Schon eigenartig, wie rasch mit jeder neuen technischen Errungenschaft unsere Erinnerung an die Zeit davor verblasst. Das Leben vor dem iPhone, diesem kleinen, blau leuchtenden Kästchen, das nachts die in seine Schätze vertieften Gesichter illuminiert, ist in diesem Augenblick gerade noch vorstellbar. Aber die Erinnerung an ein Leben ohne Mobilfunk, daran, wie es war, nach Hause zu eilen, weil man einen Anruf erwartete, beginnt sich bereits zu verflüchtigen. Und der süße Moment voller Erwartung am Tresen eines Fotolabors, wenn einem das Päckchen Urlaubsfotos ausgehändigt wird, erscheint uns heute so fern und fremd wie das Versenden eines Briefes oder das nächtliche Abschneiden einer Locke des Geliebten.
Und doch bedarf es manchmal nur eines einzigen F
einzigen Fotos, um uns zurück in jene Vergangenheit zu versetzen. Denn Fotos sind Tretminen der Erinnerung, Wissensbomben, die den Zugang zu einer anderen Zeit freilegen, zu einer Zeit, die man vielleicht selber gar nicht mehr erlebt hat; aber mache Bilder lassen uns durch ein Fenster treten und uns mit der Welt und den Personen hinter dem Bild identifizieren. Solche Bilder sind wie seltene archäologische Funde, deren Wert sich erst dann erschließt, wenn die lautlose und seltsame Schleife der großen Zeit die Gesellschaft an einen Punkt geführt hat, der dem damaligen Lebensgefühl nahe ist.Push the ButtonDas kann manchmal lange dauern. Das von der Yale University Press herausgebrachte Buch Snapshot. Painters and Photograph, Bonnard to Vuillard führt uns in das späte neunzehnte Jahrhundert, in die Zeit, als Eastman Kodak mit der ersten handgehaltenen Kamera eine Erfindung machte, die in ihrer Bedeutung für unser Leben mit dem Einzug des iPhones vergleichbar ist. Mit dem Slogan „You push the Button, we do the Rest“ stellte dieser schlaue Geschäftsmann aus Rochester, New York, innerhalb weniger Jahre ein Heer von gut situierten Amateurfotografen auf, die dank kinderleichter Technik begannen, den Alltag zu fotografieren. Das schmucke, aus Holz gefertigte Kästchen, das 1880 auf den Markt kam, kostete umgerechnet rund 6.000 Dollar, und war also vornehmlich ein Produkt für die bessere Gesellschaft, aus der damals, vor dem Ersten Weltkrieg, auch die meisten Künstler entstammten.Snapshot trägt bisher nicht bekannte Schnappschussfotografien von sieben postimpressionistischen Malern zusammen. Eastmans Gadget änderte den Blick dieser Künstler auf ihr eigenes Leben so tiefgreifend, dass es die Palette ihres künstlerischen Ausdrucks erweiterte und auf den Kopf stellte. Die Fotografie bedeutete für sie die Errungenschaft des Wissens um Bewegung und Perspektive, aber auch den Verlust einer gewissen Naivität, was die Endlichkeit und Vergänglichkeit der Dinge betraf. Der junge Henri Evenepoel, für den das Fotografieren zu einer Obsession wurde, machte neben einer Reihe von Selbstportraits und Aufnahmen seines Ateliers auch eine Anzahl von Fotos seiner Kinder; er fotografierte sie, wenn sie krank waren. Wie zarte Mumien in ihrem Krankenbett eingelullt, machen sie die Angst des Vaters vor dem Tod sichtbar. Evenepoel nannte sie „dinghafte, unsterbliche Souvenirs“.Im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert machte die Fotografie sichtbar, was zuvor nicht wahrgenommen, und somit nicht gedacht werden konnte. Sie wurde zu einem starken Verfechter der Beweglichkeit, machte Bewegungsabläufe klar, über die dann hart gestritten wurde, wie zum Beispiel über die Frage, ob es beim Gehen einen Moment gebe, in dem beide Füße am Boden sind. Zum anderen lieferte sie durch die dilettantische Handhabung der Apparatur eine Reihe von Zufallsaufnahmen, die ihren überraschten Erzeugern Inspiration für neue Perspektiven und Blickwinkel gab. Das Gadget entpuppte sich also schon bald als Türöffner, der die Malerei von der Pose in die Bewegung führte, wogegen sich nicht wenige Skeptiker auflehnten. „Es ist der Künstler, der die Wahrheit spricht, und die Fotografie, die lügt, denn in der Wirklichkeit ist es nicht möglich die Zeit anzuhalten“, sagte Auguste Rodin.Unverblümte AbbildungenDie Widerstände der besser gestellten Gesellschaft gegen die staubigen Blüten der Industrialisierung führten nicht selten in die Nostalgie und ins Idyll. Es war die Ruhe vor dem Sturm, während in den Städten dieser Zeit, die noch keine Denkmalpflege kannte, alte Gemäuer und Paläste zerfielen, während an ihren Flanken moderne Stahlgerüstbauten errichtet wurden, zog man aufs Land, um diesem Wahnsinn zu entfliehen, und sich in der behaglichen Nähe von Freunden und Familie am „einfachen“ Leben zu erfreuen.In der Kunst manifestierte sich diese Abwehr gegenüber bestimmten Aspekten der Moderne anhand des inflationären Sujets des Pittoresken. Man malte das Alltägliche und setzte so eine andere Auffassung von modernem Leben. Durch die Fotografie erfanden sie eine ästhetische Wertschätzung des Trivialen, und forschten daraufhin innerhalb ihrer Malerei nach den Ursachen und Funktionsweisen dieser Schönheit. Somit demokratisierten sie ein Stück weit die Entscheidung darüber, was als schön erachtet werden kann. Der Weg, den die ersten Schnappschussfotografen mit ihren unverblümten Abbildungen des Lebens ebneten, wurde später von Künstlern wie Marcel Duchamp und Andy Warhol weiter begangen, und führt mit den fotografischen Arbeiten von Gerhard Richter und Wolfgang Tillmans fort bis unsere heutige Zeit. Kodak ist seit Anfang dieses Jahres Legende, die Pionier-Firma von einst musste Insolvenz anmelden. Aber ihren Geist finden wir in unserer Gegenwart wieder, in Aufnahmen von angeschnittenen Personen, oder solchen, die dem Betrachter mitunter den Rücken zukehren, in den Schnappschüssen aus unseren iPhones eben.
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