Am 24. März 1999 gehen die ersten Nato-Bomben auf Jugoslawien nieder - einen Tag später flieht der serbische Schriftsteller Dragan Velikic aus seiner Heimatstadt Belgrad. Es ist zugleich der letzte Tag, an dem man das Land noch legal verlassen darf. Ein Land, das Velikic nicht aus Gefahr an Leib und Leben verlässt, sondern weil es keine Perspektive mehr für ihn gibt. Denn bis zu diesem Tag, dem 25. März 1999, war er vier Jahre lang Chefredakteur des nun zerstörten regimekritischen Senders Radio B92 - und damit auch Leiter jenes Verlagshauses, das dem Sender angeschlossen war und in dem all jene Literaten ihre Werke veröffentlichen konnten, die - wie beispielsweise Velikic Kollege Bora Cosic - eigentlich persona non grata waren. Velikic selbst verbringt zu
Der Triumph des Bastards
Formen der Emigration Ein Porträt des serbischen Schriftstellers Dragan Velikic
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lbst verbringt zunächst ein Jahr in Budapest, dann geht es weiter nach Wien, seit Sommer 2001 nun weilt er als Gast des DAAD (*) in Berlin. Hier ist nun auch sein neuer Roman Der Fall Bremen erschienen. Bislang wurden seine auf Deutsch vorliegenden Bücher - Via Pula (1991), Stimme aus der Erdspalte, Das Astragan-Fell (beide 1992), Der Zeichner des Meridian (1994) und Dante-Platz (1999) - im Klagenfurter Wieser Verlag publiziert. Von Anfang an umkreisen alle seine Romane ein Thema: das der Emigration vor dem Hintergrund des zerfallenden ehemaligen Jugoslawien. Von der Emigration handelt auch Der Fall Bremen, der wie ein Rebus erzählten Recherche dreier Emigrantengenerationen im geographischen Spannungsbogen zwischen Europa, Russland und Amerika, anhand derer Velikic zugleich verschiedene Formen der Emigration - und ihr mögliches Scheitern - reflektiert: Ivan Bazarov, der Held des Romans zieht sich zurück in totale Indifferenz - laut Velikic die stärkste Bedrohung für ein Regime; sein Vater, dessen Werdegang der Sohn zu rekonstruieren sucht, entschwindet in die Namenlosigkeit dessen, der in den Kriegwirren ´45 als Vermisster gilt; ein weiterer Familienzweig seitens des Großvaters wandert nach Amerika aus. Auffallend viele Schriftsteller bevölkern seine Romane - die vor allem agieren als Archivare des Vergangenen, die den Gang der Geschichte vom Keller aus sichten, wie Damjan, der Magazineur in Dante-Platz. Doch wer in seinen Figuren schlicht Doppelgänger des 1953 geborenen Autors vermutet, liegt falsch. Denn der liebt in seinen Büchern nicht nur das fast unentwirrbare Spiel zwischen Autobiographie und Fiktion. Wo er den Lebensspuren seiner Emigranten nachspürt, kleidet er diese zugleich stets in das vielsagende Paradox der erfundenen Biographie: Ob Bazarov in Der Fall Bremen, ob Marco Delic in Das Astragan-Fell - immer imaginieren die entwurzelten Nachkömmlinge ein mögliches Leben ihrer Vorväter, um jenen Stammbaum zu umreißen, aus dessen Verästelung ihre eigene, nie gesicherte Identität erwächst. Ein Leben in zwei Welten, das Velikic jedoch nicht allein als Verlust, sondern auch als Inbegriff der Möglichkeit erzählt: "Ich bin überzeugt, dass jeder Mensch ein erfundenes Leben führt. Jeder Mensch hat in seinem Kopf einen Erker, in dem ein erfundener Liebhaber, eine erfundene Liebhaberin steckt. Das ist ein ganz normales und daher häufiges Phänomen: ein geheimes, aber erfundenes Leben. Aber wenn uns solch ein Leben die ganze Zeit begleitet, dann nimmt es auch Einfluss auf unser