Arm an politischen Ereignissen war Spanien in den vergangenen Jahren sicher nicht. Wobei: Wahrscheinlich stand das Land weniger im Bann der Ereignisse als in dem der Träume.
An erster Stelle ist da der Traum von einem unabhängigen Katalonien. Jahrelang hing (und hängt) ihm fast die Hälfte der siebeneinhalb Millionen Einwohner nach. Sie glaubten lange, die Region könne sich im Handumdrehen und mit Europas Wohlwollen von Madrid „befreien“. Tatsächlich hat die independència seit 2012 massenhaft mobilisiert. Zuletzt vergangenen Samstag, als in Barcelona 200.000 unter dem Motto „Selbstbestimmung ist keine Straftat“ für die Freilassung der Unabhängigkeitspolitiker demonstrierten.
Zweifelsohne, die Unabhängigkeitsbewegung ist eines der mächtigsten politischen Projekte, die Westeuropa in den vergangenen 20, 30 Jahren gesehen hat. Am Ende ist die Bewegung noch lange nicht. Sonst wäre weder jeder Nationalfeiertag Kataloniens eine Unabhängigkeitsfeier, noch würde die Unabhängigkeitsfrage jede Nachrichtensendung von Catalunya Ràdio oder Televisió de Catalunya eröffnen.
Dennoch bewegt sich gerade etwas. Spätestens das derzeitige Gerichtsverfahren gegen die Unabhängigkeitspolitiker (der Freitag 7/2019) legt offen, dass Kataloniens Unabhängigkeit bestenfalls ein Langzeitprojekt wird. Der Staatsapparat hat sich in Gang gesetzt. Anders als im „heißen Herbst“ 2017, als das gewaltsame Vorgehen der Zentralregierung global für Negativschlagzeilen sorgte und die independentistes geradezu als Märtyrer dastanden, ist derzeit der Zentralstaat – besonders der für das Verfahren zuständige Oberste Gerichtshof – auf ein formal exquisites Verhalten bedacht. Als Kataloniens früherer Vizepräsident Oriol Junqueras seine Aussage vor Gericht zum schmuckvollen Unabhängigkeitsplädoyer ausbaute, widersprachen die Richter nicht. Weich in der Form, hart in der Sache, so das Leitmotiv der Justiz.
Ähnlich verhielt sich die scheidende Zentralregierung des Sozialisten Pedro Sánchez: Auch sie hat sich zwar gegen ein Referendum gesperrt, ist aber anderswo (etwa finanziell) auf Katalonien zugegangen. Dies nicht aus altruistischer Selbstlosigkeit, sondern um den moderaten Flügel des Separatismus zu verführen, ihn auf Dialog zu trimmen. Teils mit Erfolg: Manche independentistes, etwa Junqueras, glauben inzwischen, dass das kleinere Übel (die Sozialisten) besser als das größere (die Rechten) sei. Die Vorsichtigen sind in der Minderheit, werden aber lauter: besonders jetzt, da die katalanischen Parteien eine wichtige Rolle dabei spielten, Sánchez’ Minderheitsregierung zu stürzen – und manche es noch am gleichen Abend bereuten.
Jedenfalls ging am vergangenen Freitag der zweite große, weit kurzlebigere Traum zu Ende, dem Spanien teils nachhing. Ins Leben gerufen hatte ihn einer, der immer wieder totgesagt wurde und stets auferstand: Noch-Premier Pedro Sánchez. Der Sozialist, der dieser Tage seine Autobiografie „Handbuch für Widerständige“ vorstellt, hatte im Juni 2018 erstmals erfolgreich ein Misstrauensvotum durchgebracht. Eine Melange aus baskischen Nationalisten, katalanischen independentistes und den Linken von Podemos zog mit dem sozialistischen PSOE an einem Strang, um den konservativen Mariano Rajoy zu stürzen.
Sánchez wollte indes mehr als ein Anti-rechts-Bündnis. Er hatte eine Vision. Er wollte die Mehrheit des Misstrauensvotums in etwas Größeres verwandeln, einen nicht allein politischen, sondern kulturellen Neuanfang. Könnten wir vielleicht ein anderes Spanien verkörpern?, so seine Ambition. Sánchez’ latentes Vorbild war jemand wie Kanadas Premier Justin Trudeau: eine junge, linksliberale Regierung, die, in gemäßigter Manier, die soziale Frage stellt, Minderheitenrechte stärkt und die plurinationale Identität des Landes anerkennt. Anfangs schien Sánchez das Kunststück zu gelingen. Sowohl mit einem Kabinett, das erstmals paritätisch Männer und Frauen besetzten, als auch mit wirtschaftspolitischen Vorstößen, etwa der Hebung des Mindestlohns um mehr als 20 Prozent auf 900 Euro pro Monat, und mehr Dialog gegenüber Katalonien schienen die Sozialisten eine neue Etappe anzustoßen. Und dann? Sánchez misslang es trotz aller sozialliberalen Coolness, das Entscheidende zu verkörpern: Ordnung. Der Kolumnist Enric Juliana hielt bereits im September fest: „Die größte Herausforderung der Sánchez-Regierung besteht darin, ein Mindestmaß an Stabilität und Sicherheit auszustrahlen.“
Die parlamentarische Ausgangslage war für die Sozialisten mit 85 von 350 Abgeordneten von Anbeginn denkbar schwer. Dann wurden sie auch noch zerrieben zwischen einer Rechten, die Sánchez ob seiner Offenheit mit Katalonien als Verfassungsverräter geißelte, und den katalanischen Parteien, denen dies nicht weit genug reichte.
Vielleicht aber nahmen die Sozialisten selbst ihre Vision eines anderen Spaniens nie ernst genug, eher als einen PR-Coup für die nächste Wahlkampagne. Nun ist auch dieser Traum – zunächst zumindest – vorbei. Vor der Wahl am 28. April fallen derweil die Prognosen schwer. Das rechte Dreierbündnis von Liberalen, Konservativen und Rechtspopulisten hat bislang die beste Ausgangslage. Die Rechten träumen schon von ihrem Spanien. Doch es könnte auch ihnen schaden, die Augen zu schließen.
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