Der Freitag: Frau Künast, die Grünen wollen in den nächsten vier Jahren eine Million Arbeitsplätze schaffen. Nicht kleckern, sondern klotzen, könnte das Motto Ihres Wahlprogramms heißen. Geht ohne zig Milliarden-Investitionen gar nichts mehr?
Renate Künast: Die Bundesregierung klotzt, aber an den falschen Stellen! Schon wieder 3,5 Milliarden Euro in eine Verlängerung der Abwrackprämie, daraus erwachsen noch keine neuen modernen Autos, die nächstes Jahr noch Jobs garantieren! Wir sagen: In vier Jahren könnte man mit insgesamt 80 Milliarden Euro eine Million neue Jobs kreieren, wenn man Wirtschaftspolitik wirklich strategisch ausrichtet – an alternativer Energie, am effizienten Umgang mit Energie, und an dem riesigen Bildungsbedarf, den wir haben. Bildung ist eine Frage der Gerechtigkeit und des inneren Friedens.
Wir stehen vor dem größten Schuldenberg der Nachkriegsgeschichte ...
Die Krise, die wir momentan haben, können wir nicht ohne Neuverschuldung lösen. Aber man muss aufhören, Konjunkturprogramme von Herrn Ackermann schreiben zu lassen, der schon wieder auf 25 Prozent Rendite setzt und somit auf Raubbau abzielt. Wir wollen die Automobil-, die Maschinenbau- und die Chemische Industrie umbauen. Dafür muss man erstmal ein paar Euros in die Hand nehmen. Die Frage ist doch: Welche Schulden machen wir, welche Bedingungen stellen wir, damit ein Mehrwert dabei rauskommt? Investitionen müssen auf eine neu ausgerichtete Wirtschaft zielen, mit Produkten, die auch morgen und übermorgen verkauft werden.
Soll das die „neue industrielle Revolution“ sein, die Sie im Wahlprogramm fordern?
Wir wollen einen neuen grünen Gesellschaftsvertrag, das heißt, die Bedingungen verändern, zu denen wir miteinander leben, transportieren und produzieren. Und das heißt: Kein Wachstum auf Kosten anderer. Wir machen uns auf den Weg in ein solares Zeitalter in einer Europäischen Union der Erneuerbaren Energien. Und deshalb müssen mehrere Industriebereiche komplett umgebaut werden. Das Auto der Zukunft beispielsweise ist ein Elektroauto mit Ökostrom, das sich in einem integrierten System mit viel öffentlichem Verehr bewegt. Seine Batterie wird nachts am Netz durch Solarstrom aus Nordafrika oder Wind aus Schottland aufgeladen. Zu Spitzenzeiten wird Energie an das öffentliche Netz zurückgegeben. Das ist eine industrielle Revolution, für die Grün steht.
Müssten Sie den Leuten nicht sehr klar sagen, dass wir in den Industrieländern uns in unserem Wohlstand bescheiden müssten?
Unser Wahlprogramm sagt schon sehr klar, was das Ziel ist: eine veränderte Konsumhaltung und nicht mehr auf Kosten anderer zu leben. Wir machen niemandem vor, dass alles so bleibt wie es immer schon war. Ich will aber auch nicht für Askese sprechen, weil es für ein besseres Leben viele Lösungen geben kann.
Die eine Million Jobs, die wir schaffen wollen, sind die neuen Jobs. Wir wissen auch, dass Stellen abgebaut werden müssen. Im traditionellen Automobilbereich – den wir gar nicht mitgerechnet haben – gibt es jetzt schon 30 Prozent Überkapazitäten. Und die Arbeitsplätze, die noch bleiben, können wir nur halten, wenn wir das Hybrid- und Elektroauto von morgen herstellen.
