Führen die Neuwahlen am 26. Juni aus der politischen Sackgasse? Spaniens Medien bezweifeln mehrheitlich, ob es danach wieder eine handlungsfähige Regierung gibt, die über genug parlamentarischen Rückhalt verfügt. Derzeit entsteht der Eindruck, das Land verharrt in einer Starre, die auf Dauer zu irreversiblen Schäden führt. Doch das ist Fassade, und sie täuscht, dahinter bewegt sich vieles. Die Parlamentswahl von Dezember ließ das Zweiparteiensystem aus Volkspartei (PP) und Sozialisten (PSOE) dank der Präsenz zwei neuer Kräfte – der rechtsliberalen Ciudadanos (14,3 Prozent) und der linkspopulistischen Podemos (20,6 Prozent) – zerbrechen.
Thema Venezuela
Vorerst hat dieser neue Pluralismus die Regierungsbildung freilich nicht v
ng freilich nicht vereinfacht. Linke und Rechte kämpfen sowohl gegeneinander als auch um interne Vorherrschaft. Besonders exponiert im linken Lager, denn PSOE und Podemos sehen sich als linke Volksparteien und sprechen sich gegenseitig das Existenzrecht ab. Auch die Rechte ist im Umbruch: Durch eine sich nach der Dezemberwahl zunächst abzeichnende Allianz mit dem PSOE geriert sich Ciudadanos als gemäßigtes Zentrum, das durch Willen zum Dialog die Freund-Feind-Reflexe des PP konterkariert.Die Szenerie wird durch einige „äußere“ Faktoren beeinflusst: Gewaltige Sparvorgaben der EU-Kommission für das nächste Haushaltsjahr, noch mehr Korruptionsskandale und den Unabhängigkeitskurs einer unbeirrbaren katalanischen Führung. Das heißt, Spanien wird mit neuen Konflikten versorgt, ohne dass vorhandene gelöst werden. Um diesen Zustand zu beschreiben, hilft die Metapher vom „Stellungskrieg und Bewegungskrieg“, die einst der italienische Marxist Antonio Gramsci (1891 – 1937) gebraucht hat. Politische Prozesse sind nach Gramsci alltäglich und unauffällig. Auf die Gegenwart bezogen heißt das, sie geschehen jenseits der Institutionen als komplexe Stellungskriege in Gesprächen und an Stammtischen, in Zeitungsartikeln, Radiobeiträgen und Facebookposts. Die so bewirkte „weiche Meinungsbildung“ schafft den einen oder anderen gesellschaftlichen Grundkonsens, der sich dann in die „harte Politik“ einschreibt: Es kommt zum Bewegungskrieg um parlamentarische Mehrheiten und die Exekutivgewalt.Mit Blick auf Spanien muss man Gramscis Metapher umdrehen und sagen: In dieser Gesellschaft wird gerade ein vielfältiger Bewegungskrieg ausgetragen. Er taucht in der institutionellen Politik wieder auf und wird zum zähen Stellungskrieg. Die „Aura des Neuen“, wie sie von Ciudadanos und Podemos ausgeht, ist weit mehr als ein Marketingslogan. Sie offenbart vielmehr den Konflikt der Generationen. Die unter 35-Jährigen können nach einem Jahrzehnt der Wirtschaftskrise gar nicht anders, als das einstige Ideal vom geordneten Aufstieg in Richtung Mittelstand zu verabschieden. Sie halten sich mit Dauerpraktika, Teilzeitarbeit oder prekären Vollzeitjobs für 800 bis 1.000 Euro brutto über Wasser und müssen sich fragen, ob das lebenslänglich so bleibt. Es kommt an, wenn ihnen eine „neue Politik“ einen „neuen Gesellschaftsvertrag“ verspricht. Sowohl in der liberalen Fassung (Ciudadanos) einer harten, aber leistungsgerechten Marktwirtschaft als auch in der sozialdemokratischen Variante (Podemos) einer Gesellschaft, die niemanden fallen lässt und auf faire Verteilung setzt. Demgegenüber wird die „alte Politik“ von PP und PSOE mit Krise, Klientelismus und Korruption gleichgesetzt.Da erschien es fast schon symptomatisch, dass der Startschuss für den Wahlkampf mit dem Thema Venezuela fiel. Die dortige Staatskrise nutzte die PP-Regierung nicht nur, um Solidarität mit der venezolanischen Opposition zu bekunden. Zugleich sollte die mutmaßliche finanzielle und ideelle Verstrickung der Podemos-Führung in den Chavismus bloßgelegt werden. Auch Ciudadanos-Chef Albert Rivera reiste nach Caracas und gab sich unerbittlich: „Podemos kam auf Geldsuche nach Venezuela und unterstützt alles, was hier geschieht. Bei mir stößt auf Widerstand, wer das ökonomische und politische Modell Venezuelas uns Spaniern überstreifen will.“Im ArtischockenfeldDas hinterlässt Wirkung, denn Spanien ist gespalten zwischen denen, die sich die Stabilität des Ist-Zustandes wünschen, und jenen, die möglichst schnell möglichst viel verändern möchten. Die einen verteidigen bewährte Säulen des Staates wie die territoriale Integrität, das Wirtschaftssystem oder den Konsens aus der Zeit, in der sich die Politik vom Franquismus emanzipierte. Die Gegenseite versteht den Unabhängigkeitswunsch Kataloniens, will ein anderes Produktionsmodell und einen proceso constituyente (Verfassungsprozess) für einen Neubeginn.Verharren oder verändern, das sind idealtypische Pole, die viele Mischformen zulassen, aber auf eine gespaltene Grundstimmung deuten, wie das zwei Wahlplakaten zu entnehmen ist: Das eine zeigt Premier Mariano Rajoy (PP) auf einem Artischockenfeld. Rajoy läuft mit Bauern durch die Gegend und scheint stolz auf Spaniens Agrarwesen. Die Botschaft ist klar: Die Volkspartei wahrt Bodenhaftung und gibt dem Land ein Rückgrat.Ganz anders das Geschwindigkeitsmotiv des sorpasso (Überholmanöver) von Podemos samt der Aussage: Wir überholen die Sozialisten. Ist es denkbar, dass eine Protestpartei, die kaum zwei Jahre alt ist, den stolzen PSOE mit einer mehr als 100-jährigen Geschichte übertrifft? Die Umfragen schließen Platz zwei hinter dem PP nicht aus. Was würde dies für das linke Lager und das Land insgesamt bedeuten? Im Geiste Gramscis lohnt es, den Blick von der großen Politik auf den sozialen Alltag zu richten. Das Überholmanöver wird gespeist durch die „vielen kleinen Überholvorgänge“: von der kollektiven Empörung auf der Straße und der zähneknirschenden Entfremdung Einzelner, die sich angelogen und betrogen fühlen und jedes Vertrauen in das System verloren haben. Wer hofft oder fürchtet, dass die Wahl am 26. Juni Grundsätzliches verändert, wird enttäuscht sein. Der Wandel in Spanien geschieht bereits. „Es verändert sich, alles verändert sich“, so geht ein bekanntes Lied von Mercedes Sosa.