Ein Leben im „Legal Limbo“

Im Gespräch Ein Gespräch mit Hein de Haas vom International Migration Institute (IMI) der Universität Oxford über Einschluss und Ausschluss in Afrika und Europa

Der Freitag: Sind die afrikanischen Arbeitsmigranten in Libyen ein Sinnbild für die Binnenwanderung auf dem Kontinent?

Hein de Haas: Nein. Libyen ist im Vergleich zu anderen afrikanischen Ländern ein wich­tiges Ziel für afrikanische Migranten, weil Gaddafi e ine sehr aktive „Einladungs­politik“ betreibt, die sich seit den neunziger Jahren auf die Länder südlich des Sahel, vor allem auf den westafrikanischen Raum konzentrierte.

Große ausländische Firmen, vor allem aus der Türkei und China, bringen ihre eigenen Arbeiter mit. Migranten der Sub-Sahara verrichten die niedrigsten Arbeiten, vor allem im Bau, in der Land­wirtschaft, in der Ölindustrie, Dienstleistung – alles in­formelle Bereiche. Sie haben ­in diesen Jobs keinen offiziellen Status und können damit ungehindert ausge­beutet werden.

Wie ist die Lage in anderen nordafrikanischen Ländern?

Die informellen Arbeiter sind in allen Ländern fast immer in einem technischen Sinn „illegal“ und deshalb auch über­all die verletzlichste Gruppe, ob durch Attacken der Polizei, durch willkürliche Ausbeutung ihrer Arbeitgeber, durch Rassismus. Ein wesentlicher Unterschied besteht in den Zahlen. In Libyen gibt es mindestens eine Million Arbeiter aus der Sub-Sahara, in Marokko nur einige Tausend. Vergegenwärtigt man sich die Bevölkerungszahlen – Libyen hat insgesamt sechs Millionen Einwohner – ist das entscheidend. Je reicher ein Land, desto mehr Migranten braucht und hat es.

Warum gibt es so viele Migran­ten in Libyen, wenn die Arbeitslosigkeit dort so hoch ist?

Es ist einigermaßen ähnlich wie in Europa: Viele wollen Jobs, die Arbeitsmigranten machen, nicht verrichten. In Marokko gibt es viel weniger Arbeiter, weil Marokko ein ärmeres Land ist. Die Situation vieler Migranten in Libyen ist so verheerend, weil die Nichtachtung von Menschenrechten mit der sehr hohen Zahl derjenigen, auf deren Arbeitskraft das Land aufbaut, zusammenfällt. Weiterhin unterscheiden sich die Gründe der Migration nach Marokko, Tunesien oder Algerien. In diese Länder kommen Migranten auch, um zu studieren. Arbeiter findet man im Bau­gewerbe, in den Häfen, auf den Märkten. Frauen arbeiten vor allem als Haus­angestellte und Putzkräfte.

Der dritte Unterschied: Libyen hatte nie Schwierig­keiten damit, Menschen auszunutzen, aber auch nie damit, sie wieder auszuweisen. Die meisten nordafrikanischen Länder haben dies bislang verweigert. In Libyen wurden hingegen spezielle Lager zur Internierung eingeführt. Und noch einmal zum Rassismus – die Situation in anderen nord­afrikanischen Ländern ist nicht gut, aber gewalttätige Ausschreitungen gegen afrikanische Migranten wie in Libyen im Jahr 2000 hat es dort nicht gegeben.

Kann man überhaupt von Migrationspolitik in Nordafrika sprechen?

Sicher, Gaddafis Arbeitsmarktpolitik ist das beste Beispiel. Es gibt Asylgesetze, nur werden sie den Einwanderungsbewegungen nicht gerecht. Die meisten Migranten der Sub-Sahara sind offiziell nicht gewollt und befinden sich in einem permanenten „Legal Limbo“.

Ohne legalen Status sind sie oft sozial ausgeschlossen. Im Gegensatz zu europäischen Ländern gibt es in Nordafrika nicht einmal eine Debatte um soziale Absicherung. Auch die aktuelle Flüchtlingssituation in der Region kann deshalb zu einem großen Problem werden. Arbeits- ist auch immer soziale Migration. Viele Menschen bleiben in den Ländern. Es gibt keine Politik wie in Europa, die Arbeits­migration zeitlich festlegt.

Dennoch dominiert in Europa das Bild vom „afrikanischen Wirtschaftsflüchtling“, der dauerhaft bleiben will.

Die meisten Migranten, die in Europa arbeiten, kommen aus dem Maghreb. Der Anteil von afrikanischen Migranten der Sub-Sahara ist dem gegenüber gering. Das hängt mit der langen Geschichte nord­afrikanischer Einwanderung nach Europa zusammen – nach Holland, Frankreich, Belgien, Spanien, Italien.

Es gibt geografische Gründe – zwischen Spanien und Marokko liegen nur 15 Kilometer. Es gibt die Beziehungen zwischen nordafrikanischen Ländern und ihren früheren Kolonialstaaten.

Und: Die europäischen Länder können sich Migration leisten und brauchen Arbeiter im Niedriglohnsektor. Die Verbindungen, die wider besseres Wissen konstruiert werden, sind wirkungsvoller als diese Fakten. Das Bild von den Booten, die auf Lampedusa ankommen und den vielen Flüchtlingen, die sich jetzt zwischen Tunesien, Ägypten und Libyen bewegen, löst dann aus: „Diese vielen Menschen, die da gerade flüchten, könnten auch versuchen, nach Europa zu kommen.“ Aber die meisten Flüchtlinge wollen im Moment nur nach Hause.

Warum nimmt das niemand wahr?

Die Idee von der massiven Migration per Boot gibt es schon seit den neunziger Jahren, als die EU-Länder ihre Visa-Politik durchsetzen mussten. Nütz­liche Arbeitsmigration sollte es aber weiter geben. Die Zahl der Menschen, die über das Mittelmeer kommen, war in den letzten Jahren unterschiedlich hoch – 20.000, vielleicht auch mal 40.000. Das ist nur ein Bruchteil der Migration nach Europa, deshalb ist die Idee einer „Überflutung“ ohne Grundlage.

Weil viele afrikanische Länder so arm sind, haben die meisten Menschen nicht das Geld zu migrieren. Diejenigen, die es doch versuchen und können, richten sich dabei nach der Arbeitsmarktsituation in den europäischen Ländern. Es gibt keine Externalität des ökonomischen Geschehens in Afrika, es ist eng mit dem in Europa verbunden. Der eurozentristische Blick blendet die zentrale Rolle von Migra­tion für die Ökonomie aus.


Hein de Haas
forscht am International Migration Institute (IMI) in Oxford zu den Verbindungen von Migration und weltweiten Entwicklungsprozessen. Seine Untersuchungen führen ihn hauptsächlich in den Mittleren Osten und die Länder Nordafrikas.



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