Ich persönlich kann mich für diese Forderung nicht erwärmen. Ich bin keine Anhängerin eines bedingungslosen Grundeinkommens. Aber ich sehe das bei Kindern etwas anders. Bei Erwachsenen, solange sie erwerbsfähig sind, muss der Staat auch dazu auffordern, dass jemand seinen Beitrag zum Gemeinwesen bringt. Über die Ausgestaltung einer Kindergrundsicherung wird der Parteitag entscheiden.
Sind die Grünen noch eine linke Partei oder eine der bürgerlichen Mitte?
Eine linke Partei. Aber ich weise darauf hin: links definiert sich nicht mehr in den Kategorien der siebziger und achtziger Jahre. Wir sind eine freiheitlich-linke Partei, eben links vorne. Unsere Vorstellung ist, Transferleistungen zu gewähren wo nötig und dass der Staat Bildung und Ausbildung sicherstellt. Es braucht aber auch Beiträge eines jeden Einzelnen für die Gesellschaft. Wir wollen, dass jedes Kind, jeder Erwachsene die gleichen Chancen bekommt, sich zu entfalten. Und wir sind links, weil wir eine hohe Verantwortung empfinden hinsichtlich globaler Gerechtigkeit bis hin zur Frage, welches Essen landet auf unseren Tellern.
Nachdem die Ampel von der Partei abgelehnt wird – haben Sie das Ziel, in der neuen Legislatur mitzuregieren, bereits aufgegeben?
Wir machen einen eigenständigen Wahlkampf und wollen einen Politikwechsel bei Gentechnik, Bildung, Klima bis hin zu einer gerechteren internationalen Ordnung. Wir sind bereit für eine Regierung, die genau dies umsetzt. Dass die grüne Basis beim Wort FDP Probleme hat, verstehe ich. Diese Westerwelle-Partei will immer noch Steuern senken und hat die Zeichen der Zeit gar nicht verstanden. Lassen Sie uns erstmal darum kämpfen, dass Schwarz-Gelb keine Mehrheit bekommt und Schwarz-Rot ein Ende hat.
Frau Künast, Sie haben doch einen starken Willen zum Regieren. Viele Koalitionsoptionen bleiben den Grünen nicht. Warum geben Sie kein Signal für ein linkes Bündnis?
Ich streite dafür, dass Grün möglichst groß wird. Die Partei Die Linke hat sich noch nicht mit der Frage auseinandergesetzt, was es heißt, Deutschland in Europa zu sein. Und die das bei den Linken wollten, hat deren Europa-Parteitag aussortiert. Die Linken sagen selbst in Gesprächen, 2009 wollen sie nicht regieren, das würde sie zerreißen. Sie führen auch keine Debatte um ihre eigene Regierungsfähigkeit. Soll ich jetzt über ein Ei reden, das die Henne noch gar nicht beabsichtigt zu legen?
Das Gespräch führte Connie Uschtrin
Kommentare 17
Künast: >Wir sind eine freiheitlich-linke Partei, eben links vorne. - lins vone ist auch ein Blinklicht. Das betätigen die Grünen gern, besonders wenn sie rechts abbiegen. Hin und wieder soll so etwas schon mal zu Unfällen führen.
Vielen Dank für dieses Interview, Frau Uschtrin.
Frau Künast wandelt auf den Spuren Helmut Kohls und dessen Motto von den "blühenden Landschaften". Wir lauschen einer seltsamen "Deflation" bei der Schaffung von Arbeitsplätzen mit Steuermitteln!
Wahrlich, wahrlich, wir gehen herrlich grünen Zeiten entgegen, denn "Grün" in jeglicher Kombination mit Schwarz, Rosarot und Gelb wäre die Veröffentlichung jener heimliche große Koalition, ganz frei von "Links",die dieses Land derzeit regiert. Ob es nun aus Frau Künast per Interview heraus bricht oder ob Frau Scheel es gestern im Bundestag verkünden durfte, die Thesen der Grünen klingen mittlerweile so wie die aus den Papieren der Kohl-CDU zum Wiederaufbau Ost oder zur "Leistungs-gesellschaft" Ende der 90er Jahre. Ja, sie klingen so wie Schrödern, bevor er politisch wirkte.
