Es war ein dünner, verzwurbelter Draht, der da an einer Gebäudewand hing. Der Fotograf Roger Ballen hielt seinen Wagen an und machte eine seiner berühmtesten Aufnahmen; er fotografierte den Gefängnisangestellten Sergeant F. de Bruin vor dieser Mauer, hinter seinem Kopf der Draht, 1992 in Orange Free State, Südafrika. Es war dieser Draht, der wie die Nudel am Mundwinkel von Loriot den Fokus auf einen anderen Teil der Szene verschoben hatte. Die Aufnahme zeigte so simpel wie eindringlich, dass Dokumentarfotografie viel mehr ist als die bloße Abbildung von Realität.
Es war das vermeintliche Hauptmotiv des berühmten Bildes, also Sergeant F. de Bruin, der sich mit einem unglaublich stoischen Ausdruck im Gesicht vor der Wand aufgebaut hatte, um von dem damals 48-jährigen Fotografen abgelichtet zu werden, das einen Guardian-Redakteur so sehr auf die Palme brachte, dass er Ballen Lügen schimpfte. Was der britische Kollegen übersah, war die formal-ästhetische Synthese, die der kleine, kecke Draht mit den gummibandähnlich in die Breite gezogenen Lippen Sergeant F. de Bruins einging, die dieser in scheinbar jahrelang praktizierter Routine aufeinanderpresste.
Outcasts der Post-Apartheid
Was dem Guardian-Journalisten ebenfalls entging: dass ein Musikvideo die Antwort darauf geben könnte, welches Verständnis von Authentizität Roger Ballen seiner Fotografie unterlegt. Eine Antwort liefert der Clip der südafrikanischen Band Die Antwoord. Für „I Fink U Freeky“, das mit 35 Millionen Aufrufen das meistgeklickte Video der südafrikanischen Rave-Rapper ist, war Roger Ballen mit der Band im Schlepptau in die düsteren, von weißen Outcasts der Gesellschaft behausten Abbruchbuden und Squads seiner früheren, fotografischen Sozialstudien zurückgekehrt und hatte die Band im Stil der aggressiv zuckenden Schwarz-Weiß-Bilder aus der Serie Boarding House gefilmt.
Die Fotografien, die im Zuge der Arbeit mit der Band in diesen düsteren Kammern entstanden sind, findet man nun im Bildband Die Antwoord; sie sind dort früheren Arbeiten aus Ballens Serien Boarding House und Shadow Chamber gegenübergestellt. Der Bildband legt zum ersten Mal ein Geheimnis offen, das eigentlich schon seit Langem keines mehr war: Roger Ballen hat es gewagt, die letzten Schritte in seiner Metamorphose vom Dokumentarfotografen zum Künstler zu vollziehen. Ballen hat sich die kleinen, verzwirbelten Drahtklumpen, die mit Filzmarkern, Kohle, Fett und Blut gemachten Graffitis (oder besser Höhlenmalereien an den Wänden der Abbruchhäuser), die er mit den Jahren sich steigernder Obsessivität gesammelt hatte, schlussendlich zu eigen gemacht. Daraus wurde ein Realitätsfake, eine Fiktion. Denn Ballen schmiert diese Graffitis selbst an die Wand – naive Fratzen mit Grinsegesichtern, Segelohren und Stachelhaaren, von denen man meinte, dass sie nur aus der Hand eines Degenerierten stammen können, und deren Autorschaft Ballen einige Jahre halb verschämt, halb geheimniskrämerisch als unbeantwortete Frage im Raum stehen gelassen hatte. Trotz oder wegen ihrer grotesk-dilettantischen Machart verfehlen diese Anarchozeichnungen in keinster Weise ihren Zweck; sie reichern die kargen Szenerien, in denen er zunächst die Bewohner der Squads fasste, zu denen sich später Ninja und Yolandi von Die Antwoord gesellen sollten, mit einem Prisma zusätzlicher Bedeutungen an.
Ballens Interaktionen in den Abbruchhäusern lassen in ihrer zugleich aggressiv und befreienden Geste die Bilder der ersten Tags und Graffitis, die in den siebziger Jahren in New York City plötzlich im öffentlichen Raum auftauchten, wie ein Déjà-vu aus der Erinnerung aufsteigen. Die Assoziation, die Ballens Zeichnen produziert, führt aber noch weiter. Zu Künstlern wie Jean-Michel Basquiat und Keith Haring, die diesen anarchischen Ausdruck der Sprayer ihrer Zeit in ihre Kunst einfließen ließen, bis hin zu dem heutigen Künstlerduo Harald Thys und Jos de Gruyter. Letztgenannte integrieren in ihre Filme so groteske wie schöne Objekte, von denen man nur annehmen kann, dass sie direkt aus dem Urgrund ihrer Psyche entsprungen sind.
