Wer Alan Glass in Mexiko City besuchen möchte, findet sein Häuschen im ehemals bohemen und heute zunehmend bourgeoisen Stadtviertel La Roma. Der Windfang, durch den man es betritt, ist mit anatomischen und botanischen Modellen angefüllt. In der Küche stehen Gläser mit frisch eingekochter Aprikosenmarmelade. Am Ende des zweistündigen Gesprächs wird er der Besucherin ein Glas mitgeben – unter der Bedingung, dass sie das leere Behältnis zurückbringen wird.
Der Freitag: Herr Glass, als Ihre künstlerische Karriere in den fünfziger Jahren begann, war der abstrakte Expressionismus der New York School um Willem de Kooning und Jackson Pollock als neue Kunstform in aller Munde. Wie kam es, dass Sie sich in dieser Situation dem Surrealismus anschlossen, der seinen Zenit bereits in den dreißiger Jahren überschritten hatte?
Alan Glass: Es gibt Leute, die auf dem intellektuellen Weg zum Surrealismus kommen – die all die Manifeste gelesen haben und so gewissermaßen über eine Kopfgeburt in die Welt des Surrealismus eintreten. Und es gibt Leute, die auf natürliche Weise in ihn hineingeboren werden. Sie haben ihn instinktiv im Blut. Für diese Gattung, zu der ich mich zähle, ist der Surrealismus eine Lebensform. So hat es nur eines kleinen Stolperns bedurft, um mich als 20-Jährigen in die Arme von André Breton und dessen Kreis zu bringen.
Breton hatte sich während der Kriegsjahre in den USA und der Karibik aufgehalten, 1946 kehrte er nach Paris zurück. Wie begegneten Sie dem Gründervater des Surrealismus?
Ich arbeitete als Türsteher in einem Pariser Jazzclub. In diesen Nächten fertigte ich ganze Serien von „Dessins Automatiques“, wie die Surrealisten die von ihnen entwickelte Technik nannten, bei der man das Unterbewusste die Hand über das Papier führen lässt. Eines Tages klopfte einer von Bretons Schützlingen an meine Tür. Ich hatte zuvor bei einer Ausstellung in der Galerie Etoile Scellé im Besucherbuch Namen, Adresse und ein paar Worte hinterlassen.
Hatten Sie geschrieben, dass Sie ebenfalls ein surrealistischer Künstler sind?
Nein, diese Leute um Breton besuchten einfach jeden, der noch Interesse am Surrealismus zu haben schien. Unter dem überstarken Einfluss der Amerikaner, die nach dem Krieg auch in der Kunst die Marschrichtung vorgaben, war der Surrealismus beinahe ein Tabu geworden, eine sich im Sande verlaufende Bewegung trotzkistischer Dogmatiker, mit denen keiner mehr etwas zu tun haben wollte. Protagonisten wie Max Ernst, Leonora Carrington, Wolfgang Paalen und Roberto Matta lebten in den Amerikas verstreut.
Was zog Sie nach Mexiko?
Schuld war Bretons Tochter Aube. Wir waren bereits damals eng befreundet und sind es heute noch. Schauen Sie – er deutet auf die kleinen gerahmten Collagen, die dicht an dicht über dem Esstisch hängen –, sie schickt mir jedes Jahr zu Weihnachten eine Arbeit. Eines Tages stand in Aubes Atelier ein aus Zucker gegossener Totenkopf, der mich in seinen Bann zog. Diese Köpfe sind eine Art Fetischobjekt, das für den Tag der Toten hergestellt wird. Ihr Vater hatte ihn ihr nach seiner Rückkehr aus Mexiko 1938 gegeben. Ich war so fasziniert von diesem schrill bemalten Ding, dass sie es mir schenkte. Bald darauf verließ ich Paris und ging nach Mexiko – für einen Totenschädel aus Zucker!
Glass steht auf und entnimmt einer Schachtel einen grinsenden Totenkopf, dessen Schädeldecke und Stirn mit exotischen Blumen bemalt sind.
Das ist wahre Volkskunst für mich.
Wahrer mexikanischer Surrealismus – mit einer Prise Kitsch?
Uns mag dieses Ding kitschig erscheinen, aber der symbolische Wert des Totenschädels reicht in Mexiko zurück bis zu den Azteken, er steht für eine präkolumbianische Vision des Todes. Die Ironie, die darin steckt, diese Schädel zu verzehren – denn das ist ihr praktischer Zweck –, ist alles andere als Kitsch. Ich kenne kein anderes Land der Welt, das diesen Umgang mit dem Tod pflegt.
