Zwei der wichtigsten Philosophen der Gegenwart, Jacques Derrida und Jürgen Habermas, haben vor rund acht Wochen mit einem gemeinsam veröffentlichten Text Unsere Erneuerung. Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas eine Diskussion um die Zukunft Europas angestoßen. Andere renommierte Intellektuelle wie Umberto Eco, Gianni Vattimo (s. Freitag 24, 2003), Richard Rorty, Adolf Muschg und Fernando Savater haben sich ebenfalls eingebracht. Allen geht es um die Stärkung Europas angesichts einer US-amerikanischen Politik, die deutlich unilaterale Züge trägt und Prinzipien des internationalen Rechts in Frage stellt.
Die Einwürfe sind allein schon deshalb wichtig, weil viele Intellektuelle sich gegenwärtig in Politikferne gefallen und die Vertretung der gemeinsamen Sache eher unter der ästhetischen Kategorie des Unappetitlichen fassen. Einmischung tut not. Die philosophische Reflektion dessen, was uns alle betrifft, ist unabdingbar für ein demokratisches Gemeinwesen, das dem besseren Argument immer wieder praktisches Gewicht verschaffen muss.
Das von Habermas verfasste und von Derrida mit unterzeichnete Papier ist auch deshalb bemerkenswert, weil sich hier die Exponenten zweier bisher deutlich konkurrierender Denkströmungen zusammentun. Grüne Politik kann von beiden viel lernen. Habermas liefert wie kaum ein anderer das normative Rüstzeug einer rationalen und demokratischen Willensbildung. Derrida als subtiler Denker der Differenz hat uns immer wieder mit jener "Andersheit" konfrontiert, die von der politischen Maschine nur zu leicht zerrieben wird. Gespür für Vielfalt und demokratische Prozeduren - grüne Politik lebt ganz unmittelbar von dieser Konstellation.
In ihrem Papier fordern Habermas und Derrida ein "avantgardistisches Kerneuropa", das als Lokomotive des weiteren europäischen Einigungsprozesses den "hegemonialen Unilateralismus" der USA ausbalancieren soll. Dieses Kerneuropa soll die heute schon enger kooperierenden EU-Mitgliedsstaaten umfassen, der Verbindung von Deutschland und Frankreich ist dabei wohl eine besondere Rolle zugedacht. Großbritannien, die mittelosteuropäischen EU-Beitrittskandidaten und die Türkei zumal bleiben außen vor.
Der hier vorgetragenen Vision hat die Wahrnehmung des Irak-Kriegs in Europa zu ihrem Hintergrund, die "bleiernen Monate" vor dem Krieg ebenso wie die Demonstrationen gegen ihn - den größten in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Mobilisierung der europäischen Bevölkerung gegen den Krieg könnte dem Papier zufolge als "Signal für die Geburt einer europäischen Öffentlichkeit" in die Geschichtsbücher eingehen. Vor allem aber zeigt sich in den Thesen zu einer eigenständigeren, von einem avantgardistischen Kerneuropa getragenen Politik ein Widerspruch zu Donald Rumsfelds Unterscheidung zwischen einem "alten" und "neuen" Europa. Nach Rumsfeld soll diese Unterscheidung ja an der Kritik beziehungsweise Unterstützung der gegenwärtigen US-Politik festzumachen sein: Das Neue befindet sich immer ganz in seiner Nähe - Gute Nacht schlafmütziges Resteuropa!
Die US-Regierung hat mit ihrer Politik in den letzten Monaten nicht nur einen falschen Weg beschritten, sie hat zugleich auch viel diplomatisches Porzellan zerschlagen - vielleicht in der Meinung, dass letzten Endes pure Macht den Ausschlag gibt. Die Tagesparolen, mit denen die Mitglieder der Administration die Weltöffentlichkeit unisono auf ihre Linie einzuschwören gedachten ("time is running short", "this is a dying regime"), erreichten Europa in denkbar hohler Klanggestalt. Vor allem hat die US-Regierung aber für großen Unwillen bei jenen europäischen Völkern gesorgt, deren Regierungen glaubten, in einer "Koalition der Willigen" mittun zu müssen. Rumsfeld und die seinen spielen ein wackliges Spiel.