wirkliches Leben. Und mich, sowohl als Leser als auch als Schriftsteller, interessieren die Berührungspunkte zwischen dem erfundenen, imaginierten und dem wirklichen Leben." In seinen Romanen erschafft Velikic diese Berührungspunkte, indem er von Wieder- und Doppelgängern erzählt oder seinen Figuren quasi übersinnliche Fähigkeiten verleiht, mit denen sie Zeit und Raum überbrücken und verbinden. Damit eröffnet er genau jenes existentielle Niemandsland, in dem sich der Emigrant tatsächlich befindet. Denn das ist die Kunst des Romanciers Velikic: als Erzähler zu verführen, und das auch mit Fragen, die politische Existentialia streifen, ohne je die Literatur an das Politische zu verraten. Während er selbst seit über zehn Jahren politische Essays zur Situation seines Heimatlandes verfasst - "eine Art der mentalen Hygiene" - und Mitglied ist in der von Nenad Popovic gegründeten Gruppe 99 zur Vernetzung serbischer, kroatischer, bosnischer und slowenischer Autoren, schimmern der Krieg und der Zerfall Jugoslawiens in seinen Romanen immer nur wie eine Folie durch. Deren Transparenz erlaubt ihm den Verlust einer Welt zu illustrieren, indem er diese verlorengegangene Welt auf ganz eigene Weise noch einmal zum Leben erweckt: "Mich interessiert in der Literatur das, was hätte passieren können, aber nicht passiert ist. Bergson zufolge stellt jeder Schriftsteller seine Literatur aus dem her, was nicht in seinem Leben passiert ist. Ebenso wenig existiert laut Bergson das absolute Vergessen. Erinnerungen aber melden sich vollkommen ungeordnet wieder, ohne jeden Anlass kommt eine Erinnerung wieder an ein Bild, das man vor 20, 30 Jahren erlebte. Ich bin zudem überzeugt, dass die Bilder, die man als Kind gesehen hat und die einem auf den ersten Blick banal erschienen, etwas in einem wachrufen können, das man zu diesem Zeitpunkt noch nicht realisieren konnte, das aber später eine gewisse Form annimmt. Und auch, wenn wir das mental noch nicht begreifen konnten, haben wir mit der Haut bereits sehr wohl die Dramatik einer Situation erfassen können. Und wenn wir darüber reden, dann reden wir eigentlich von den Dingen, den Gegenständen. Ich glaube, dass Gegenstände, die 100 Jahre oder älter sind, auf ihrer Oberfläche Schichten von den Menschen mit sich tragen, mit denen sie zu tun gehabt haben. Mit diesen versteckten Schichten des Lebens aber - einer Art Thriller, der zwischen den Menschen und den Gegenständen besteht - beschäftige ich mich hauptsächlich in meinen Büchern." Tatsächlich scheinen die Dinge manches Mal die eigentlichen Protagonisten in seinen Büchern - beseelte Wesen, die beispielsweise wie in den Romanen des Polen Stefan Chwin eine Art archäologischen Leitfaden abgeben, um die tiefer gelegenen Schichten von Lebens- und geographischen Räumen wie Jahresringe freizulegen. Via Pula beispielsweise - thematisch wie stilistisch eine Art "Wörterbuch", so Velikic, seiner Literatur - ist Geschichtslektion und magisches Panoptikum zugleich über die Geschicke der von Eroberungen und fremden Mächten heimgesuchten Stadt Pula. Das Astragan-Fell wiederum wirft einen Blick hinter die Kulissen der Stadt Belgrad, jenen Sammelort der Entwurzelten, der ebenso oft für das Weltentheater namens Krieg herzuhalten hatte. Es sind gleichermaßen historische wie literarische Ausgrabungen, die Velikic da vollzieht, denen auch sein eher in konzentrischen Kreisen denn linear verfahrendes Erzählen geschuldet ist. Topographie: ohne