Nach der Premiere des Films Das weiße Band – Eine deutsche Kindergeschichte am 21. Mai 2009 bei den Filmfestspielen in Cannes erwartet eine verstörte Journalistin von Regisseur Michael Haneke im Pressegespräch eine „klare Antwort“. Um ihrem Unbehagen Herr zu werden, will sie Gewissheit in der Schuldfrage: Sind die während der Handlung gezeigten Verbrechen tatsächlich Kindern anzulasten? „Es ist die Aufgabe von Kunst, Fragen zu stellen, und nicht, Antworten zu geben“, antwortet der Österreicher Haneke. Die Journalistin bleibt verstört und der Regisseur seinem Prinzip treu, dass seine Filme nur ein Sprungbrett seien. Ob es der Zuschauer betrete, um seinen Sprung zu wagen, bleibe allein ihm überlassen.
Die französische Schauspielerin und Jury-Präsidentin Isabelle Huppert übergibt Haneke kurz danach die Goldene Palme für Das weiße Band. „Es geht dem Regisseur nicht um kuschelige Erlebnisse, sondern darum, dem Zuschauer eine Erfahrung zu verschaffen. Er greift ihn da an, wo er am verletzlichsten ist: in seinem Zuschauerdasein. Er attackiert den Status des reinen Beobachters“, interpretiert Huppert. In diesem Jahr hat Haneke mit seinem neuen Film Amour erneut große Chancen, den Wettbewerb zu gewinnen.
Michael Hanekes Filme verblassen nicht schon beim Abspann. Die darin ausgestellte physische und psychische Gewalt gerät mitunter zur Zumutung. Mit jedem Zuschauer, der noch während der Vorstellung geht, wähnt sich Haneke auf seinem Weg einen Millimeter weiter. „Ideal wäre es, wenn die Szene so ist, dass die Leute wegschauen, weil sie es nicht aushalten“, meint er in Cannes. Die Wahrheit könne so intensiv sein, dass man sie nicht ertrage. Es bleibt die Entscheidung des Zuschauers, ob er sich der Fallhöhe von Hanekes Sprungbrettern aussetzt.
Auch im Weißen Band ist Gewalt immer präsent. Zu sehen bekommt man in diesem (Un-)Sittenbild einer norddeutschen Dorfgemeinde kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges freilich nur deren Folgen. Es gibt mehr als eine Ahnung davon, dass die Verbrechen des 20. Jahrhunderts in einer derart bigotten Dorfgesellschaft, im Patriarchat der Familie und in den Erziehungsriten protestantischer Pädagogik einen fruchtbaren Schoß haben könnten. Die politische Realität jener Zeit bleibt indes bis zur Schlussepisode des Films – dem Kriegsfieber nach dem Attentat von Sarajevo – aus diesem Soziotop namens „Eichwald“ verbannt.
Die Handlung beginnt im Jahr 1913, als es im Dorf zu Zwischenfällen kommt, die ein als Erzähler fungierender Dorflehrer rückblickend mit „seltsame Ereignisse“ beschreibt. Da stürzt der Dorfarzt nach einem Ausritt mit dem Pferd über ein heimtückisch gespanntes Seil. Eine Bäuerin stirbt bei der Arbeit für den adligen Besitzer in der Ruine eines Sägewerks. Am Tag des Erntedankfestes verschwindet Sigi, der Sohn dieses Barons, und wird später schwer misshandelt in jenem Sägewerk gefunden. Bald brennt eine Scheune auf dem Gutshof, und das jüngste Kind des Gutsverwalters wird in einer Winternacht ans offene Fenster geschoben und erfriert beinahe. Schließlich findet man den behinderten Sohn der Hebamme grausam malträtiert im Wald. Das weiße Band zeigt Hanekes Versuch, zur „Wurzel des Bösen“ vorzudringen, auch wenn jede Aufklärung der „seltsamen Ereignisse“ ausbleibt. Es entsteht der Eindruck, die älteren Kinder aus dem Dorf könnten dieses Böse verkörpern, sind sie doch stets zur Stelle, wenn wieder etwas „passiert“ ist.
Tatsächlich jedoch – daran lässt die Regie kaum Zweifel – liegen die Ursachen der Geschehnisse in der Bigotterie und degenerierten Moral einer denunziatorischen Gemeinschaft sowie im Gebaren ihrer Familienoberhäupter. Die dörflichen „Diktatoren“ – der Baron, der Pfarrer oder der Arzt – folgen einer religiös verbrämten Vorstellung von Ordnung und Gehorsam. Ihre Welt hat nur Bestand, wenn sie den Kindern mit der Rute eingebläut wird. Jeder Schlag tötet sie innerlich ab, als sollte durch eine drakonische Autorität allem Leben die Luft genommen werden.