Das Papier von Derrida und Habermas beschreibt, was an der gegenwärtigen US-Politik unerträglich ist. Eine Schwäche des Papiers besteht darin, dass die Gegenvorschläge die kritisierte Politik zu sehr spiegeln. Macht es Sinn, die Phrase vom "alten Europa" dadurch aufzugreifen, dass man den insinuierten Staaten und Völkern negativ-symmetrisch den Status von Trägern eines avantgardistischen Kerneuropas verleiht? Auf welche Konstruktion lässt man sich ein, wenn "Unsere Erneuerung" einer solchen Umkehrung der Vorzeichen entspringen soll? Trägt diese Umdeutung nicht dazu bei, dem Spiel von Rumsfeld Co überhaupt erst jene Evidenz zu verleihen, die es für sich beansprucht? Das Problem von Rumsfelds Äußerung ist nicht so sehr ihr unmittelbarer Gehalt, sondern die Gefahr, dass sie zur "selffulfilling prophecy" wird. Sie liefert die mögliche Matrix einer Spaltung Europas, die uns, vermittelt durch eine falsche Negation, von einem eigenständigeren Europa nur noch weiter abbringen könnte.
Habermas und Derrida plädieren zurecht für eine eigenständigere europäische Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik in einem Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten. In ihrer Vision sollen die Initiativen eines Kerneuropa eine Dynamik entfachen, der sich dann auch die zögerlicheren Staaten anschließen können. Die salvatorische Klausel: "Das avantgardistische Kerneuropa darf sich nicht zu einem Kleineuropa verfestigen", die sich in ihrem Text findet, benennt dabei auch das Problem. Wir stehen vor einer langwierigen und komplizierten Vermittlungsaufgabe, in der wir nicht nur mutig neue Schritte gehen müssen - die neue Qualität der deutsch-französischen Beziehungen, die sich in den letzten Monaten abzeichnet, macht uns hier Hoffnung - wir dürfen auch kein EU-Land auf der Strecke lassen. Viel wird hier davon abhängen, ob Deutschland eine Vermittlerrolle übernehmen und ihr gerecht werden kann.
Die Osterweiterung ist die nächste große Chance. Deutschland rückt damit auch geographisch in die Mitte der EU. Es gilt, den vielen Millionen Menschen aus den Beitrittsländern offen zu begegnen und sie nicht als Angehörige von möglichen Spalterländern beargwöhnen. Sie haben eine eigene Sicht der europäischen Geschichte, eigene Ängste und Hoffnungen. Die Beitrittsländer bringen sich ein in den gemeinsamen Wirtschaftsraum, ihre Ökonomien müssen sich einspielen auf eine hochkomplexe Arbeitsteilung. Ihre Vertreter werden Sitz und Stimme haben in den Gremien der EU. Allen Beteiligten steht ein langwieriger Anpassungsprozess bevor. Die Probleme, die sich daraus ergeben werden, sind groß genug. Doch die ist Osterweiterung nicht nur Mühe und Last, sie kann und sollte für alle auch lustvolle Selbsterweiterung sein. Ich freue mich auf die Künstlerinnen und Künstler, die einen vitalen Beitrag zu dem leisten werden, was in den nächsten Jahren und Jahrzehnten immer stärker als gemeinsame europäische Kultur erfahrbar sein wird. Ich freue mich auf die vielen jungen Menschen aus den Beitrittsländern, die mit ihrer moralischen und ästhetischen Sensibilität dazu beitragen werden, unserem Alt-Neu-Europa wirklich neue Perspektiven zu erschließen.
Keinen Platz hat bei Habermas und Derrida auch ein noch viel komplizierteres Problem: Der Beitritt der Türkei zur EU. Die Spannweite dessen, was an kultureller Differenz in ein gemeinsames Europa einzubeziehen sein wird, erweitert sich hierdurch noch einmal deutlich. Entsprechend werden ja auch mit Blick auf die Türkei Forderungen laut, die Erweiterungsdebatte zu beenden. Der Fokus fällt dabei nicht auf ein Kerneuropa, sondern auf ein Europa, das sich in dunkler Geschichtsahnung abgrenzt gegen etwas, das sein kollektives Unbewusstes bereithält - Bilder vom "Hunnensturm" oder den "Türken vor Wien". Diffuse Angst vor dem Fremden wird zur Triebkraft in einer Einigungsperspektive, die glaubt, sich einer "Substanz" Europas versichern zu können - der Einigungsprozess exekutiert, was europäische "Wesensbestimmung" sein soll.