diesen Begriff ist seine Literatur ohnehin ebenso undenkbar wie ohne den obligaten Baedeker, den all seine Figuren stets mit sich führen. Diese Topographie aber trägt einen eher geistigen Namen: Mitteleuropa. Ob Belgrad, Triest oder Pula - stets bannen die Schauplätze seiner Romane das, was man mediterranes Klima nennen kann: "Obwohl dieser Raum, der Begriff Mitteleuropa in den letzten 10, 15 Jahren an Bedeutung verloren hat, ist er für mich immer noch sehr wichtig", räumt Velikic ein. Dabei verbinde ihn, der zwar in Belgrad geboren, aber im istrischen Pula und damit kosmopolitisch aufgewachsen ist, weder ein bestimmtes Gefühl noch eine bestimmte Erinnerung mit diesem Raum. "Aber Mitteleuropa ist für mich vor allem die Literatur von Schriftstellern, die ich liebe: Broch, Canetti, Musil, ganz besonders aber Italo Svevo." Erfahrungsschichten seien diese Lektüren, die sich nicht nur in ihn, sondern auch in seine eigenen Bücher eingeschrieben haben. Dies gilt gleichermaßen für die Werke von Danilo Kis und Vladimir Nabokov, auf deren Spuren man bei Velikic beständig stößt. Doch verfolgt man den Bogen seiner Bücher von Via Pula nun zu Der Fall Bremen, so scheint sich leise aber merklich ein Abschied anzukündigen: Mitteleuropa wird nicht mehr sinnlich beschworen, sondern eher in Frage gestellt: "Wen interessiert das heute noch?", heißt es bezeichnenderweise an einer Stelle in Der Fall Bremen. Und waren seine Emigranten, wie beispielsweise noch in Dante-Platz - jenem Roman über den Archetypus des mitteleuropäischen Schriftstellers anhand dreier fiktiver Autobiographien - bis dato immer noch in einem anderen Leben angekommen, so scheint genau dieses Ankommen wie ausgestrichen im neuen Roman; nicht umsonst wohl ist eine in ihrem Realismus überraschende Passage eingefügt über den Freitod Walter Benjamins in den Pyrenäen. "Es gibt keine glückliche Emigration", so Velikic. "Der Emigrant, der aus einem Leben heraus getreten ist, wird die ganze Zeit darüber nachdenken, was gerade passiert in dem Leben, das er verlassen hat. Auf diese Weise aber untergräbt man sein eigenes Leben." Velikic selbst ist erstmals im Jahr 2000 wieder in seine Heimatstadt Belgrad zurück gekehrt. Jugoslawien, so schrieb er einst in Die Stimme aus der Erdspalte, seinem scharfzüngigen, klugen Essay zur Situation der dortigen Intellektuellen, sei die "Achillesferse des zukünftigen vereinten Europa". Diese Prognose gilt für ihn noch heute, und das sogar umso mehr: Gerade in Belgrad sehe er den "Triumph des Bastards", eine Mischung von Menschen und Völkern, die er als Ressource der Zukunft erachtet - und die ihm auch den Reiz von Berlin ausmacht. Hier schreibt er derzeit an einem neuen Buch - es handelt von der transsibirischen Eisenbahn - und scheint ein glücklicher Mensch. Aber wer weiß: "Wir sind alle Emigranten, die aus einem möglichen besseren Leben heraus geschmissen worden sind."Das Gespräch mit Dragan Velikic dolmetschte Claudia Busija.(*) Deutscher Akademischer AustauschdientDragan Velikic: Dante Platz. Aus dem Serbischen von Bärbel Schulte. Wieser-Verlag, Klagenfurt 1999, 384 S., 24,-EURDragan Velikic: Via Pula. Literaturschauplatz Pula. Roman. Aus dem Serbischen von Astrid Philippsen. Wieser-Verlag, Klagenfurt 2000, 227 S., 12,95 EURDragan Velikic: Der Fall Bremen. Roman. Aus dem serbischen von Bärbel Schulte. Ullstein Berlin Quadriga, Berlin 2002, 237 S., 20 EUR
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