus der Wohnung ihres Vaters - der darinnen liegt als kristallüberzogene Leiche. Warum und wer, sind die Fragen, denen nicht nur Annja auf den Grund zu kommen sucht.In gekonnt arrangiertem Wechsel zwischen Rückblende und Gegenwart schreitet die Erzählung nun voran: nicht zufällig wohl auch ein Wechsel zwischen (nicht allein großmütterlichem) Post-Wende-Siechtum und dem Aufstieg und Fall eines Daseins unter dem Markenzeichen ÂDDRÂ ... Bis in die NS-Zeit und die Kapitulation der Deutschen, bis ins Jahr 1947 reichen die weitverzweigtesten Ausläufer dieses Erinnerungsgespinstes: 1947 wird dem Großvater - ein auch auf Sekretärinnen spezialisierter Frauenheld, der in einem Interhotel im Beisein einer Prostituierten sterben wird - eine aus Schlesien Geflüchtete als Arbeitskraft zugewiesen; im gleichen Jahr, da er wegen unsauberer Geschäfte nach Ostberlin abkommandiert wird und die Wirren der Blockade für sich zu nutzen weiß. Auch Annjas Mutter wird nach Ostberlin gehen, Anfang der siebziger Jahre, als sie die Familie verlässt: ihren Mann, dessen Leidenschaft der Kälte gilt, und ihre Tochter, die sie, eine Eisverkäuferin, eine »Eiskremhure« nannte. Von Anfang an stand kein guter Stern über der Ehe, da die Mutter einen Tag vor Grenz schließung der Berliner Ost-Sektoren 1961 in den Westen der Stadt flüchten wollte, und am Bahnhof den Antrag ihres Mannes erhält, den eine Nacht zu überdenken sie die Freiheit kostet. - Geschichten, wie sie die Politik manchmal schreibt. Dem Metier ihres Mannes schenkt sie weder Glauben noch Anerkennung, und kocht weiterhin das Obst lieber ein anstatt die technische Neuerung der Tiefkühllagerung in Anspruch zu nehmen.30 Jahre war Annjas Vater im sogenannten Kälteinstitut tätig, ganz der Sohn seines Vaters, der einst das Konservierungsverfahren für jene »Blitzkost« erfunden hat, die im Raumschiff Sojus 4 und 5 an Bord sein wird. Annjas Vater wiederum - »er liebte die DDR und haßte ihre führende Partei« - widmet seine Forscherliebe erst jener »Versuchsreihe zur Vakuumgefriertrocknung, die die DDR unabhängiger machen sollte«, und findet dann sein Steckenpferd »auf dem Gebiet der Eiskrementwicklung« - harte Arbeit, in einem Land, dessen Mangelwirtschaft die Produktion auf Pflanzenfett umstellt ... Gröschner schildert dabei die technischen Vorgänge mit einer Ernsthaftigkeit, die ins Parodistische der Realsatire kippt. Und tatsächlich blendet diese Ethnografie der sozialistischen Arbeits- und Lebenswelt, der Gröschner sich bereits in ihren früheren Büchern Jeder hat sein Stück gekriegt (1998) und Durchgangszimmer Prenzlauer Berg (1999) gewidmet hat, über in eine Metapher für einen Staat, der sich gegen den tabuisierten Konkurrenten (West) luftdicht abgeriegelt hat und dennoch, im heimlichen Wettstreit mit ihm, sich selbst zum Label zu erheben suchte.Die Mühen des Vaters werden entlohnt, erfindet er doch das »Moskauer Eis«, Eis mit 12 Prozent Milchfett: »So stellte man sich Eis aus dem Westen vor, und der Stiel war sogar aus Holz. Man konnte, wenn man sie sammelte, Zäune für den Spielzeugbauernhof daraus basteln oder Plastebecher damit umkleben, in die man dann kleine Blumentöpfe oder Stifte hineinstellte.« Wer nichts hat, macht aus allem etwas - ob Annjas Vater, der per Hand überprüfen muß, ob das Eis beim Verkauf noch genießbar war, denn geeignete Kühlfahrzeuge für den Transport fehlten; ob die blütentreibende Kunst der Namens- und Worterfindungen, die auch die Erzählerin zum Lachen bringt: »Kollektiv Elektrofischen für den Rundfischfang« oder das Minikleid »Athen« aus Grisuten-Textur, jenes »Präsent 20, ein Geschenk der Werktätigen der Textilindustrie zum 20. Jahrestag der DDR«.Nichts fehlt in diesem Museum, das einen liebevoll-ironischen Streifzug durch eine untergegangene Welt vollzieht: die Sportbegeisterung, für die Erzählerin der nur schlecht verdeckte Wunsch, einmal auszureisen; die genehmigten Westreisen, die einen zum hochbewachten Luxusgefangenen machten; Jugendweihe und Spitzelakquise derer, die der Staat wegen geringster Versuches, der Staatsdressur zu entgehen, verurteilte. Auch Annja wird aufgrund ihrer Aufmüpfigkeit nicht studieren dürfen und als Eisverkäuferin jenes Eis anpreisen, das ihr Vater erfunden hat: »Moskauer Eis, 12 Prozent Milchfett«.Alle jedoch bekommen bei Gröschner ihr Fett weg: Auch jene Wendehälse, die nach '89 plötzlich das eigene Land und alle seine Hervorbringungen verleugneten, nur noch dem kapitalistischen Marktkalkül huldigten. Für die Großmutter, deren Aufnahme das Krankenhaus verweigert, ist darin ebenso wenig Platz wie für Annjas Vater - der zum Leiter der Abwicklung seines eigenen Institutes ernannt worden war, wie man allmählich aus den Bruchstücken erfährt. - Manchmal schreibt Politik das Leben. Gröschner aber lässt bewusst offen, ob der Vater sich endgültig resigniert von dieser Welt verabschiedet hat oder nur auf wirklich bessere Zeiten hofft: um aufzutauen in einer Post-Wende-Welt.Etwas rätselhaft bleibt auch Gröschners Verfahren, die Kapitel einzuleiten: Von A bis Z, wie Aal bis Zwiebel, erfahren wir dort Hinweise zum Gefrieren, die dem »Lexikon der Kältetechnik« entnommen und schön zu lesen sind, aber eher ästhetische Zierde scheinen. Festzuhalten bleibt: Diese Gröschnersche DDR ist nur am Rande eine von staatlicher Unterdrückung. Das Grauen, das hier rückblickend schockgefroren ist, entpuppt sich als bitter-komische Erkenntnis, dass in diesem Staat immer nur zur falschen Zeit am falschen Ort gelebt werden konnte. Das kann als politische Verharmlosung gedeutet werden. Erzählerisch aber besticht Gröschners Abkehr von dem Beharrungsvermögen auf jener »Wohnzimmer-Mentalität«, in der sich - wie Jan Faktor vor kurzem selbstkritisch schrieb - gerade die frühere kritische nicht-offizielle Literaturszene noch nach der Wende verbarrikadierte: »keine Geschichten! bloß nicht erzählen!« In diesem Sinne ist Mos kauer Eis tatsächlich ein Wenderoman: unterhaltsam - und zugleich Symptom einer (literarischen) Generation, die nun, eine Dekade danach, nochmals zur Debatte stellt, wie über Geschichte geschrieben werden darf.Annett Gröschner: Moskauer Eis. G. Kiepenheuer Verlag, Leipzig 2000, 288 S., 34,- DM
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