Denkt man an England, diese feuchte Insel, dann denkt man an die Exzentrik ihrer Bewohner, denkt an den britischen Humor, der durch seine trockene und manchmal krude Kaltschnäuzigkeit besticht. Und man denkt unweigerlich auch an Martin Parr: Keine Bilderschau dieses Volks der Insulaner, Weltherrscher, Industrialisierer, Upper-, Lower- und Middle-Classler kommt ohne eine grelle Farbaufnahme dieses britischsten aller Fotografen aus.
Wie kein anderer hat Parr in den vergangenen 40 Jahren seine Landsleute auf Schritt und Tritt verfolgt, ihnen mit gezückter Kamera über die Schulter geschaut, in den Ausschnitt und in das Cocktailglas. Er hat sie beim Shoppen, Schlemmen, Saufen, Beten und beim Schönheitsschlaf am Badestrand erwischt. Parr fotografierte ihre von Eiscreme verschmierten Gesichter, ihre Gier am Hot-Dog-Tresen, ihre Zigarettenstummel, Sonnenbrände und Speckrollen am Nacken.
Im Jahr 1986 veröffentlichte Parr sein Buch The Last Resort. Seit diesem Zeitpunkt sind die Fotos des schlaksigen, hochgewachsenen Mannes aus Yorkshire Teil des öffentlichen Bewusstseins.
Parr hatte einige Zeit damit verbracht, die britische Arbeiterklasse an den zahlreichen Badestränden des Landes in ihrer leisure, ihrer Freizeit, abzubilden, was, wie wir spätestens seit Thomas Manns Tod in Venedig wissen, ein gefundenes Fressen für den voyeuristischen Blick ist. Die besten dieser Strandfotos aus den achtziger Jahren sind nun in dem Band Life’s a Beach versammelt.
Dokumentation als Kunst
Diese Bilder haben auch eine politische Dimension; im Hintergrund der feinfühlig komponierten Gruppenbilder sind deutlich die Spuren des Verfalls der einstigen Industriegroßmacht sichtbar, da sich die von der Arbeiterklasse frequentierten Badestrände just neben nutzlos gewordenen und dem Verfall preisgegebenen Fabriken befanden. Doch Parr machte nicht den Fehler, seinen entlarvenden Blick lediglich auf die unteren Schichten der Bevölkerung zu richten. In seinen folgenden Publikationen nahm er die aufstrebende britische Mittelschicht ins Visier und fing deren Alltagskomödie in den gleichen, scheinbar ungeschickt eingefangenen Aufnahmen in übersättigten Farben ein.
Parr nutzte diese Stilmittel vorsätzlich. Aus dem Spiel mit der hintergründigen Ästhetik von Amateurfotografien wollte er eine eigene, unverwechselbare Bildsprache kreieren. Und tatsächlich ging das Konzept auf, mehr noch, es gelang Parr als einem der ersten europäischen Fotografen der Nachkriegszeit, seine Fotodokumentationen nonchalant zur Kunst zu erklären und allen beim Anblick seiner derben, bildlichen Fundstücke murrenden Kritikern den Laufpass zu geben.
Derweil begeisterte er das Volk, das seine zahlreichen Publikationen verschlang und in Massen in seine Ausstellungen strömte (die letzte dieser Ausstellungen trug den nicht ohne Selbstironie gewählten Titel Parrworld). Die Kaltschnäuzigkeit, mit der Parr seine einst für Presse und Werbung ganz und gar undenkbar saloppen Bilder zum Kult werden ließ, war wegbereitend für Fotografen wie Jürgen Teller, Wolfgang Tillmans und Alec Soth.
Doch wer ist der Mann, der sich stets hinter einem ironischen Lächeln verbirgt? Trotz seiner medialen Omnipräsenz, trotz der zahlreichen Interviews und Dokumentarfilme bleiben seine Motive im Dunkeln: Es scheint unmöglich, denselben durchleuchtenden Blick, mit dem Parr die Gesellschaft und ihre Individuen seziert, auf ihn zu werfen. Doch nun scheint eine weitere Veröffentlichung Abhilfe zu schaffen: Das in diesem Herbst erscheinende Buch The Non-Conformists mit Bildern von Martin Parr und Texten seiner Gattin Susie Parr.
