Zwei Eindrücke bestimmen die Berichterstattung über die Ereignisse in Libyen. Zum Ersten ist da seit Wochen das Bild eines massenhaften Aufstands fast einer ganzer Bevölkerung: hartnäckig und radikal, mit dem Mut der Verzweiflung gegen den Größenwahn und die Gewalt der Despotenfamilie, seiner mit Waffen des Westens hochgerüsteten Truppen und eingekaufter Söldner. Seit dem vergangenen Wochenende heißt es Bürgerkrieg. Das zweite Motiv findet sich in den Bildern der Hunderttausenden, die vor den bewaffneten Kämpfen fliehen.
Der Typus des Flüchtenden steht dem Typus des Aufständischen, wie häufig in bewaffneten Konflikten, gegenüber. Sonst handelt es sich dabei um Frauen, Alte, Kranke und Kinder. Die Bilder von den libyschen Grenzen nach Ägypten und Tunesien jedoch zeigen eine anders zusammengesetzte Massenfluchtbewegung. Die Flüchtenden sind mehrheitlich Männer, die meisten im Alter zwischen 20 und 50 Jahren. Sie sind keine Libyer, sie kommen aus Ägypten, Marokko, Bangladesh, China. Sie sind aus Ghana, Mali, Tschad, Niger, Mali und anderen Ländern der Sub-Sahara, vor allem den westafrikanischen Staaten. Sie sind das Ergebnis von Muammar Gaddafis Arbeitsmarktpolitik.
Es ist dieses Abbild der innerafrikanischen Migration, was so vehement wie nie zuvor in die Wohnzimmer der still staunenden Demokratie-Abonnenten drängt, die doch eigentlich nur dem maghrebinischen Frühling applaudieren wollen. Der nämlich, so wird unterstellt, will schließlich, dass sich in den Ländern selbst etwas verändert. Er wird damit zum Gegenentwurf des sich hartnäckig haltenden Bildes einer drohenden „Überflutung“ durch die „irregulären Flüchtlingsströme biblischen Ausmaßes“, das die Propagandamaschine Gaddafis und der EU-Regierungen gleichermaßen kolportierten – und sie tun es nach wie vor.
Der Aufstand wird vor allem demjenigen zu etwas uneingeschränkt Gutem, der sich nicht eingestehen mag, dass einem das Bild der Menschen in Flüchtlingszelten, auf Decken oder der blanken Erde doch irgendwie unangenehm ist. Denn, gesetzt den Fall, sie würden jetzt doch, verzweifelt, wie sie sind und auch das nur allzu verständlich, allesamt ins Meer springen und nach Europa schwimmen: Wer kann schon garantieren, dass sich ihre Wut nicht doch gegen des Westens höchstes Gut – das Recht auf Eigentum und einen gewissen Wohlstand – richtet? So dreht sich der Wind nur um ein Leichtes, man suggeriert Verständnis und will doch weiterhin nichts damit zu tun haben.
Afrikaner der sub-saharischen Länder ausgeschlossen
Es zeugt von der westlichen Ignoranz, wie sich hier die intellektuelle Hoffnungsträgersuche und die liberal-bürgerliche Rettungs(wester)welle gleichen. Es ist vor allem peinlich. Der Anspruch auf Freiheit und Demokratie müsse sich daran messen lassen, wie der Umgang mit denjenigen ist, die auf dem Weg der Migration dieselben Rechte für sich einfordern, heißt es sinngemäß in einem kursierenden Aufruf aus migrationspolitischen Netzwerken.
Die Aufstandsbewegungen im Maghreb haben ihren Ausgang in „Hungerrevolten“, in denen es zuvorderst um ein „besseres Leben“ geht. Aber dieses „bessere Leben“, nimmt man den europäischen Entwurf zum Vorbild, wird in der Regel auf dem Rücken derjenigen ausgetragen, die sich aus der Logik der Verwertung am schwersten befreien können. Bestärkt durch einen rassistischen Blick, der herrührt aus einer zutiefst kolonialen Erfahrung und Prägung, sind es daher auch im Moment des Aufbruchs der nordafrikanischen Länder wieder die Afrikaner der sub-saharischen Länder, die bis auf weiteres davon ausgeschlossen sein werden.
Ihre Situation hat sich seit dem Beginn der gewalttätigen Kämpfe zwischen Aufständischen und Gaddafi-Anhängern dramatisch verschärft. Tausende von ihnen, die versuchen, vor der Gewalt in Libyen zu fliehen, sind an der tunesischen Grenze und in den von Gaddafi-Gegnern besetzten Städten gestrandet. Laut der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch wurde mindestens 4.000 von ihnen der Grenzübertritt nach Tunesien verwehrt, andere werden inmitten der Kämpfe auf den Straßen Libyens zum Ziel von gewalttätigen Angriffen. Sie werden attackiert als Gaddafis Söldner, sie werden gezwungen, Gaddafis Söldner zu sein. Wenn sie von der Angst um ihr Leben berichten, taucht allerdings eines nicht auf: der rettende Ausweg Europa.
Denn obwohl sie in Libyen seit jeher regelmäßig beschuldigt werden, für steigende Kriminalität, übertragbare Krankheiten und soziale Brennpunkte verantwortlich zu sein, obwohl sie bereits in den letzten Jahren immer wieder Ziel brutaler und tödlicher Angriffen geworden sind: „Die wenigsten afrikanischen Migranten in Libyen sind tatsächlich auf dem Weg nach Europa“, sagt der Migrationsforscher Hein de Haas der Universität Oxford. Ihr besseres Leben beginnt und endet meist diesseits ihrer Herkunftsländer, aber jenseits von Europa. Es ist gut, dass die Bilder der Flüchtlinge in Libyen der afrikanischen Migration Gesichter geben, auch wenn viele in der Anonymität bleiben werden. Ihre Stimmen jedoch sollen weiterhin nicht gehört werden.
Und was auch immer in Libyen in den nächsten Wochen geschehen und welche Ergebnisse es beim EU-Afrika-Gipfel am 11. März auch geben wird: Damit wird sich an ihrer Situation der Entrechtung und Unterdrückung nichts ändern. Die Millionen Flüchtlinge Richtung Europa – es wird sie nicht geben. Beruhigend wäre nur, wenn das nicht als Beruhigung verstanden würde.
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