Schwulst

CARE SANTOS Die Autorin fabriziert Geschlechterklischees

Alondra tanzt den Tango - zum letzten Mal in Buenos Aires in einer Nacht im Jahre 1929. Von heute auf morgen legt sie ihre erfolgreiche Karriere als Bühnentänzerin nieder, sagt alle Tourneen ab, zieht sich mit Adoptivtochter Angelina zurück in ein Haus am Rande ihrer Geburtsstadt Barcelona. Keine Interviews. Ihr Zimmer verlässt sie nur zum Essen, eine Schneiderpuppe trägt fortan allwöchentlich eins ihrer zahlreichen Kostüme.

Erst gegen Ende ihres voluminösen Romans lüftet Care Santos, eine junge spanische Autorin, das Geheimnis. Als ob sie ahnte, dass sie diesen Köder für die Lektüre eines Buches benötigt, das vieles sein will - unterhaltsame und wie aus dem Leben gegriffene Darstellung eines Frauenlebens im Zeitkolorit jener zwanziger Jahre der Bühnen- und Kleinkunstwelt in Barcelona - aber vor allem eines ist: ärgerliche Klischeeproduktion. Die vielen Frauen dieses Buchs bleiben idealtypische Figurinen in einer Männerwelt - mal Hure, mal Ehefrau, mal aufopfernd, mal libidinös.

Von kritisch-reflexiver Rollenprosa ist Santos weit entfernt; da hilft auch nicht die alternierende Erzählstruktur zweier Stimmen, die in Rückblenden die Geschehnisse der Jahre 1910 bis 1918, 1929 und 1935 Revue passieren lassen: Denn während es Angelina zukommt, die tragische Geschichte Alondras - ein ›Ich‹ wird ihr wie allen Musen bis zu ihrem Abgang als Leiche nicht zugestanden - zu erzählen, sprudelt die zweite Stimme über von jenem Leben, in dem die Frauen zum Vergnügen der Männer erdacht worden sind. Es ist die Stimme Gaspar Montesinos, eines Arbeiters, der in der Nacht zu seinem 23. Geburtstag Alondras Debut als Tänzerin miterlebt und ihr für immer bis zur Obsession verfällt. Reißerisch wird das beschrieben, die Autorin verwechselt fortwährend enthüllende mit sensationsheischender Sprache. Und natürlich ist Rosario, die Hure, die Gaspar in dieser Nacht in das Reich der Liebe einführt, ein witziger und geistreicher Kumpel, mit der ihn bald eine unzertrennliche Freundschaft verbindet, die mit ihrem Tod enden wird, just in dem Moment, da er sie zu heiraten gedenkt, denn davon hat sie eigentlich ihr Leben lang geträumt; und natürlich ist seine Zukünftige, Lola, eine zickige Ehefrau.

Klischees bestimmen die Figuren, auch Gaspar: 1929, zwanzig Jahre nach jenem ersten Blick auf Alondra, wird er nach 22 Tagen Blumen- und Süßigkeitenübergabe und elf Tagen Dauerbelagerung vor ihrem Haus ihr Gärtner - um alsbald nicht nur jenen Ehemann und Quälgeist im Garten zu vergraben, der Alondras Unglück verschuldet und den sie in ihrem Haus ermordet hat, sondern Gaspar geht für sie nach falschem Geständnis auch ins Gefängnis. Wie aufopfernd doch wahre Liebe sein kann. Doch leider nur in Romanen wie diesem, triefend vor Kitsch und wenig daran interessiert, was Frauen mit ihrem Leben warum machen (oder auch nicht). Dafür erlebt man, dass auch Geschlechterklischees - der gedankliche Anfang von Sexismus - nicht allein als Frage des biologischen Geschlechts gedacht werden dürfen.

Care Santos, Alondra tanzt den Tango, Kindler Verlag, München 2000, 395 S., 39,80 DM

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