Damals, unter Kohl, hatte das "Kleverle" aus dem Schwabenland, Lothar Späth, für einen hochqualifizierten Arbeitsplatz bei Jenoptik, je nach Statistik 750.000- 1,5 Mio. DM Steuermittel (~370.000-740.000 EUR)zur freien Verfügung. 2002 hatte Jenoptik von 20.000 Beschäftigten, noch 1200. - Hat schon einmal jemand nachgerechnet, was bei Infineon an Staatsknete für wie viele gesicherte Arbeitsplätze verbrannt wurde und daher nun irgendwann nachgedruckt werden muss?
Heute soll der Staat in der nächsten Legislatur, derzeit mit ~1680 Milliarden verschuldet, 20 Milliarden Euro pro Jahr für die Schaffung von einer Million zusätzlichen Arbeitsplätzen ausgeben. Das sind 20.000 Euro pro Jahr, in vier Jahren 80.000 EUR. - Die Grünen sind allerdings weiter gegen Änderungen bei der Erbschaftssteuer für Spitzenvermögen, halten Anhebungen des einst drastisch von ihnen gesenkten Spitzensteuersatzes für teuflisch, lieben mittlerweile Konjunkturprogramme als Klientelpolitik und glauben tatsächlich an den Weihnachtsmann, der Geld von anderen Sternen in die Finanzkassen spült, anstatt sich endlich ernsthaft um die Abschöpfung der Spekulationsgewinne zu mühen.
Beim Konjunkturprogramm für eine Million Arbeitsplätze müsste mindestens eine Null angehängt werden. Problematisch, denn solche Summen, ängstigen sogar unbedarfte Grün-wählende Prenzelberger. - Bei der Banken-Sanierung ging das in drei Tagen. - Die schlichte Wahrheit, bliebe denn Frau Künast wenigstens bei dieser, lautete: Mit 20 Milliarden im Jahr über vier Jahre, können vielleicht 350.000 prekäre Arbeitsplätze erhalten oder neue, nachhaltige aufgebaut werden. Das wäre auch schon etwas. Aber irgendwo muss das Geld herkommen!
Unsere Frau Künast lebt Volkserziehung. Erst wird streng gekocht und am Hüftspeck gearbeitet, lesend, entlang der ex-ministeriellen Kochtipps, dann gibt es Aufbaukost für die Mehrleister, trotz geringerer Kalorienzufuhr. Derweil läuft das Staatskonto unaufhaltsam ins Soll.
Grüße Christoph Leusch
Wenn Ihr jetzt schon bei der politischen Farbenlehre angekommen seid:
Hat schon mal jemand überlegt, dass Grün und Rot zusammengemischt Braun ergibt, mehr ins Helle, Ockrige, wenn auch noch ein Schuss Gelb hinzugefügt wird, ansonsten von einem natürlichen Kackbraun? Schwarz und Grün ergeben als Mischung Oliv.
Schon aus Gründen der politischen Farbästhetik sollte man daher niemals Grün wählen. Sie müssen ja koalieren.
@Shackerbilly:
Ich sprach von politischer und nicht von ausscheidungsbedingter Farbenlehre. Und Ihnen wird ja wohl bekannt sein, für welche politische Richtung die Farbe Braun steht, und es düfte Ihnen auch nicht unbekannt sein, welche Berufsgruppe im allgemeinen eine olivgrüne Kleidung trägt.
Das mangelnde Niveau erkenne ich daher eher bei Ihnen, da Sie soche einfachen Gleichnisse entweder nicht verstehen können oder nicht verstehen wollen.
