Der Freitag: Herr Holtmann, Angela Merkel hat das Wahlversprechen gegeben, nach der Wahl die Steuern nicht nur nicht zu erhöhen, sondern sogar zu senken. Laut Umfragen halten dies bereits heute vier von fünf Bundesbürgern für unglaubwürdig. Warum verspricht die Kanzlerin das Unmögliche?
Everhard Holtmann:
Die Unionsparteien sind mit diesem Versprechen gleichsam Gefangene ihrer eigenen Wahlkampfvorbereitung geworden. Dieses Wahlversprechen ist ja Teil einer längeren Diskussion – und jetzt kommt man nicht mehr dahinter zurück. Das Grundproblem dieser Aussage ist: Auf der einen Seite ist allgemein bekannt, dass die zusätzliche Verschuldung des Bundeshaushaltes in den nächsten zwei, drei Jahren sich in einer Größenordnung von sch
Verschuldung des Bundeshaushaltes in den nächsten zwei, drei Jahren sich in einer Größenordnung von schätzungsweise 300 bis 400 Milliarden bewegen wird, andererseits werden kostenträchtige, finanzwirksame Wahlversprechen abgegeben, die im Kern auch die Aussage substanzieller Steuersenkungen beinhalten. Dazu kommen weitere kostenträchtige Versprechungen im Bereich Familienpolitik und Bildungspolitik. Gleichzeitig will man laut Programm so schnell wie möglich die Verschuldung der öffentlichen Haushalte senken. Wie das zusammengehen soll, kann niemand glaubhaft erklären. Werden Parteien Ihrer Erfahrung nach für gebrochene Wahlversprechen auch abgestraft oder sind Wähler vergesslich?Wähler verfügen zwar eher nicht über ein Elefantengedächtnis, was die Aussagen von Parteien, verglichen mit ihrem späteren Handeln, betrifft. Aber bei einem wachsenden Teil der Bevölkerung breitet sich dennoch ein diffuses Gefühl aus, man könne den Politikern nicht vertrauen, weil sie in ihren Aussagen nicht recht glaubwürdig sind. Das ist bedenklich. Dieses Gefühl könnte sich noch verstärken, da jetzt schon absehbar ist, dass man die Steuern in der nächsten Legislaturperiode zumindest in der ersten Hälfte ganz gewiss nicht wird senken können. Schon zum 1.1.2007 hat die große Koalition, anders als vorher zugesagt, die Mehrwertsteuer erhöht.Das haben die Wähler auch durchaus kritisch notiert. Zwar können Parteien in Regierungsverantwortung unter geändertem Vorzeichen ihre Aussagen auch mal korrigieren. Bei dem Steuerthema, wie es derzeit diskutiert wird, ist das aber nicht der Fall, denn nach den Wahlen dürften sich keine neuen, veränderten Bedingungen abzeichnen. Wir werden nach den Septemberwahlen allenfalls noch eine verschärfte Finanzklemme verspüren. Man kann jetzt bereits erkennen, dass Steuersenkungen völlig unrealistisch sind und keinerlei Deckung im Bundeshaushalt haben – es sei denn man wollte die Verschuldung der öffentlichen Haushalte ins Uferlose erhöhen.Sind es denn die Wähler, die sich insgeheim nach überzogenen Wahlversprechen sehnen oder sind sie mediengemacht?Wahlkämpfe basieren im demokratischen Parteiensystem nun einmal darauf, dass die Parteien in einem Wettbewerb stehen, in dem sie unterschiedliche Positionen markieren. Versprechen müssen ja nicht automatisch auch kostenintensiv sein, sondern können auch Aussagen sein über das, was man gestalten möchte. Ich kritisiere nicht so sehr die Tatsache, dass im Wahlkampf Versprechungen gemacht werden, als vielmehr, dass derzeit ja alle Parteien kostenträchtige Versprechungen machen, die sie nicht einhalten können. Sind Versprechungen überhaupt ausschlaggebend für das Wahlergebnis?Es kommt immer auf das Thema an. Generell sind drei Motive wahlentscheidend: Die Parteienkompetenz, der Persönlichkeitsfaktor und die langfristige Parteibindung. Die den Parteien zugeschriebene Lösungskompetenz ist der bei weitem wichtigste Faktor der Wahlentscheidung. Hier kann man eine Linie ziehen zu der Frage, wie glaubwürdig sich bestimmte Parteien in den Politikfeldern positionieren, in denen die Bürgerinnen und Bürger dringenden Lösungsbedarf sehen. Der Wahlkampf der Union ist auf die Person Angela Merkels zugeschnitten. Sehen Sie eine Tendenz zur Personalisierung von Wahlkämpfen?Es gibt in der Tat in den letzten Jahrzehnten eine deutliche Hervorhebung des sogenannten Personenfaktors. Das hat nichts damit zu tun, dass man amerikanische Vorbilder kopiert. Aber, wenn es um die Mechanismen unseres politischen Systems geht, sprechen Politikwissenschaftler von einer Kanzlerdemokratie. Der Kanzler oder die Kanzlerin verfügt über eine nicht unbeträchtliche Steuerungskompetenz und –macht. Daher kommt auch die Neigung, im Wahlkampf die entsprechende Person herauszuheben. Trotzdem ist der Persönlichkeitsfaktor nicht so hoch wie das Motiv, sich nach der wahrgenommenen Problemlösungskompetenz der miteinander konkurrierenden Parteien zu richten. Wie erklären Sie den derzeitigen Trend zu den kleineren Parteien?Es ist ein typischer Effekt der großen Koalition. Dazu kommt, dass die Bindekraft der großen Parteien in den letzten Jahren stetig nachgelassen hat. Die alten „Traditionsmilieus“ lösen sich auf. Die Zahl der Wechselwähler nimmt zu und damit wächst auch die Neigung, nicht mehr nur auf die beiden großen Tanker aufzusteigen, sondern sich in einem der kleinen, wendigeren Beiboote einzuschiffen, zumal dann, wenn man dort das Gefühl hat, in einer für den Wähler persönlich sehr wichtigen Frage angesprochen zu werden. Die großen Parteien können das nicht so gut, weil sie nicht nur eine bestimmte soziale Formation oder Klientel ansprechen wollen, sondern möglichst viele Schichten. Zerfällt die Parteienlandschaft in immer kleinere Teile?In ganz Europa lockern sich die etablierten Parteiensysteme aus der Mitte heraus auf, wenn man sich die letzten Wahlergebnisse in den Niederlanden, in Belgien, in Skandinavien und auch in Teilen der osteuropäischen EU-Mitglieder ansieht. Das ist gar keine deutsche Besonderheit und dürfte sich als Tendenz verstetigen, auch auf der Ebene der Landtags- und Kommunalwahlen. Gerade bei Kommunalwahlen haben wir gesehen, dass sich die Fragmentierung in den gewählten Gemeindevertretungen größerer und großer Städte verstärkt. Auf der anderen Seite stellt die Erweiterung eines Vier- in ein Fünf-Parteiensystem im Bund ja noch keine dramatische Zerfaserung dar. Das Gespräch führte Connie Uschtrin