Neben den Zeichnungen finden sich in Ballens Fotografie immer auch diverse, unauffällig integrierte Metallobjekte, die in ihrer schlichten, vorgeblich funktionalen Ästhetik wie Abstraktionen unnütz gewordener Gebrauchsgegenstände wirken und so ebenfalls eine Brücke zu den Charakteren schlagen, die Ballens Bilder behausen. Geformt sind viele dieser Objekte aus dem alten Freund Draht. Und zu den Menschen, die sich ebenfalls wie Skulpturen oder Formen in Ballens Szenerien einfügen, gesellen sich immer wieder die Tiere der Abruchhäuser: die Ratten sowie Haustiere ihrer Bewohner. Man sieht kleine, zerbrechliche Hundewelpen, die keine Vorstellung von dem Horror ihres Heims haben; sie tappen entdeckungsfreudig durchs Bild. Man sieht einen abgeschlagenen Aluminiumtopf, darin ein Haushahn, der drei Brüdern gehört. Ballen hat sie – unter der Decke verkrochen und jeder nur eine dreckige Hand der Kamera entgegenstreckend – fotografiert. Oder die weiße Gans, die von der in einem Bad schwarzen Wassers sitzenden Yolandi im Arm gehalten wird.
Roger Ballen ist in New York geboren, ein promovierter Geologe, der auch Psychologie studiert hat. Seit den siebziger Jahren lebt er in Südafrika. Vor sechs Jahren wurden Yolandi und Ninja von Die Antwoord zum ersten Mal auf Ballens Arbeiten aufmerksam, auf die unverblümte Gewalt und herbe Menschlichkeit in den Bildern.
Die Band beschreibt ihre Eindrücke mal wie eine Implosion, dann wie eine ganz neue, künstlerische Welt, die sich ihnen auftat: „Verglichen mit Roger Ballens Freak-Mode-Zone erschienen uns die Musik und die Bilder, an denen wir bis dahin gearbeitet hatten, plötzlich völlig nichtssagend und belanglos. Wir wollten auch solch bedeutsame Kunst machen, die einem in die Fresse haut. Ballens verrückte Graffiti haben uns stark beeinflusst. Sie haben die Filter aufgerissen, mit denen wir uns vor unseren animalischen vorbewussten Bereichen schützen wollten. Wir durchliefen dunkle und gefährliche psychische Veränderungen, tauchten in die ursprünglichsten Bereiche unseres Bewusstseins ein und verschmolzen mit den Schatten unseres eigenen Selbst. Anstatt zu versuchen, unseren Platz in der Gesellschaft zu finden, entschlossen wir uns, unsere eigene, einzigartige Form von ,Leck mich‘-mäßiger Popmusik zu machen. Wir nannten diese neue Darkpop-Gruppe Die Antwoord.“
Keith Haring in den Squads
Als Die Antwoord nach einem Jahr des durch Ballen-Schock bedingten Produktionsstopps mit ihrem Video „Zef Side“ an die Öffentlichkeit traten, schafften sie es über Nacht, der halben Musikindustrie die Köpfe zu verdrehen, das erste Mal nach Dekaden schaute man Richtung Südafrika. „Zef“ entstand auf dem künstlerischen Nährboden des Kapstädtischen White-Trashs der Post-Apartheid und produzierte Pflänzchen wie den Rapper Ninja sowie seine übel redende Muse Yolandi, die ihn seit Kindheitstagen an stetig umkreist.
Ninja und Yolandi nennen sich selbst gerne Ballens kleine Punk-Protégés und machen keinen Hehl daraus, welche Bedeutung der Fotograf für ihre Arbeit hat. Er sei nichts weniger als der Schöpfervater von Die Antwoord. In einem Video kann man sehen, wie die Musiker den Fotografen und Mentor eifrig umringen, es ist die Aufzeichnung eines Gesprächs, das nach dem Abdrehen von „I Fink U Freeky“ stattfand und im Bildband nachzulesen ist. So konnte es Ballen, ganz großväterlich gerührt, den „Kleinen“ nicht versagen, dass sie seiner Arbeit hier und dort etwas abluchsen, seine Zeichnungen auf die T-Shirts, Jogginghosen und Schweißbänder drucken, die nun immer wieder in ihren Videos auftauchen.
So war es also Die Antwoord, die die Antwort zur Frage der Kunst in Ballens Arbeit gaben und auch noch dem letzten Youtube-Seher offen darlegten.
Die Antwoord
Roger Ballen Sprache: Englisch, Prestel 2013, 128 S., 45 s/w-Abb., 29,95 €
Corinna Koch schrieb zuletzt über Martin Parr, den Fotografen mit dem ironischen Blick
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