Trifft man den scheuen Designer Livio Graziottin und schaut in seine hellblauen Augen, könnte man annehmen, dass seine kubischen, wie Panzer für die Augen wirkenden Brillen zur Abwehr dienen. Vielleicht vor zu neugierigen Blicken, vielleicht auch vor etwas anderem. Graziottin empfängt in seinem Laden im Erdgeschoss eines verwitterten Plattenbaus, gleich neben dem Märkischen Museum in Berlin-Mitte. Das Innere des Ladens nimmt den postindustriellen Charme der Umgebung auf.
Jeder Gegenstand im Laden ist individuell gestaltet. Handgefertigte Taschen aus alten Lederresten, die mit antikem Silberschmuck verziert wurden, hängen an Ketten von der Decke herunter, daneben, von Staub überzogen, ein paar gläserne Grablichter. Eine Gruppe von Schaufensterpuppen, die sich in der Mitte des Raumes formiert, trägt wattierte Mäntel, die an die Unterkleider von Samurai-Kriegern erinnern. Sie stammen noch aus Graziottins vorherigem Projekt, dem Modelabel 24/7.
Vor den Schaufenstern, von denen eines die Kuboraum-Masken und ein anderes eine Auswahl an Berliner ‚Trippen‘-Schuhen zeigt, hängen zwei lange Teppiche, gewebt aus hunderten von metallenen Brillengestellen. Einer in Silber, einer in Gold.
Die Kuboraum-Masken-Brillen, hinter denen man sich, ähnlich wie hinter einer Maske, verstecken kann und die ein Gesicht verkleiden, werden dagegen nüchtern präsentiert. Jede liegt in ihrem eigenen Fach in der Auslage zweier Vitrinen.
Wie aus Venedig
„Kuboraum-Brillen sind vielmehr als Masken zu verstehen, die einen komfortablen Abstand zur Außenwelt kreieren, ohne diese jedoch komplett abzustoßen“, sagt der 47-Jährige. Und tatsächlich haben die Masken trotz ihrer statischen Eleganz und massiven Kühle etwas Humorvolles – nach Art der Masken Veneziens, die so bedrohlich wie lächerlich sein können.
In Norditalien entwickelte 1286 ein Dominikaner-Mönch die ersten gläsernen Linsen für Sehschwache, aber das Geheimnis hütete der Erfinder eifersüchtig. Sein Ordensbruder Jordan von Pisa plauderte es 20 Jahre später aus. Und ein weiterer Bruder, Alessandro della Spina, begann mit der Produktion.
Etwa 700 Jahre später studierte Livio Graziottin in Venedig Kunst, begann zu schneidern und gründete Anfang der neunziger Jahre mit E-Play ein Modelabel, das ihn plötzlich in das grelle Licht der schnelllebigen Modeszene Italiens katapultierte. Sein Projekt Kuboraum, das er später in Berlin entwickelte, ist als bewusster Antipode zu dieser Welt gedacht. „Ich hatte die komplexe Arbeit, die in einem eigenen Modelabel steckt, satt und sehnte mich nach einem simplen Projekt, das Geradlinigkeit in mein Leben bringt“, sagt er.
Berlin schien ihm dafür der geeignete Ort. Die Stadt faszinierte ihn wegen ihrer nüchternen Architektur – die weiten Straßenzüge, ihre Baulücken, Wohnbunker, Betonfassaden.
Die Mentalität der Bergleute
Graziottin interessierte das mit Tradition und Ritus verflochtene Handwerk. Dafür reiste er auch um die Welt. „Am meisten beeindruckte mich das Kunsthandwerk Nordindiens und Nepals, dessen Klarheit den Produkten trotz ihrer Einfachheit etwas höchst Kultiviertes verleiht. Die Mentalität der Bergleute spiegelt sich in den dort hergestellten Dingen.“ Einige Reliquien dieser Zeit, wie der Mantel eines Medizinmannes, hat er im Laden ausgestellt.
Es geht in Graziottins Laden nicht nur um Masken. Der gesamte Raum soll künstlerisch sein. „So ist Kuboraum! Das ganze Projekt ist simpel, quadratisch und direkt.“ Es arbeiten nur drei Leute mit – ein Gestalter, ein Handwerker und ein Vermarkter. In den Nullerjahren, mit der sich dichter vernetzenden Globalisierung, hat Graziottin erlebt, wie viele der kleinen, seit Generationen bestehenden Kunsthandwerksbetriebe seiner Region schließen mussten. Die großen Modehäuser verlagerten ihre Produktion nach Asien und Osteuropa, und die kleineren Zulieferer einer der ältesten Produktionsstätten Europas saßen plötzlich am falschen Ort. Wer so eine plötzliche Verknappung von Aufträgen überlebte, musste seinen Fokus nun auf einen Markt außerhalb Italiens richten.
Der italienische Betrieb, in dem der Hersteller der Kuboraum-Masken, Antonio Pincin, arbeitet, hat den Übergang in die neue Zeit unbeschadet überstanden. „Sie sind eines der besten Unternehmen für Brillenmanufaktur, die wir in Italien haben, was die Qualität und die Erfahrung in der Umsetzung betrifft. Ich bin stolz, dass sie mit uns zusammenarbeiten“, sagt Graziottin.
So sind die Brillen trotz ihrer massiven Form leicht, die Sicht durch die Gläser ist klar. Bei ihrer Qualität könnte man die Brillen auch als Luxusartikel anbieten, doch die Preise sind moderat. Kuboraum umfasst mittlerweile vier Linien. Es gibt Masken für Sehschwache und Scharfsichtige, für die Tagessonne und das fahle Nachtlicht. Und solche, die man 24 Stunden durchtragen kann, da sich die Tönung der Gläser mit dem Licht verändert.
Die Brillen treffen offenbar einen Nerv – sie verkaufen sich weltweit. Livio Graziottin kann sich kaum retten vor Mails von Leuten, die aus ihrem Gesicht dank ihm einen „Kuboraum“ gemacht haben.
In einer losen Reihe porträtiert Corinna Koch Menschen, die ein seltenes Kunsthandwerk betreiben. Zuletzt: Nagelmalerinnen
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