Die Community kann es doch
Es kommt doch noch Schwung in die Debatte, jedenfalls mehr als bei Franz Alts eher oberflächlichem „Killerökologie-Artikel“. Ich dachte schon die Community fällt von einer Selbstbespiegelungsdebatte in die nächste (ich bin dann mal weg, dazu ein Schuss Geschlechterfrage mit „Sex and Crime“, jeder darf und soll mal, Kündigungsandrohungen verschiedener Art und Aufgeregtheiten über Technikpannen etc.). Nein, das ist nicht so. Es besteht doch ernsthaftes Diskussionsinteresse auch von zukunftsweisenden Fragen..
Fangen wir mal mit dem ersten Künast-Modul an – Arbeitsplätze (schön geredet, 1 Million Ökoplätze, seit 10 Jahren bekannt, bei Steuerfinanzierung und großzügigen staatlichen Investitionsgeschenken bis hin zum Emissionshandel finden sich immer wieder Kapitalgruppen, die wohl kalkuliert mitmachen) dann wird das kombiniert mit Solarstrom aus Afrika (liegt als Planungsüberlegung seit über 20 Jahren vor, macht sich aber immer gut: Wir sind doch weltoffen, vergessen doch nicht den schwarzen Kontinent)
Mediengewieft genug ist Renate Künast, um in solchen Interviews ganz gut auszusehen:burschikoses Auftreten, pragmatisch, hemdsärmlich, rhetorisch nicht ungeschickt, regierungswillig und dazu ein sehr schnelles Mundwerk. Eben eine ministeriable Spitzenfrau der Grünen.
Der FREITAG sollte sich ernsthaft überlegen, ob er bei solchen „klassischen Interviews“ stehen bleiben will oder sich hin zu „Gesprächen mit ...“ bewegen will. Diese (neue)Journalistenrolle ist deutlich aktiver, weniger vom Gesprächspartner kalkulierbar. Dadurch könnten die Platzvergeudungen, die hundertfachen Wiederholungen längst bekannte „O-Töne und Banalitäten“ stark eingedämmt werden. Man wird für qualifizierte Leser interessanter. (Hey, das hab ich im FREITAG gelesen!) Dieses hätte auch eine „heilende Wirkung“ auf Kreisversammlungen der Parteien, die sonst diese O-Töne bis zum Erbrechen wiederholen und die Lokalpresse dies wiederum nachdruckt.(Anmerkung zu Streifzug: So könnte z.B. das Sommergespräch mit Oskar Lafontaine angelegt sein - wann kommt Oskar?)
Was uns aber nicht weiterbringt, sind allerdings die ausgefeilten Polemiken, rhetorischen Spitzfindigkeiten bis hin zu Farbenlehren und ein zu großer Schuss Besserwisserei im Schonraum der Community. Darauf sollten wir weitgehend verzichten (ich weiß, schwierig, fällt mir selbst schwer) und mehr Zeit und Anstrengung in Alternativen investieren. Der FREITAG und damit auch die Community sollten sich den eigenen Theoriedefiziten stellen, daran arbeiten, ohne sich in einer elitären Zirkuskuppel zu verspielen. Dazu gehört notwendig ergänzend auch, konkrete Alternativvorschläge pragmatischer Politik weiterzuentwickeln.
Fortsetzung folgt gleich ..wg.Zeichenbeschränkung
Fortsetzung meines Kommentars
...
Mit ausführlichen Netzrecherchen und einen guten Schuss Intellektualität ist man (wir?) vielen Parteigremien und deren Proporz und Rücksichtnahmen überlegen.(Man vergleiche mal das Papier von Nahles zur „guten Gesellschaft“ mit z.B. einigen Tiefenbohrungen Michael Jägers in seinem Blog. Ich könnte weitere Beispiele anführen)
Kurzum: Ich fordere die gesamte Community, u.a.Columbus, Romano, Streifzug, auf ,an ihren bisherigen Kommentaren anzuknüpfen, diese weiterzuentwickeln. Mir Rudolf Bahro z.B. im Gepäck geht das sicher tiefer als mit Renate Künast. Kurzfristiges Schielen auf die sog. „Regierungsverantwortung“ (mit aller Macht an die Tröge 2009, festgefahren im Schröder/Fischer Komplex) sind vor allem Egotrips mit Selbstblendungen und Vernebelungenversuchen seiner Zeitgenossen. Die Grünen sind inzwischen zu einer stinknormalen Partei geworden, okay, man sollte sie wie alle anderen Parteien fair, aber hart in der Sache behandeln.
