Es sah eigentlich so aus, als ob der 9. Januar ein ganz gemächlicher Samstag werden würde. Dass die beiden Unabhängigkeitslisten Junts pel Sí (JxSí) und Candidatura d’Unitat Popular (CUP) in Barcelona verhandelten, um sich auf eine neue Regierung zu einigen, rief eher mäßiges Interesse hervor. Es schien ausgemacht, dass kein Last-Minute-Konsens mehr möglich war. Demzufolge würde Kataloniens amtierender Präsident Artur Mas Neuwahlen für März ankündigen müssen. An ihm schieden sich die Geister von JxSí und CUP. Für die einen (JxSí) war Mas der einzig Richtige im höchsten Regierungsamt Kataloniens, nur er schien mit dem taktischen Geschick gesegnet, den Unabhängigkeitsprozess – im Politjargon schlicht: el procés – zu dirigieren.
Für die linksradikale CUP dagegen stand fest, ihre Stimmen würden niemals an Mas gehen. Zu eifrig hatte er in den Krisenjahren seit 2008 eine Austeritätspolitik forciert und gegen den Sozialstaat polemisiert. Zu offensichtlich war er in Korruptionsaffären verstrickt, die sein Mentor, Kataloniens langjähriger Präsident Jordi Pujol, und seine Partei Convergència zu verantworten hatten. Es gab heftigen Druck von außen, doch die CUP blieb bei ihrem Veto gegen Mas.
Als Märtyrer abdanken
Am Nachmittag des 9. Januar war plötzlich alles anders. JxSí und CUP einigten sich, tauschten den Bewerber Mas gegen das Bedürfnis nach Stabilität und präsentierten Carles Puigdemont, den weithin unbekannten Bürgermeister der Provinzhauptstadt Girona, als neuen Präsidentschaftskandidaten. Inzwischen wird klar, dass die CUP für diesen Kompromiss einen hohen Preis gezahlt hat. Zwei ihrer zehn Abgeordneten inkorporieren sich in die Fraktion JxSí und werden zu Mittelsmännern zwischen JxSí und CUP, um die absolute Parlamentsmehrheit der Unabhängigkeitslisten (72 von insgesamt 135 Abgeordneten) zu sichern. Das heißt, die CUP verzichtet auf ihre Oppositionsrolle im katalanischen Parlament und avanciert zum Stabilitätsgaranten der neuen Regierung. Sie opfert sich der nationalen Frage. Der Wunsch nach Souveränität gegenüber dem Zentralstaat ebnet politische Gräben ein – vorübergehend.
Wie erklärt sich das jähe Einschwenken zugunsten des großen Ziels? Warum gab Artur Mas auf? Durch Selbstlosigkeit, den Verzicht auf überzogene Ambitionen, war dieser Regierungschef nie aufgefallen. Vielmehr resultiert sein Rückzug aus taktischem Kalkül und einer realistischen Bewertung derzeitiger Stimmungen und Kräfteverhältnisse in Katalonien, wo die Unabhängigkeitsbewegung zuletzt Terrain eingebüßt hat. Die Unabhängigkeitslisten gewannen zwar die Regionalwahl vom 27. September, verloren aber am selben Tag das Unabhängigkeitsplebiszit. Nach einer emotional aufgeladenen Debatte stimmten bloß 48 Prozent der Katalanen (etwa zwei Millionen Menschen) für den Ausstieg aus dem Zentralstaat. Insofern hing dem Wahlsieg der Unabhängigkeitsparteien ein bitterer Nachgeschmack an. Mit den spanischen Generalwahlen am 20. Dezember folgte die nächste Ernüchterung: Podemos stieg in Katalonien mit klarem Vorsprung zur stärksten Kraft auf, während Convergència hinter der Republikanischen Linken (Esquerra Republicana/ERC) auf Rang drei zurückfiel.
Danach mussten mögliche Neuwahlen im März für Mas und Convergència ein Albtraum sein. Podemos hätte im Sog der Generalwahlen und dank des Prestiges von Ada Colau, Barcelonas charismatischer Podemos-Bürgermeisterin, vermutlich ein brillantes Ergebnis erzielt (sogar eine Linksfront Podemos/CUP war im Gespräch). Außerdem hätte die Republikanische Linke bei einem solchen Votum wohl Convergència als tonangebende Unabhängigkeitspartei überholt, sodass ERC-Chef Oriol Junqueras zur Galionsfigur des procés aufgestiegen wäre. Kurzum: Mit Neuwahlen drohte der politische Todesstoß für Mas und Convergència. Da schien der Part des Märtyrers, der freiwillig aufgibt, attraktiver. Durch seine „großzügige Geste“ hat Mas die institutionelle Macht eingebüßt, das symbolische Kapital als moralische Führungsfigur aber gerettet.
