Mittagspause im Park

Kehrseite I Nie hätte Peter W. ahnen können, dass ausgerechnet heute, in einem Leben, das von Schnitzel geprägt war mit Kartoffelsalat, Rasenmähen und der ...

Nie hätte Peter W. ahnen können, dass ausgerechnet heute, in einem Leben, das von Schnitzel geprägt war mit Kartoffelsalat, Rasenmähen und der Sportschau, eine Polaroid und andere Dinge eine größere Bedeutung bekommen sollten.

Peter W. saß auf einer Parkbank und beobachtete, nein, er sah es einfach, wie lauter loses Laub, einer Parade gleich, an ihm vorbei wirbelte. Es war Mittagspause, und so saß er eben von Montag bis Freitag mit Ausnahme aller Urlaubs- und Feiertage bei seiner Mittagspause im Park, auf dieser, ja, wie er meinte, seiner Parkbank.

Während er den Blättern nachsah, sog er immer wieder an einem Strohhalm. Nicht, dass er bewusst gesund leben wollte; bewusst wollte Peter W. bis zu diesem Tag ohnehin nur sehr wenig. Aber Mutter hatte vor Jahren schon begonnen, ihm für seine Mittagspause Buttermilch und einen rohen Kohlrabi in die Aktentasche zu stecken. Um der Gesundheit willen. Peter W. interessierte dies jedoch nicht weiter. Aber was tut man nicht alles seiner Mutter wegen, und so sog er also jeden Mittag von Montag bis Freitag mit Ausnahme der Urlaubs- und Feiertage am Strohhalm, der in die Buttermilch führte, und biss kräftig in seinen Kohlrabi. Wie er so sog und kaute und einfach so den vorbeiparadierenden Blättern nachsah, blieb sein Blick - fast hätte er sich nicht nur verschluckt, sondern die Buttermilch auch noch über sein frisch gewaschenes Hemd gespritzt - an dem roten hochhackigen Lederschuh hängen, der ihm schräg gegenüber saß. Zwar wagte er nicht, seinen Blick weiter nach oben wandern zu lassen, aber das kleine goldene Kettchen, das sich um die schlanke Fessel des Beins schlängelte, ließ seine Phantasie in Aufruhr geraten. Sofort dachte er an Gabi S.

Gabi S. hatte sich damals an seinen Tisch im Café gesetzt und ihn bald zu einer Partie herausgefordert. Dass er verloren hatte, hatte Peter nicht weiter gestört, völlig fasziniert sah er zu, wie Gabi S. und in welchem Tempo, Buchstabe an Buchstabe reihte. Mit welch spielerischer Leichtigkeit sich da Sandstein an Holzschnitt einfügen und mit Taschenbibliothek verknüpfen ließ, während er, wie zuvor auch, um jedes noch so kleine Wort, um jede Silbe fast ringen musste. Zwar konnte er nicht mehr in Erfahrung bringen, was eine Taschenbibliothek sein mochte, doch die Geschichte mit Gabi S. ging so weiter, wie sie jeder von uns kennt.

Dennoch, dieses Erlebnis hatte er bis zum heutigen Tage nicht vergessen. Noch immer wusste er, dass sein letztes Wort nach langem Ringen Eden hieß, auch wenn er zunächst ein einfaches Ende legen wollte. Vielleicht, so hatte er sich damals für einen kurzen Moment gedacht, war er ja dadurch Opfer seiner eigenen Kühnheit geworden. Gabi S. hatte auch rote Schuhe getragen. Aber all dies war geschehen, lange bevor er begann, der Mutter wegen Buttermilch und Kohlrabi mit in die Arbeit zu nehmen.

Ein kurzes Klicken und unmittelbar darauffolgendes fast unhörbares Surren holten ihn wieder jäh auf die Parkbank zurück. Schon hörte er Schritte näherkommen, ehe er plötzlich die roten Schuhe vor sich stehen sah.

Zögernd und mit schüchterner Miene blickte er kurz nach oben, und da hatte die Frau ihm hastig ein Polaroid-Foto in die Hand gedrückt. Auf der Fotografie waren lediglich seine Schuhe zu sehen, die braunen Halbschuhe mit Gummihaftsohle, seine Schuhe eben. Und als er wieder aufblickte, war die Frau mit der Kamera auch schon wieder verschwunden. Fast schien es, als wäre sie mit dem losen Laub davon geweht. Sie war wie vom Erdboden verschluckt, keine Spur mehr von ihr. Das Polaroid-Foto in seiner Hand, welches er nachdenklich betrachtete, war jedoch Beweis genug ihrer Anwesenheit. An seiner Sohle hatte sich allem Anschein nach ein gelbgefärbtes Blatt verfangen. Tatsächlich.

Auf dem Nachhauseweg dachte Peter W. noch lange über die aufregenden Ereignisse des Tages nach und gerne hätte er nun sein Leben bewusster gelebt. Er war auch schon versucht, nein, er hatte es sich bereits fest vorgenommen, sobald er zu Hause wäre, Mutter endlich mitzuteilen, dass er Kohlrabi und Buttermilch hasste und ihn auch Schmutzflecke auf seiner Kleidung nicht wirklich störten. Doch wie hätte er ahnen können, dass das eben Erlebte nicht an einem Mittag, irgendwann zwischen Montag und Freitag, geschehen war, sondern an einem Samstagabend, als er, von Mutter in eine Wolldecke eingehüllt, auf dem Sofa während des Ruhrderbys eingenickt war.

Wir dürfen es vorwegnehmen. Peter W. sitzt heute noch Montag bis Freitag jeden Mittag mit Ausnahme der Urlaubs- und Feiertage auf seiner Parkbank, mit Buttermilch und Kohlrabi. Und sollten Sie einmal zufällig vorbeikommen, so wäre es nett, wenn sie mit ihm ein paar Worte wechselten, selbst wenn Sie anstelle der roten Schuhe nur rote Haare hätten.

Claudius Wiedemann wurde 1961 in Augsburg geboren. Er schreibt Theaterstücke und Kurzgeschichten, ist als Journalist tätig und doziert über Literatur und Theater an der Fachhochschule Augsburg.


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Die Vielfalt feiern – den Freitag schenken. Bewegte Zeiten fordern weise Geschenke. Mit dem Freitag schenken Sie Ihren Liebsten kluge Stimmen, neue Perspektiven und offene Debatten. Und sparen dabei 30%.

Print

Für 6 oder 12 Monate
inkl. hochwertiger Weihnachtsprämie

Jetzt sichern

Digital

Mit Gutscheinen für
1, 6 oder 12 Monate

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden