Katastrophenmeldungen über Lawinen, in engen Alpentälern eingeschlossene Urlauber und zahllose menschliche Tragödien beherrschten in den letzten Wochen die Schlagzeilen. Eine Fernseh-Sondersendung folgte der anderen. Die jahrzehntelange Drangsalierung der Alpen, die Klimakatastrophe, das Sterben der Bergwälder, die hemmungslose Über-Erschließung auch der letzten Täler und Hänge war in aller Munde. Entschlossenes Handeln wurde gefordert, allem voran ein Maßhalten der Kommunen bei der touristischen Erschließung, bei Hotels, Liftanlagen, Abfahrten und Schneekanonen. Aber auch Appelle zum Rückbau von Liftanlagen wurden laut, Appelle an die Tourismusindustrie, den Ski-Zirkus ein wenig zu bremsen, Appelle an die Touristen, auf den letzten
»Kick«, den ultimativen Adrenalinstoß beim Heliskling oder Extrem-Snowboarding zu verzichten, und nicht zuletzt: Appelle an »die« Politik, endlich einmal zu regeln, was schon längst hätte geregelt werden müssen!Bei allem Leid wäre es tröstlich, würden die Bilder der letzten Wochen endlich ein Umdenken bewirken und solches Handeln nach sich ziehen. Aber nach den Erfahrungen der letzten Jahre darf man, ja muß man skeptisch sein. Zu schnell verlieren Medien, Öffentlichkeit und damit auch die Politik in dieser reizüberfluteten Zeit das Interesse an solchen Ereignissen. Schon nach einer Woche sind die dramatischen Bilder wieder verdrängt, andere Katastrophen und events rücken in den Mittelpunkt des Interesses. Vor Ort bemüht man sich gar zu beschwichtigen und übt Medienschelte über zu negative Berichterstattung - der Skizirkus soll ungeschmälert weiterlaufen, der Rubel weiter rollen.Denn eigentlich - ja eigentlich sind die Probleme seit Jahrzehnten bekannt. Schon in den siebziger Jahren warnte der bekannte Naturfilmer und Publizist Horst Stern in seinen Bemerkungen über eine Urlaubslandschaft vor den Folgen des Raubbaus an den Alpen, brandmarkte die Zerstörung der Bergwälder und den Massentourismus. Andere folgten ihm und setzten Zeichen gegen Wachstumseuphorie und Technokratenwahn, genannt sei nur Karl Partsch.Zwischenzeitlich hat sich die Klimakatastrophe weiter verschärft. Nicht nur das Sterben der Bergwälder setzte sich fort. Die zunehmende Erwärmung hatte auch weniger tiefe Temperaturen und damit steigende Niederschläge zur Folge, die jetzt als Schnee niedergingen - und nach den Lawinen in Kürze wieder als Frühjahrs-»Jahrhundert«-Hochwasser über unsere heimischen TV-Bildschirme flimmern werden. Zu diesen Effekten trugen übrigens auch die Touristen bei: Drei Viertel von ihnen besuchen die Alpen immer noch mit dem eigenen PKW, obwohl es zunehmend attraktive Angebote der Bahn für eine entspannte Anreise in die Skigebiete gibt. Gleichzeitig erhöhte sich der Siedlungsdruck: Abgelegenste Alpentäler wurden besiedelt, in manchen Kommunen wurde selbst in »roten« und »gelben«, also bekannten lawinengefährdeten Bereichen gebaut, um die Bettenkapazitäten zu erhöhen. Hotels, Chalets und Appartmenthäuser fraßen sich die Hänge hinauf. In manchen Orten des Skizirkus stehen einem Bett eines Einheimischen zehn Touristenbetten gegenüber; mit 120 Millionen Touristen jährlich sind die Alpen mittlerweile die am stärksten vom Tourismus belastete Region dieser Erde! Und diese Massen verlangen neben Bettenkapazitäten natürlich auch die entsprechende sportliche Infrastruktur: Noch mehr und noch breitere Abfahrtpisten, noch mehr Aufstiegshilfen wie Liftanlagen, künstlichen Schnee zur Verlängerung der Skisaison, »exklusive« Angebote für Extremsportarten.Die Stimmen der Mahner wurden überhört. Wenn überhaupt, setzte man auf die Lawinenverbauung, also die Anlage künstlicher Hindernisse, statt auf neue Baugebiete zu verzichten. Kommunalpolitikern, Hoteliers und anderen Gewinnern des Skisports waren - und sind vermutlich - kurzfristige finanzielle Einnahmen wichtiger als langfristiger Erfolg. Masse statt Klasse, die schnelle Mark, Lira, Franc oder Schilling sind gefragt.Deutlich wird dies auch bei der politischen Dimension der Tragödie: Schon 1991 wurde von allen Anliegerstaaten die Alpenkonvention unterzeichnet. In Durchführungsprotokollen sollten die brennenden Themen wie Raumplanung, Naturschutz und Landschaftspflege, Tourismus und Freizeit, Verkehr, Berglandwirtschaft, Bodenschutz und Bergwald-Schutz geregelt werden. Ganz im Sinne der Umweltkonferenz der Vereinten Nationen 1992 in Rio de Janeiro und der »Agenda 21«, dem Fahrplan zu einer dauerhaft umweltgerechten Entwicklung im 21. Jahrhundert, sollte damit der hohen ökologischen Bedeutung der Alpen ebenso Rechnung getragen werden, wie den dort lebenden Menschen, den Touristen, den Kommunen und der Industrie.Also Problem erkannt, Gefahr gebannt? Mitnichten! Bezeichnenderweise wurde hier kein einziges dieser Protokolle der Alpenkonvention unterzeichnet. Und die Entwürfe wurden von Technokraten und Diplomaten so verwässert, daß sie kaum Folgen haben dürften. Symptomatisch hierfür ist der unter Federführung der früheren Bundesregierung erarbeitete Entwurf eines Bodenschutzprotokolls. Hier fehlen essentielle Regelungsinhalte wie die Verpflichtung der Vertragsstaaten, die Siedlungsentwicklung auf den Innenbereich zu lenken und das Siedlungswachstum im Außenbereich zu begrenzen, der Verzicht auf Neuerschließungen für den Massentourismus, die Festlegung von Ausbaugrenzen bei touristischen Erschließungsmaßnahmen, gerade im lawinengefährdeten Bereich, die Beschränkung des Wirtschaftswegebaus, die räumliche und zeitliche Begrenzung der künstlichen Beschneiung, und schließlich der Verzicht auf die Anwendung biologischer und/oder chemischer Mittel für die Pistenpräparierung.Und so darf man fast gewiß sein, daß uns die Katastrophenbilder auch in den kommenden Jahren wieder »überraschen« und endlose erregte Fernseh-Debatten besorgter Politiker bescheren werden. Dabei wäre es so einfach: ein wenig mehr Ehrlichkeit in der Diskussion, ein wenig mehr Bemühen um ernsthafte Lösungen, ein wenig mehr Klasse statt Masse. Qualitätstourismus, sanfter Tourismus sind die Zauberworte zum Erfolg. Manche Alpengemeinden praktizieren sie bereits, und der wirtschaftliche Erfolg gibt ihnen recht. Wir sollten also, um mit Horst Stern zu sprechen, die »Urlaubslandschaft« der Alpen wiederentdecken und die Natur nicht länger nur als Kulisse mißbrauchen.Claus Mayr ist Fachreferent des NABU für biologische Vielfalt, EU- und internationales Naturschutzrecht. Zum selben Thema siehe auch: Günter Gaus im Gespräch mit Michael SuccowKann die Erde diese Menschheit noch ertragen?
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