„Zwei Spanien stehen sich im ewigen Kampf gegenüber“, dieses Diktum des Philosophen José Ortega y Gasset (1883–1955) ließe sich auch auf das Spanien von heute übertragen. Es läuft auf die Grundfrage hinaus: Erhalt oder Wandel der bestehenden Ordnung? Die bisherige Regierung der Volkspartei (PP) von Premier Mariano Rajoy spricht gern von der Verteidigung der Verfassung gegen ihre Feinde. Für ihre Anhänger verbürgt die Konstitution von 1978 all das, was es zu bewahren gilt: stabile parlamentarische Verhältnisse, die territoriale Einheit und konstitutionelle Monarchie, eine liberale Wirtschaftspolitik. Dieses System soll gesichert werden gegen Herausforderungen, wie sie sich aus der linken Programmatik von Podemos wie dem katalanischen Separatismus ergeben.
Ada Colaus Tweet
Verfolgt man die Madrider Reaktionen auf die neue Exekutive in Barcelona, die den katalanischen procés vorantreibt, so deutet alles darauf hin, dass die Verteidiger der verfassungsmäßigen Ordnung ihre Reihen schließen. König Felipe weigert sich, Carme Forcadell, die Präsidentin des katalanischen Parlaments, zu empfangen, um den Antritt des neuen Regierungschefs Carles Puigdemont zu bestätigen. Verfassungsgericht und Staatsanwaltschaft stehen bereit, Barcelona zu disziplinieren. Die Medien laufen Sturm. „Die Kunst der politischen Lüge“, titelt El País, „Die Unabhängigkeit entführt Katalonien“, lautete die Schlagzeile bei der Tageszeitung ABC. Premier Rajoy ruft die Sozialisten der PSOE zur „großen Koalition der nationalen Verantwortung“, um den Separatismus zu zügeln. Das #PressingPSOE geht darauf ein: „für die Großkoalition von PSOE mit PP und Ciudadanos – gegen linke Abenteuer mit Podemos“.
Die katalanische Krise lässt wissen, wo die Sprecher der „neuen Politik“ – die rechtsliberalen Ciudadanos und Podemos – jeweils stehen. Die Partei von Albert Rivera empfiehlt sich als scharfer Degen gegen den Separatismus. Als die neue Legislative Mitte Januar zusammentritt, gibt er im Namen seiner Fraktion eine Erklärung zur spanischen Einheit ab. Tenor: Mit der katalanischen Frage wird klar, wer für und wer gegen die Verfassung ist. Demgegenüber artikuliert sich Podemos als einer der wenigen zentralspanischen Verbündeten eines katalanischen Unabhängigkeitsprozesses. Katalonien sei nicht bloß eine autonome Region, sondern zugleich eine Nation, die das Recht habe, ein Referendum über ihre Selbstbestimmung abzuhalten. Was Podemos und die katalanischen Unabhängigkeitsparteien eint, ist der Wille, die Gesellschaft von Grund auf zu verändern.
Noch nie im postfranquistischen Spanien waren die soziale und die nationale Frage so virulent wie in diesem Augenblick. Es ist kein Zufall, dass die einen (Podemos) ein katalanisches Referendum fordern und die Plurinationalität Spaniens verteidigen, während die anderen (JxSí/CUP) einen verfassungsgebenden Prozess anstoßen, der auf den Ausbau des Sozialstaates zielt. Dabei wechseln die Prioritäten. Einmal vereinnahmt die katalanische Sezession, dann wieder der Aufschwung der neuen Linken die Debatte. Podemos hat mehr als jede andere Partei anerkannt: Spanien ist eine Nation von Nationen – und diesen Nationen steht das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu. Dass Podemos-Chef Pablo Iglesias in Katalonien, dem Baskenland, Galizien, Valencia und auf den Balearen so viel Anklang findet, zeigt, dass sein Projekt eines föderalen Landes zukunftsträchtig ist.
Unverkennbar rückt der katalanische Unabhängigkeitsprozess nach links. So geschickt der Rückzug von Artur Mas auch war: Seine Macht musste er aus der Hand geben, weil eine linksradikale Partei darauf beharrte. Der Verschnitt des Sozialstaates und die Business-Friendly-Unabhängigkeit, die Mas verkörperte, sind vorerst passé.
Wie die neue katalanische Regierung in den nächsten Monaten vorgeht, bleibt abzuwarten. Um eine Mehrheit ihrer Landsleute von der Eigenständigkeit zu überzeugen, müssten mehr Sozialstaatlichkeit und demokratische Radikalität garantiert sein.
Ada Colaus Tweet zur Einigung von JxSí und CUP war Warnung und Omen zugleich: „Nachdem sie die Generalwahlen verloren, haben Artur Mas und Convergència Angst vor einem Urnengang im März bekommen. Aber es ist eine Frage der Zeit: Wir gestalten den realen Wandel weiter.“
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