Freundliche Grüße vom Bildungswirt
Meinen Theoriedefiziten muss ich mich nicht stellen, die stellen mich regelmäßig.
Lieber Merdeister,
"...die stellen mich regelmäßig." Und was passiert dann? Nada?
Versuch's mal mit neuen Wahrnehmungen, neuen Begriffen, neuen Brillen. Wirklichkeit ist das, was du wahrnimmt und konstruierst. Und doch ist nicht alles Jacke wie Hose.
Grüße vom Bildungswirt
@ Bildungswirt:
Das habe ich eigentlich noch nie verstanden: >Wirklichkeit ist das, was du wahrnimmt und konstruierst. Wenn iich also, nur so z.B., als ein Opfer rassistischer Verfolgung von den nationalsozialistischen SS-Schergen in einer Gaskammer ermordet werde, so liegt das nur an meiner Wahrnehmung als eigener Konstruktion? Und ich muss da nur ein paar neue Begriffe finden, eine neue Brille aufsetzen?
Na, da bin ich ja berhuhigt!
Aber Polemiken wg Farbenlehren sind doof . . .
Lieber Liszt,
wollen wir ernsthaft diskutieren?
Dann einige Bemerkungen:
1. Was wir nicht wahrnehmen, erfassen, exisitiert nicht, genau so lange, bis sich dieser Zustand ändert.Deshalb wächst mit dem Wissen auch das Nicht-Wissen.
2. Arbeite dich (Sie?)mal etwas in den sog. Radikalen Konstruktivismus ein - ich garantiere Erkenntniszuwachs.
3. Im Künast-Interview und in meinem Kommentar gings im weitesten Sinne um Politik und Ökologie. Die Wahrnehmung zum Zustand des blauen Planeten ist stark abhängig von unseren sprachlichen und technischen Werkzeugen. Sie entscheiden über das Verständnis der Tragweite unseres Tuns. Es ist ein großer Unterschied, ob ich etwas über Interdependenzen (eben nicht nur Ursache-Folge-Wirkungen) weiß, über Technikfolgeabschätzungen, über hochkomplizierte Ökosysteme, deren Stabilität und Labilität etc oder ob ich in alten Begrifflichkeiten verweile. Ohne neue Sprache, neue Begriffe, neue Wahrnehmung - keine angemessene Beschreibung unserer Wirklichkeiten.Wer z.B. von Umweltschutz blabbert und meint, dass wäre doch identisch mit Ökologie, hat fast nichts verstanden. Oder nehmen Sie den Mißbrauch bis zur Unkenntlichkeit von "Modebegriffen" wie z.B. "Nachhaltigkeit".Die Grünen benutzen zum Teil die Hülle des entwickelten Vokalbulars der 80er Jahre, allerdings jetzt mit anderen semantischen Füllungen. Uwe Pörksen hat hier mal von einer "Diktatur der Plastikwörter" gesprochen.
4. Neue Wahrnehmung - neue Sprache. Nimm z.B. die 68er. Plötzlich lasen neugierige Studenten Marx, Freud, Reich, Adorno, Habermas, Luhmann etc., eigneten sich eine neue Sprache an und damit neue Sichtweisen zur Welt. Das gleiche gilt für das Auftauchen der Ökobewegung der 70er und 80er Jahre.
Schauen Sie sich die Sprachentwicklung mit dem Aufkommen des Internet an ...
