Locarno im August, das ist Sommerschwüle über einem schläfrigen Tessiner Renaissance-Städtchen. Abends weht frischer Wind von den Bergen die steilen Kieselsteingassen herunter, so dass der Lago Maggiore zu Füßen des Städtchens sogar richtige Wellen schlägt. Dann sitzen angeregt schwatzende Menschen vor den Lokalen, meist an der um den Hals baumelnden Dauerkarte als Filmfestivalbesucher erkennbar. Locarno ist seit 58 Jahren Reiseziel für Cineasten, die vor allem aus den Schweizer Kantonen, dem nahegelegenen Italien und Frankreich kommen. In diesem Jahr war jedoch der Blues als Grundstimmung unverkennbar.
Die Bankenfonds haben das Immobiliengeschäft mit Zweitwohnungen für reiche Deutschschweizer erkannt. Sie kaufen auch prosperierende Hotels auf und wandeln sie um. Das über hundert Jahre alte Hotel Reber au Lac wird im Oktober schließen, zwei weitere sind schon zu, das berühmte Grand Hotel, ein pompöser Kasten über dem See und die Wiege des Filmfestivals, wartet in Agonie auf Investoren. Vielleicht zum letzten Mal trafen sich Presseleute, Festivalmacher und Filmkünstler auf der Terrasse zum Plauschen.
Ein resignierter Abschied auch für die italienische Filmkritikerin Irene Bignardi, die das Festival als Vorzeigefrau fünf Jahre lang geleitet hat. Ein Knochenjob war das, den konkurrierenden A-Festivals Berlin, Cannes und Venedig Filme für das freundliche Tessiner Sommerfest abzujagen. Viele Verdienste um neu entdeckte Filmregionen wie etwa das indische Bollywood, Ostasien oder Nordafrika hat sich die vielseitig interessierte Cineastin Bignardi erworben, aber gegen die Macht der Filmmessen kam sie nicht an. "Are You a buyer?" fragte der nette Produzent des japanischen Films Der Masseur jeden Besucher des Festivalzentrums. Dass zu wenige oder zu kleine Verleiher den Weg nach Locarno finden, spricht sich trotz Irene Bignardis Networking weltweit unter den krisengeschüttelten Produzenten herum.
Und so ist die Festivalchefin an dem Widerspruch gescheitert, Locarnos Stern zum Sinken gebracht zu haben, obwohl die Publikumszahlen wieder Rekorde erreichten. Wenn pünktlich um 21.30 Uhr ein Scheinwerfer die Turmuhr der Stadtkirche erfasste, ihr Bild auf der riesigen Leinwand an der Nordseite des Hauptplatzes von Locarno erschien, dann saßen Tausende von Filmfans dicht gedrängt davor und warteten auf ihren Abendspaß. Dabei zu sein, wenn Sam Shepherd in Wim Wenders Don´t come knocking durch die mythischen Kinolandschaften von Utah reitet, und dabei den Bergwind und den reichlichen Zigarettenqualm, überhaupt die angeregte Publikumsmenge auf der Piazza Grande zu spüren, das macht den Mythos von Locarno aus. Hier kommt ein Leinwandepos wie Zaina - Cavalière de L´Atlas des Algeriers Bourlem Guerdjou, das im Rahmen der diesjährigen Reihe zu Filmen aus dem Maghreb lief, so richtig zur Geltung. Wenn das halbwüchsige Mädchen Zaina Dramen provoziert, weil es sich als Reiterin durchsetzt, und der Sound der hitzigen Berber-Pferderennen von den umliegenden Hauswänden wiederhallt, ist das grandioses Sommerkino. Soll Locarno Open-Air-Event für die Masse oder Impulse setzendes A-Festival sein? Die angereisten Kritiker bemängelten, was die Filmtouristen vielleicht freute: Die Hälfte der Piazza-Grande-Hits waren Klassiker. Das Festival ist in Gefahr, seinen Neuigkeitswert zu verspielen.
Die Krise schwelt seit langem. Vielleicht hat man auch wegen der verfahrenen Situation einer Frau das Feld überlassen. In ihrer Amtszeit reagierte Irene Bignardi mit immer neuen Coups, Sektionen und Preisen. Eine außergewöhnlich umfangreiche Orson-Welles-Retro spannte die Fans von morgens bis abends ein. Internationale Videofilme, die Schweizer Jahresproduktion, diverse Kritiker- und Nachwuchssektionen bilden eigene Parallelwelten innerhalb des Festivals, wie um die Abwesenheit großer Stars und die Schwächen des Wettbewerbs zu verdecken.
Fünf Ehren-Leoparden wurden vergeben, aber nur Wim Wenders brachte kurz vor dem 60. Geburtstag seinen neuen Film mit und bedankte sich für den Schlüsselerfolg von Paris, Texas vor zwanzig Jahren. Anders Susan Sarandon und John Malkovich: Sie erhielten "Excellency Awards", erzählten unterm eleganten Pressezelt gelassen aus ihrem Leben, aber ihre neuen Filme wird man erst in Venedig sehen.
Nine Lives, der letzte Film des Wettbewerbs, gewann den Goldenen Leoparden wohl auch, weil darin endlich Stars wie Sissy Spacek, Holly Hunter und Glenn Close auftreten. Rodrigo Garcia - ein Sohn von Gabriel Garcia Marquez -, der unter anderem die TV-Serie Die Sopranos drehte, erzählt darin neun Episoden aus dem Leben von Frauen, quer durch die Ethnien, Generationen und sozialen Schichten Kaliforniens. In diesen gemächlichen, zu betulich und sentimental daher kommenden Shortcuts, die alle mit insistierender Kamera in Plansequenzen gedreht wurden, geht es die emotionale Macht von Erinnerungen, um die kleinen Dramen, die aus dem Widerspruch zwischen Familienverantwortung und individueller Entfaltung hervorbrechen. Am Schönsten war es, Robin Wright Penn zuzuschauen, wie sie - schwanger - im Supermarkt ihren einstigen Lebensgefährten wiedertrifft, wie sie von ihren schwankenden Gefühlen mitgerissen beginnt, seine spontanen Bekenntnisse ernst zu nehmen, wegläuft und wieder nach ihm sucht, nur um fest zu stellen, dass sie ihn endgültig verloren hat. Pointierte Schauspielerübungen in einem formal bemühten Projekt - viele Locarno-Beiträge dieses Jahres verbargen den Mangel an Kraft und Originalität des Erzählten hinter ihrem Manierismus.
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