Als Sie 1962 nach Mexiko kamen, waren Frida Kahlo und Diego Rivera bereits tot. Paalen hatte 1959 Selbstmord begangen. Wie stand es um den Surrealismus?
Kahlo und Rivera waren nach Trotzkis Tod 1940 zum Stalinismus umgeschwenkt. Dieser Geist dominierte noch in den Sechzigern in Mexiko. Eine Front junger Künstler, die Generación de la Ruptura, kämpfte allerdings für eine Kehrtwende. Sie wollten dem Bürokratismus entkommen, in den die Muralisten um Rivera die Kunst manövriert hatten, und wehrten sich gegen den Nationalismus, für den deren Wandgemälde auch standen. Zu dieser jungen Generation gehörten Lilia Carrillo, Manuel Felguérez, Roger von Gunten – alles abstrakte Expressionisten. Ich war mit ihnen befreundet, aber künstlerisch gesehen, stand ich als Anhänger des Surrealismus sicher ein wenig alleine da.
Eines Ihrer Themen ist die naive Kunst Mexikos. In Ihrer aktuellen Ausstellung in Mexiko City ist ein mit grünen Papageienfedern gespickter Strohhut zu sehen, der einem Schamanen gehörte. Als sich bei der Eröffnung das gehobene Bürgertum über dieses Artefakt beugte, erschien das wie ein von Ihnen inszeniertes Spiel.
Der Gegensatz zwischen den Klassen und den Kulturen spielt in den Amerikas eine besondere Rolle. Trotz des Schadens, der angerichtet worden ist, besteht eine geheimnisvolle Anziehungskraft zwischen den beiden Extremen – heute vielleicht mehr denn je.
Sie haben in den vergangenen 50 Jahren Hunderte von Glaskästen gebaut, in denen Sie kuriose Fundstücke wie ethnologische Raritäten präsentieren. Und auch jetzt produzieren Sie weiter, als gelte es, all die Dinge zu retten, die auf Mexikos Flohmärkten angespült werden. Sind Sie mit den Jahren vom Künstler zum Sammler geworden?
Ich war immer ein Sammler, ein Liebhaber der Dinge. Sie reden auf eine sehr subtile Art mit mir. Wenn ich mich auf den Weg zum Flohmarkt mache, sage ich zu meinen Freunden oft im Spaß, dass ich das Orakel konsultieren gehe.
Was unterscheidet also den Sammler vom Künstler?
Einem Sammler geht es um den materiellen Wert der Dinge oder um ihre Geschichte. Ein Surrealist gibt den Dingen eine neue, poetische Dimension. Wobei es oft Jahre dauert, bis sich mir selbst die Botschaft einer Arbeit entschlüsselt.
In Europa gibt es eine starke Nachhaltigkeitsbewegung. Wie traditionsbewusst ist das mexikanische Kunsthandwerk?
Die Arbeit der Kunsthandwerker ist durch die Informationsflut der neuen Medien und die Globalisierung leider stark manipuliert worden. Das ging alles zu schnell. Als ich vor 50 Jahren nach Mexiko kam, besaß nur ein Reicher ein Radio, die naive Kunst nährte sich aus dem Unterbewussten.
Zerstört der Wandel auch die spezielle Beziehung der Mexikaner zum Tod?
Der Kult um die Toten ist nach wie vor lebendig. Aber er wird künstlich ins Extreme getrieben. Sie wollen jetzt den größten Zuckerschädel der Welt gießen.
Fühlen Sie Nostalgie, wenn Sie an das alte Mexiko denken?
Mexiko wird immer ein surreales Land bleiben. Wenn man sich abseits der sogenannten „kultivierten“ Leute bewegt und die Nähe zu den „gewöhnlichen“ Menschen sucht, begegnet einem das Surreale tagtäglich. Aber die Mexikaner sind sich dessen nicht bewusst, das macht es so charmant. Deshalb bin ich wahrscheinlich immer noch hier.
Das Gespräch führte Corinna Koch
Alan Glass wurde 1932 in Montreal geboren. Anfang der fünfziger Jahre ging er zum Kunststudium nach Paris. André Breton und Benjamin Péret richteten dort seine erste Ausstellung in der Galerie Terrain Vague aus. Seit 1962 lebt Alan Glass in Mexiko
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