5. Die Buddhisten z.B. verstehen unter Wirklichkeit etwas ganz anderes. Für sie wäre vieles, was wir tun nicht anderes als: Samsara.
6. Damit kein Mißverständnis aufkommt: Ihr angeführter NS-Vergleich war nicht gemeint. Selbstverständlich gibt es noch feststellbare historische Tatsachen.
Wenn Sie sich mit dem Hammer auf den Daumen schlagen, tut das höllisch weh, das ist eine Tatsache im wahrsten Sinne des Wortes und nicht eingebildet. (Ändert aber nichts an meiner vorangegangenen Argumentation)
Freundliche Grüße vom Bildungswirt
PS. "Polemik Farbenlehre" - nehm ich zurück.
Lieber Bildungswirt,
über Deine lange, ernsthafte Antwort habe ich mich gefreut.
Leider muss ich zugeben, dass es mir in vielerlei Hinsicht an Ernsthaftigkeit mangelt. Ich habe mich schon mehrfach dazu geäußert.
Ich finde, dass durch Humor (und Sarkasmus und Polemik) Dinge oft viel besser kondensiert dargestellt - und natürlich angegriffen - werden können. Durch Zuspitzung trifft man den Kern der Sache oft besser. Das kann man auch "eine Pointe haben" nennen, oder eine spitze Zunge, oder eine spitze Feder (man sieht, wie vieles an Ausdrucksmöglichkeit die moderne Technik uns nimmt: Eine "spitze Tastatur" hört sich nur lächerlich an, oder?).
Humor etc. fördert auch das Denken und das Nachdenken, weil Humor daraus entspringt, dass man seine Perspektive wechseln muss, um zu verstehen. Dann setzt das Lachen (oder wenigstens das Schmunzeln) ein. Und man hat verstanden, womit man "Witz" beweist!
Mir fehlen auch, glaube ich, Dein Wissen und Deine Fähigkeit zur abstrakten, analytischen Behandlung von Themen.
Darum gebe ich lieber meiner Neigung zum Spott nach, wenn ich mich äußere. Das kann ich nämlich besser, und darum kommt auch mehr dabei heraus, wenn ich spotte.
Trotzdem versuche ich im folgenden, auf Deine Argumente einzugehen (aufgrund der Textmengenbegrenzung im folgenden Kommentar).
Ich kann nicht versprechen, dass ich mich des Spotts immer ganz werde enthalten können.
zu 1.: Was wir nicht wahrnehmen, existiert nicht - für uns. Es kann sehr wohl außerhalb unserer Wahrnehmung existieren. Und die Existenz dieser von uns nicht wahrgenommenen Realität kann uns dennoch ganz direkt betreffen.
Ein Beispiel: Hunde haben eine wesentlich intensivere und genauere Geruchswahrnehmung als Menschen. Die Gerüche, die Hunde wahrnehmen, existieren für uns nicht.
Nehmen wir nun einmal an, ich begegnete einem Hund, vor dem ich mich fürchtete. Mir bräche der Angstschweiß aus; das gäbe dem Hund ein Geruchssignal, dass er mir potentiell überlegen ist. Er würde mich drohend anknurren, und ich würde weglaufen. Dies würde den Jagdreflex im Hund auslösen. Er würde mir nachsetzen und mich beißen.
Als Mensch erlebe ich die direkte Folge einer von mir nicht wahrnehmbaren Realität. Es hilft mir auch gar nichts, ob ich Begriffe für diese Realität habe, denn die Unmöglichkeit, sie als Mensch wahrzunehmen, bleibt bestehen. Da kann ich noch so viele Worte machen - das Geruchserlebnis eines Hundes kann ich nicht einmal erahnen.
zu 2.: Sei mir nicht böse, aber es hört sich für mich überhaupt nicht verlockend an, mich in etwas einzuarbeiten. Wenn ich mich zur Freizeitgestaltung oder zum Spaß irgendwo ein"arbeiten" soll, wird mir ganz komisch. Das hat so das Flair der siebziger und achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts, als man sich auch immer irgendwo einarbeiten sollte und der Spaß an der Freude arg zu kurz kam.
zu 3.: Im Groben stimme ich Dir zu. Ich würde diese Leerformeln mit dem veralteten Begriff der "Worthülse" bezeichnen - ein sehr beredtes Wort übrigens.
