Die Unschuld von Venice

Fotografie Mit seinen Bildern setzte der Fotograf Charles Brittin nicht nur den kalifornischen Beatniks ein Denkmal. Ein Bildband entdeckt ihn neu

Es gibt drei Sorten von Fotografen. Die ersten fotografieren aus dem Mittelpunkt des Geschehens heraus. Die zweiten laufen eher am Rande mit, verfügen aber über Geistesgegenwart. Im richtigen Moment verlassen sie ihre Deckung und knipsen. Und schließlich sind da die dritten, die in aller Unschuld Teil der Szenerie sind; durch ihre Nähe zu den Protagonisten gewinnen sie eine unvergleichbar zarte Bildsprache. Unter diesen Fotografen sind Spätentdeckungen zu machen, viele von ihnen sind sich weder ihres Könnens noch der Relevanz ihres Werks bewusst.

Am 23. Januar dieses Jahres starb Charles Brittin im Alter von 82 Jahren in Los Angeles, der Stadt, in der er beinahe sein ganzes Leben verbracht und dessen urbane und soziale Verwandlung er dokumentiert hatte. Anfang der sechziger Jahre fotografierte Brittin die Beat-Szene von Venice (L.A.), deren Teil er war. Die fotografische Arbeit des jungen Künstlers begann 1955 mit einem Liebeskummer. Zusammen mit seiner ersten Frau war er nach Venice gezogen, das am Meer liegt. Heute ist der Ort für seine New Age Hippie Freaks, für Bay Watch, und die Bodybuilder vom Muscle Beach bekannt. Damals gab es dort nur ödes Wasteland, aus dem stählerne Ölbohrtürme wie die Gerippe übergroßer Tannen emporschossen, und sonderbar geschnittene Häuschen in Sonne und Wind dahinsiechten. Ein marodes Kanalsystem durchpferchte das Land. Die Gegend, sagt Brittin, „hatte die Atmosphäre einer verlassenen Kolonie, deren Abgeschiedenheit Menschen anzog, deren Leben bereits verspielt war, oder sich gerade erst zu entfalten begann.“

Nonnen in weiter Ferne

Brittin schlug sich als Briefträger durch, lief durch die Gegend, die erste Fotoserie entstand. Diese Aufnahmen sprechen die Sprache des Flaneurs, eines Beobachters, der aus einer distanzierten, und dennoch empathischen Haltung sein Umfeld betrachtet. Es entstehen Aufnahmen von Nonnen, die in weiter Ferne über den menschenleeren Strand ziehen, von streunenden Katzen und Kindern, die in Ruinen spielen, sowie eine Reihe von hart kontrastierenden Bildern, die Brittin in einem verfallenen Freizeitpark auf dem Santa Monica Pier schoss.

An diesen Ort, der den amerikanischen Traum zu einer Fratze werden lässt, kehrte Charles Brittin immer wieder zurück, doch kam er bald nicht mehr allein; er hatte die Bekanntschaft von zwei wichtigen Figuren der in Venice ansässigen Beat-Szene gemacht: Wally und Shirley Berman. Das Paar öffnete ihm die Tür zum avantgardistischen Kreis, um die von Walter Hopps und Ed Kienholz gegründete Galerie Ferus, in der Andy Warhol dann seine erste Einzelausstellung haben sollte. Er lernte Frank Gehry, Dean Stockwell und Dennis Hopper kennen, sowie den Maler John Altoon und den Poet John Meltzer.

Der kleine Bungalow, den Brittin bewohnte, wurde bald zum Dreh- und Angelpunkt dieser exzentrischen Szene von Venice Beach. Auch Gestalten aus der Stadt legten hier ihre bürgerliche Hülle ab, nahmen Drogen, wurden gewalttätig. Brittin war die Spinne in diesem Netz und fotografierte was ihm buchstäblich vor die Füße fiel, wovon die oftmals ins Bild ragenden Arme, Beine, Rücken und Köpfe zeugen. Das vollkommen ungezwungen wirkende Zwiegespräch, in das Britten durch die Kamera zu seinen Motiven tritt, lässt die Unschuld der Figuren dieser kleinen, entrückten Gesellschaft erkennen.