Im Weißen Band wird selbst das kindlichste Vergehen mit permanenter Strafandrohung bedacht. Als seine Kinder zu spät zum Abendessen erscheinen, sagt der Pfarrer mit bebendem Kinn und zusammengepressten Lippen: „Ich weiß nicht, was trauriger ist, euer Fortbleiben oder euer Wiederkommen.“ Die obligatorischen Rutenschläge scheinen ihn als Peiniger mehr zu schmerzen als die Kinder, die unter den Hieben zu leiden haben.
Ihre Verfehlungen bezeugt fortan ein weißes Band am Arm, das sie im Dorf als Sünder ausweist. Auch lässt der Pfarrer die Hände seines ältesten Sohnes nachts ans Bettgestell fesseln, damit der nicht masturbiert, derweil sich der Dorfarzt an seiner 14-jährigen Tochter vergeht. Es sind letzten Endes nur die jüngsten Kinder des Dorfes, die zu emotionalen Regungen wie Freude und Empathie fähig sind, weil sie die Züchtigung, die dieses Leben für sie bereit hält, noch nicht oder kaum ertragen mussten.
Rechte Hand Gottes
Wie sich die Gewalt austoben kann, sieht man in den ausgestochenen Augen des behinderten Sohnes der Hebamme ebenso wie in den leeren Blicken von Kindern, die durch das dörfliche Schwarz-Weiß robotern. Ihre „Erziehung“ lässt sie das Ideal aufsaugen, das man ihnen eingeprügelt. Es wird ihnen zur sozialen Handlungsnorm, gegen die ihre Peiniger selbst verstoßen. „Die Kinder halten sich für die rechte Hand Gottes. Sie haben die Gesetze und Ideale verstanden und befolgen sie buchstabengetreu, und so werden sie zu Richtern von all jenen, die diese Ideale nicht befolgen“, meint Haneke nach der Preisvergabe in Cannes. „All jene“, das sind in diesem Fall die Erwachsenen im Dorf. Allen voran der Dorfarzt. Über den kursiert das Gerücht, der geistig zurückgebliebene Sohn der Hebamme sei sein Kind. In einer Szene demütigt er die Frau wegen seiner Erektionsprobleme mit einer unerträglich langen und niederträchtigen Beschimpfung, die in der Frage gipfelt, warum sie nicht einfach sterbe und so endlich verschwinde.
„Kein Mensch, der Ideale predigt, hält sich selbst hundertprozentig daran. Ich wollte deshalb einen Film machen, der verständlich macht, dass jedes Ideal pervertiert wird, sobald man es verabsolutiert“, erläutert Haneke das Gewaltpotenzial seines Werkes. Der Wendepunkt sei für ihn besonders dann erreicht, wenn ein vermeintliches Ideal zur Ideologie werde.
International hat Das weiße Band nach der Goldenen Palme noch drei europäische Filmpreise sowie einen Golden Globe gewonnen. Zudem war der Film für den Oscar nominiert. Dabei sah die Kritik – ob in Deutschland, in den USA oder Österreich – in den kalten Kindern beinahe einstimmig einen personalisierten Prolog zur NS-Diktatur. Die semantische Kreuzung von Eichmann und Buchenwald im Dorfnamen „Eichwald“ unterstützt diesen Eindruck. Schließlich berichtet der Erzähler von „seltsamen Ereignissen“, weil sie „auf manche Vorgänge in diesem Land ein erhellendes Licht werfen können“, wie es im Film heißt.
Allerdings weist Haneke jede allzu verkürzte Lesart des Films zurück und betont, Eichwald sei nicht nur Wiege der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. „Wenn man den Film allein im Kontext des Faschismus sieht, weil es eben ein deutscher Film ist, dann ist es für das ausländische Publikum einfach zu sagen: Es ist ein Film über ein deutsches Problem.“ Diese Distanz gewährt Haneke nicht, trotz des Untertitels Eine deutsche Kindergeschichte. „Jeder Terrorismus entspringt dieser Quelle“, unterstreicht er und fährt fort, seiner Suche nach der Wurzel des Bösen liege eine universalere Anthropologie der Gewalt zugrunde, in der das Böse immer die Summe der Umstände sei. „Es ist nicht nötig, böse zu sein, um schuldig zu werden. Du kannst auch einfach irgendetwas ignorieren.“
Conrad Menzel schrieb an dieser Stelle zuletzt über die Mai-Revolte in Berlin-Kreuzberg vor 25 Jahren
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