Solche Ansätze zu einem europäischen "Ursprungsdenken" und zur Resubstantialisierung der Politik sind wenig europatauglich. Man kritisiert sie am besten mit Überlegungen, die an anderer Stelle bei Habermas und Derrida zu finden sind. Die entsprechenden Denkmodelle scheitern aufgrund ihrer problematischen Voraussetzungen bereits in dem Kontext, auf den sie zugeschnitten sind - bei einem Europa, das sich abgrenzen soll gegen eine wesenhaft "uneuropäische" Nachbarschaft. Die Trennlinien, die hier gezogen werden, sind für eine Jugend, die eine Pluralität von Kulturen erfährt und lebt, nur noch schwer nachvollziehbar. Die Prozesse der Überlappung und wechselseitigen Durchdringung der Kulturen sind weiter gediehen als manch schwachbrüstiges Europaprojekt konservativer Provenienz es sich vorzustellen vermag.
Jean Monnet hat einmal gesagt, dass er, wenn er den europäischen Einigungsprozess noch einmal auf den Weg zu bringen hätte, mit der Kultur beginnen würde. Kultur ist neben Politik und Wirtschaft ein dritter großer Integrationsfaktor des Gemeinwesens. Vor dem Hintergrund der aktuellen Erfahrungen ist es eigentlich merkwürdig, dass wir einer europäischen Kulturpolitik so wenig Spielraum gewähren. Nur der Bruchteil eines Prozentpunkts im europäischen Etat ist für kulturelle Zwecke bestimmt!
Das Papier von Habermas und Derrida benennt Elemente, die in eine gemeinsame kulturelle Identität einfließen könnten. Vieles ist hier bedenkenswert. Etwa die besondere politische Sensibilität, die sich daraus ergeben kann, dass alle großen europäischen Nationen "Abstiegserfahrungen" hinter sich haben. Der Verlust an imperialer Macht könnte Verlockungen zu einer erneuten imperialen Selbstüberhebung entgegenwirken. Die besondere Rolle der Menschenrechte und insbesondere der Verzicht auf die Todesstrafe als Beitrittsbedingung zur EU markieren wichtige normative Aspekte der europäischen Identität. Doch gerät an dieser Stelle des Papiers manches etwas baukastenhaft. Menschenrechte und rechtliche Bindung von politischer Macht sind unabdingbar, die weitergehende kulturelle Identität Europas ist aber nur schwer planbar. Wenn wir Europa bauen wollen, dann müssen wir den Mut dazu haben, uns auf das Spiel von Differenzen einzulassen, das für Derrida so wichtig ist. Europa ist kein Fixum, sondern ein komplexer und unabschließbarer Kommunikationsprozess. Die Erneuerung Europas muss dabei auch dem Überraschenden Raum gewähren. Die Haltung, mit der wir aufeinander zugehen, wird mit darüber entscheiden, ob und wie schnell uns die Erfahrungen, die sich dabei ergeben, auch kulturell weiter zusammenführen.
Grüne Politik muss als Regulativ dabei immer wieder ein Gespür für das Spannungsverhältnis von Universalismus und Differenz einbringen. In der weiteren europäischen Einigung müssen wir die Perspektive der Gleichheit und der Gleichbehandlung vertreten, aber so, dass sie die Differenzen, die sich aus besonderen Lebensgeschichten und kulturellen Zugehörigkeiten ergeben, nicht abstrakt überspielt. Auf dem Weg nach Europa benötigen wir einen Universalismus, der das Recht des Besonderen und Einzelnen nicht aussticht. Es handelt sich hier um ein langfristiges, schwieriges, manchmal auch aporetisches Projekt. Nicht zuletzt deshalb lesen wir Habermas und Derrida!
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