Den Glauben an den Fortschritt durch neue Begrifflichkeiten teile ich übrigens nicht. Ich glaube, dass wir Menschen viel zu befangen in unseren Vorstellungen sind. Beispiel: Als die ersten Roma in Europa auftauchten, wurden sie von der einheimischen Bevölkerung wegen ihrer dunklen Hautfarbe "Ägypter" genannt. Sie selbst wollten "azigan" (in etwa "fahrendes Volk")genannt werden. Die Alteingesessenen übernahmen das irgendwann; und es wandelte sich im Deutschen zu "Zigeuner". Heute ist es politisch korrekt, diese Leute "Sinti und Roma" zu nennen. Hier haben wir wechselnde Begrifflichkeiten (auf Wunsch der Betroffenen), die nichts dazu beigetragen haben, die Vorurteile über diese Volksgruppe zu beseitigen (sie verkaufen Teppiche, sie haben Goldzähne und fahren dicke Autos, sie stehlen, sie entführen Kinder, …).
zu 4.: Siehe auch zu 3. Und überhaupt: ja, sie eigneten sich neue Sprechweisen an, aber keine neuen Denkweisen (die allermeisten Leute jedenfalls nicht), denn auch hierbei ging es doch nur darum, welcher Macker sich als Alpha-Männchen positionieren konnte und die meisten Mädels ins Bett bekam ...
Ich weiß, ich weiß, das ist sehr verknappt und außerdem noch unsachlich und polemisch.
Guck aber mal auf die ehemaligen 68er und auf die ehemaligen Ökopaxe. Wo sind sie heute und was machen sie heute? Eben!
zu 5.: Na und? Ja.
zu 6.: Insofern bestimmt dann doch wieder das Sein das Bewusstsein, und egal, welche verniedlichenden Wörter ich benutze, damit ich als Deutscher überhaupt darüber sprechen kann, wie z.B. "Holocaust" oder "Shoa", die Tatsachen werden nicht von der Begrifflichkeit beeinflusst, sondern es verhält sich vielmehr umgekehrt.
P.S.: Ich finde, wer (so wie ich) gern austeilt, muss auch einstecken können. Daher fände ich es schade, wenn Du Deine Sottise gegen die Farbenlehre zurücknähmest. Über irgendwas muss
Hier das vollständige P.S.:
Ich finde, wer (so wie ich) gern austeilt, muss auch einstecken können. Daher fände ich es schade, wenn Du Deine Sottise gegen die Farbenlehre zurücknähmest. Über irgendwas muss man sich doch ärgern können!!!
Lieber Liszt,
habe im Moment deine lange Antwort gelesen.Meine Reaktion mit gedanklichen Ausflügen auch zum Ursprungs-Interview werden folgen.Wir setzen also unser Gespräch fort.
Leider brennt mir zurzeit der Hut an anderen Baustellen, so dass ich mich um die stete Wasserversorgung (auch ums Löschwasser)kümmern muss und der FREITAG etwas nach hinten wandert.
Humor, Witz, Polemtik? Klar soll/muss/kann sein. Daraus würde ich aber nicht den Schluss ziehen: Wir leben doch in einer permanenten Spaßgesellschaft.
Oder doch: Über einen weit verbreiteten politischen Analphabetismus halten sich bestimmte Kapital- und Politikkreise vor Lachen die Bäuche.Brot und Spiele bzw. Alk und Fernsehen - einfach super!
Übrigens: Heute schon gelacht?