Die Nonkonformisten, die dem Buch den Titel gaben, sind eine urenglische Glaubensgemeinschaft, die sich im 17. Jahrhundert von der Kirche Englands abspaltete. Als Martin Parr 1975, drei Jahre nach Beendigung seines Fotografiestudiums in Manchester, nach Yorkshire zog, um in Hebden Bridge mit ein paar anderen stadtflüchtigen Jungkünstlern ungestört Kunst zu machen, begegnete er ihnen.
Intime Bräuche
Das selbstvergessene Leben dieser Menschen war es, das seinen Spürsinn für die morbide, zerbrechliche Schönheit weckte. Dass den Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die hierbei entstanden, die Parr-typische Lakonie gänzlich abgeht, kann man rückblickend seinem zarten Alter von 23 Jahren und der noch ungebrochenen Sehnsucht nach einer friedlichen, offenen Welt zuschreiben. Ein weiterer Aspekt, der die Zartheit des Blicks erklären könnte, liegt in Parrs Entdeckung des Fotografen Tony Ray-Jones, der im Alter von 30 Jahren an Leukämie gestorben war, nicht ohne davor das Kunstverständnis der verstaubten Fotoszene Englands umzukrempeln. Ray-Jones entwickelte übrigens auch an den Badeorten, wie später Parr, eine fotografische Gesellschaftskritik, die von einem erfrischend leichtfüßigen Humor getragen wird.
Die Rosigkeit der Aufnahmen, die im Laufe eines Jahres in Yorkshire entstanden, könnte man aber auch dem simplen Fakt zuschreiben, dass Parr verliebt war. Als Rosie nach Hebden Bridge zog, begann sie mit Martin das Projekt um die Non-Konformisten zu entspinnen, gemeinsam suchten sie die einzelnen Charaktere auf, die sie wie einen Strauß Mauerblümchen in ihrer Reportage zusammenbanden. Da gab es den Minenbesitzer und seine fünf Bergleute, den fast greisen Sodawasserfabrikanten, den Betreiber des alten Lichtspielhauses, den Club der „Henpecked Husbands“, bis hin zu den letzten Mitgliedern der bedrohlich ausgedünnten Gemeinde der Methodisten.
Es entstand eine umfassende Serie von vorsichtig komponierten Bildern, die mit erstaunlicher Zartheit das intime Leben und die ureigenen Riten dieser meist weit über 60-jährigen Mitglieder der Gemeinde zeigen. Aus diesen Fotografien geht deutlich hervor, dass Rosie und Martin damals tatsächlich Einlass in das Leben dieser so zurückgezogen lebenden Menschen erhalten hatten und diese Menschen sich dem jungen Paar voller Wohlwollen geöffnet hatten. So zeigt das Buch neben den zahlreichen in und um die Kapelle abgehaltenen Jubiläumsteapartys, Krippenspielen und Frühjahrsputzen, Hochzeiten und Herbstauktionen, auf denen Gartenfrüchte versteigert wurden, auch die intimen Bräuche einzelner Individuen der Gemeinde.
Während Parr diese Arbeit heute gewohnt nüchtern auf die Aussage „It was a celebration of the traditional aspects of the town“ herunterbricht, erinnert sich Susie in ihrem Vorwort zum Buch an den im Rückblick doch schmerzlichen Moment, als die Hoffnung, die nach dem Auftauchen des jungen Paars in der Gemeinde aufkeimte, der Einsicht weichen musste, dass die jungen Leute tatsächlich nur als Beobachter gekommen waren – und sich nach dem Ende ihrer Arbeiten sang- und klanglos vom Acker machten. Es bleiben die Bilder, die auf wundervolle Art Parrs kalten Blick auf das unzulängliche menschliche Dasein mit einer wohldosierten Portion Empathie anreichern, einer Empathie, die den Bildern etwas von jener bissigen Schärfe nimmt, die heute das Markenzeichen Martin Parrs ist.
Life’s a Beach Martin Parr Thames & Hudson 2013, 124 S., 15,95 € The Non-Conformists Martin Parr, Susie Parr Aperture 2013, 168 S., 45 € Corinna Koch ist die Bildband-Queen des Freitag
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