Der Schwanenhals von Shirley Berman

Es entstanden aber auch etliche Porträts unter freiem Himmel. Aufnahmen von Spaziergängen durch Venice oder im Garten hinter dem Bungalow. Ton angebend ist hier das gleißend helle Licht, das auf seinem Weg durch die über dem Tal hängende Staub- und Smogwolke gebrochen wird. Sobald sich die Sonne aber schräg zu stellen beginnt, entsteht das irisierende Gleißen, das wir aus den Filmen von David Lynch kennen; in Brittins Bildern schlägt es mal harte Schatten, mal beleuchtet auf schmeichelhafte Art den Schwanenhals von Shirley Berman. An manchen Tagen, wenn ein dichter Bodennebel aufzusteigen beginnt, ist es, als ob ein weißer, weichzeichnender Filter über die Szenerie gelegt wurde. Eine Aufnahme von 1958 unter eben diesem Himmel zeigt das junge Ehepaar Tommy und Suzy Higgs, wie sie im Begriff sind, mit einem schweren Motorrad über den menschenleeren Boardwalk zu preschen und einen letzten, forschen Blick in Brittins Kamera werfen.

1962 verändert sich Brittins Leben schlagartig. Er gerät in ein Treffen des Congress of Racial Equality. „Wer kann es sich dieses Wochenende leisten, verhaftet zu werden?“ lautet dort die wichtigste Frage. Ein halbes Jahr später war aus Brittin ein tief in den Freiheitskampf der Afroamerikaner verstrickter Front-Fotograf geworden, der rassistisch orientierte Wohnungsbauprojekte und Schulen besetzte, Demonstrationen organisierte und schwarze Kindertagesstätten aufbaute. Der Kontakt zu seinem früheren Freundeskreis brach ab. Viele alte Freunde aus der Beat-Szene wussten nichts von Brittins späterem Leben und den dabei entstandenen Fotografien.

Fehlgeleiteter Marlon Brando

Obwohl Brittin nun sein vertrautes Terrain verlassen hatte und anstelle von lieben Freunden protestierende Aktivisten, prügelnde Polizisten und Anhänger der American Nazi Party fotografierte, blieb sein Blick der eines Unschuldigen. Wieder gelingen ihm Aufnahmen von großer Nähe und Empathie, wie die Abbildung eines sich im Sitzstreit befindenden Mannes, vor den gerade zwei Polizisten treten und sich mit ihren massiven Körpern vor Brittins Kamera schieben. Die Lichtgestalten der Fotografien dieser Tage sind Bobby Seal, Kathleen Cleaver und Bob Avakin. Einmal mischt sich noch ein fehlgeleitet wirkender Marlon Brando unter die CORE-Aktivisten, die mit Schildern und Sprechgesängen gegen den Bau einer – nur für die weiße Mittelschicht vorbehaltene – Siedlung aufmarschieren.

Von Susan Sonntag hingegen schoss Brittin 1966 bei der Einweihung des Peace Towers am Sunset Boulevard das wohl liebreizendste unter den Fotos, die von ihr existieren. Während dieser Zeit arbeitete er für die Designer Ray und Charles Eames, die viel Verständnis für seine, auch polizeilich relevante, politische Arbeit aufbrachten. Es waren dann gesundheitliche Probleme, die Brittin in den siebziger Jahren zwangen von der Bildfläche zu verschwinden. Von einer Leber- und Nierentransplantation erholte er sich nur langsam. 20 Jahre dauerte es, bis er 1996 wieder zu fotografieren begann. Doch wie viele seiner Generation wirkte er resigniert. „In den sechziger Jahren kannte ich viele Leute, die gewillt waren für ihre Ziele zu kämpfen. Die Mehrheit der Leute, die ich heute kenne und die gegen das sind, was derzeit in den USA geschieht, sind nicht gewillt, wirklich etwas dagegen zu unternehmen. Die Menschen sind zu beschäftigt mit ihrem alltäglichen Leben.“ Bis zu seinem Tod lebte Charles Brittin in Los Angeles, dessen Meer und Menschen er in den letzten Jahren mit einer kleinen Digitalkamera fotografierte, die er immer bei sich trug.

West and SouthCharles Brittin Hatje Cantz Verlag 2011, 216 S., 39,80

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