Gruß Bildungswirt
Lieber Liszt,
nun doch noch ein paar inhaltliche Bemerkungen:
Ursprünglich ging es dem Künast-Interview um Perspektiven grüner Politik. Wir hatten uns dann ganz verschiedene Ausflüge, eben rhizomatisch, weit ab vom Text, genehmigt.
Zur Ökologie:
"Wir wollen einen neuen grünen Gesellschaftsvertrag, das heißt, die Bedingungen verändern, zu denen wir miteinander leben, transportieren und produzieren. Und das heißt: Kein Wachstum auf Kosten anderer."
Ich weiß nicht, ob Künast wirklich weiß, was sie da sagt. Auch ihr Spruch zur "Askese" ist Geblubber.Leider hatte da Connie Uschtrin nicht genug und konsequent nachgefragt.
An vielen Stellen taucht im FREITAG die Ökologiedebatte auf, viele einzelne kluge Gedanken, jedoch kein Netzwerk mit qualitativ neuen Erkenntnissen. Ich will demnächst dazu etwas schreiben, schwierig, Meßlatte hängt hoch. Mal sehen ...zurzeit ist von grüner Kraft und Herrlichkeit wenig zu spüren.Dann sollten wir weiter diskutieren, vielleicht geht's mal mit einem Minimum an Polemik und dafür mehr an Phantasie und grenzüberschreitenden Einfällen.
Zum Wahrnehmungsproblem und Sprache als soziale Konstruktion:
Du schreibst u.a.: "Sei mir nicht böse, aber es hört sich für mich überhaupt nicht verlockend an, mich in etwas einzuarbeiten. Wenn ich mich zur Freizeitgestaltung oder zum Spaß irgendwo ein"arbeiten" soll, wird mir ganz komisch. Das hat so das Flair der siebziger und achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts, als man sich auch immer irgendwo einarbeiten sollte und der Spaß an der Freude arg zu kurz kam."
Das stellt du mir zu streng gegeneinander. Arbeit am Begriff, an der treffenden Metapher, an der Neufassung von sprachlicher Angemessenheit kann auch Spaß machen. Lernen auch als Vorfreude auf sich selbst.
fortsetzung folgt wg. Zeilenbeschränkung
Fortsetzung ...
Du siehst mir die 70er und 80er Jahre zu negativ, verkrampft.Ohne eine neue Sprache hätte es kein neues Handeln gegeben.
Da haben sich engagierte Geister mit Einfluss in Theoriegebäude ganz unterschiedlicher Art eingearbeitet. z.B. in so unterschiedliche Arten des Denkens wie bei Adorno und Bloch.Und das hat sogar Spaß gemacht. Die kritische Rezeption einer "Kritik der politischen Ökonomie" oder einer "Kritik der Psychoanalyse" oder die pessimistische Einschätzung in "Antiquierheit des Menschen" fielen nicht einfach so vom Himmel. Anstrengung, Spaß, neue Erkenntnisse, Immunsierung gegen geistige Fastfood-Angeote schufen ganz brauchbare Erträge. Rückschläge gab und gibt es immer wieder, siehe dazu die jetzige Politik der Grünen:brav, geschmeidig, realobieder, theorieabstinent, im Samsara gefangen.
Ich unterbreite dir aber jetzt noch zwei andere Vorschläge:
a) Zieh dir einen guten Kopfhörer auf und genieße mal "Fieber - Tagebuch eines Aussätzigen",angeblich von Klaus Kinski 1952. Einmal gesprochen von Ben Becker und dann nochmal im Vergleich von Nikolai Kinski. Diese brachiale Sprache kann deine Sichtweise verändern.
b)Schau dir mal neueste Filme aus dem Mikrokosmos der Tier- und Pflanzenwelt an - atemberaubend schön, neue Sichtweisen, neue Erkenntnisse.
Bis dann, in einem neuen Film, in einer neuen Ökodiskussion etc.
Gruß Bildungswirt