Vom Fahrtwind diktiert

Amerika Sie nennen sich Hobos, Trainhoppers, Maeves oder Runaway Kids. Mike Brodie hat nun faszinierende Bilder dieser Subkultur gemacht

Eine Zugreise zu unternehmen, ist die wohl entspannteste Form des Reisens, anders als in einem Flugzeug besteht über kurz oder lang die Möglichkeit, die Stahlkarosse zu verlassen, um seine eigenen Wege zu gehen. So lässt man sich, seiner Freiheit sicher, einlullen von dem rythmischen Cha-Cha-Cha, das die Räder auf ihrem Weg über die Gleise von sich geben, und versinkt in das Schauspiel der vorbeiziehenden Landschaft, während sich vor dem inneren Auge die Gedanken wie Wolken an einem heißen Sommernachmittag am Horizont bilden und ein aus dem Unterbewusstsein aufkommender Wind die Erinnerungen aufsteigen lässt.

Es ist der Mensch in der Reife seiner Jahre, der diese beschauliche Art des Reisen zu schätzen lernt, und vielleicht findet man ihn dann später auf einer Kreuzfahrt wieder, einer Art des Reisens, die allerdings im Vergleich zur Zugfahrt nicht nur den Komfort potenziert, sondern auch die Bedeutung des Zieles eliminiert, so dass dem Reisenden das Unterwegssein an sich genügt und er das Interesse an Land und Leuten verliert und vollkommen damit zufrieden ist, diese Dinge aus weiter Ferne zu betrachten.

In seinem Verzicht, mit der Fremde in Kontakt zu kommen, gleicht der Kreuzfahrtpassagier einem anderen Reisenden, der sich auch am anderen Ende der sozialen Hierarchie befindet. Er tauchte Mitte des 19. Jahrhunderts in den frisch Vereinigten Staaten von Amerika auf, als ein Schwarm von mittellosen Bürgerkriegsveteranen keinen anderen Weg sah, als die Güterzüge, die das weite Land durchkreuzten, zu missbrauchen, und sich auf die fahrenden Züge warf, um heimwärts zu kommen. Andere folgten dem Beispiel dieser ersten Hobos und sprangen auf die westwärts fahrenden Züge, um als Wanderarbeiter auf den Plantagen Kaliforniens zu arbeiten.

John Lee Hooker und Dylan

1911 waren rund 700.000 Amerikaner on the fly, hatten ihre Habseligkeiten an einen bindle stick geknotet und durchkreuzten auf Güterzügen das Land. Diese Männer, die sich gegenseitig Bo nannten, säten den Samen einer Subkultur, die gegen die starke Strömung der nach Wohlstand strebenden Gesellschaft ihre knöchrigen Äste bald über das ganze Land erstreckte und ihre Dornen tief in die Herzen der Amerikaner bohrte, um still und leise einen alten Wunsch nach grenzenloser Freiheit zu revitalisieren, der sich wiederum mit dem Wunsch paarte, an einem anderen Ort, hinter den Regenbögen, die die weite Prärie des Mittleren Westen überspannen, möge ein besseres Leben warten.

Hoboing wurde zum Sinnbild für diese Wünsche, und der Hobo, dessen löchrige Hosentaschen keinen Penny zu halten vermögen und dessen Haupt in der Regel von einer Schar von Krumen besiedelt wird, sickerte in die amerikanische Erzählung ein, wurde besungen und beschrieben. Sei es als die von Gott vergessenen Landarbeiter George Milton und Lennie Small in John Steinbeck’s Von Männern und Mäusen, oder als William Kennedys Ironweed, sei es in unzähligen Country- und Bluegrass-Songs wie John Lee Hookers „Hobo Blues“, Bob Dylans „I Am a Lonesome Hobo“ oder dem oft gecoverten „Big Rock Candy Mountain“ von Harry McClintock, das Liedchen, das auch George Clooney auf seiner Hobo-Odysee im Film O Brother, Where Art Though der Coen-Brüder trällert. Jack London und Jack Kerouac haben sich ebenso wie Ernest Hemingway, Robert Mitchum oder George Orwell in jungen Jahren selbst einmal auf die herausfordernde Reise begeben.

Doch während diese unerfahrenen Road-Kids die von ihren Bos, Angellina oder schlicht Punk genannt wurden, nur kurz in diese Welt eintauchten, gelang es andererseits nur wenigen echten Hobos, den Kreis ihrer Bos zu verlassen.

Der heute 27-jährige Mike Brodie ist einer der bemerkenswerten Fotografen, die es geschafft haben, ihr Leben als Teil einer Subkultur mit der Kamera zu dokumentieren, ja, die es vielleicht sogar mit der distanzerzeugenden Apparatur zwischen sich und der harten Umwelt zu schützen vermögen. Die Bilder aus seinem eben bei Twinpalms veröffentlichten Erstlingswerk A Period of Juvenile Prosperity erzählen die Geschichte der 50.000 Meilen, die Brodie seit dem Beginn seiner Odyssee vor zehn Jahren zurückgelegt hat, erzählen die Begegnungen, die er machte, die Orte, die er sah, die Freundschaften, die er schloss, die Lieben, die er fand und ziehen ließ, so wie alles auf dieser Art der Reise niemals von Dauer sein kann, sondern vom Fahrtwind weggetragen wird.

Nach Jacksonville

Es sind die Fotos, die am Ende bleiben, 7.000 Porträts seiner Weggefährten sowie detailverliebte Schnappschüsse, die in ihrem durchweg warmen Farbspektrum und ihren oft romantischen Kompositionen und pittoresken Staffagen verfallener Gegenstände beinahe zu lieblich wären, würden ihre Protagonisten nicht so unsentimental in die Kamera blicken. Brodies Bos, die auf den Bildern zu sehen sind, gehören zu den heute noch immer über 20.000 Köpfe zählenden Gemeinschaft von Hobos, Trainhoppers, Runaway Kids, Punks, unter ihnen viele Mädchen, die in der Hobosprache „Maeves“ genannt werden. Mike Brodie hat sie alle fotografiert, seine Bilder spiegeln ganz persönliche Erfahrungen wider, und werden so zu Relikten seiner wilden Tage. Das Bild der von Schmierfett und Schmutz starren Jeanshose etwa, die Brodies damalige Freundin abgestreift hatte, sobald sich die Tür des billigen Motel-Zimmers zuzog, und wie eine Hostie in das warme Wasser der Badewanne legte. Der verrückte Soup, der sich zum Surfen ans Ende eines der rasenden Züge gehängt hat und Brodies Kamera triumphierend den Mittelfinger entgegenstreckt.

Es war an einem heißen Sommertag, als Brodie seine erste Reise machte. Er war zum ersten Mal verliebt, in ein Punkmädchen, das Savanna hieß und wie er in einem Haus nahe der Bahntrasse wohnte, sodass sie die langen Güterzüge vorbeiziehen sahen. Sie beschlossen, gemeinsam aus der beengenden Kleinstadt in Florida abzuhauen und auf einen der Züge zu springen, doch Savanna fühlte sich noch zu jung und wollte die High School noch nicht verlassen. Er nahm sich vor, auf sie zu warten, verlor aber die Nerven und stellte sich eines Tages alleine ans Gleis, erwischte einen ostwärts fahrenden Zug nach Jacksonville, und hangelte sich dann weiter von Zug zu Zug, von Stadt zu Stadt. Sein Elternhaus hatte er ohne Nachricht verlassen.

Brodie wehrt sich standhaft gegen die Suggestionen der Journalisten, die ihn seit einiger Zeit belagern und wie einen Kaspar Hauser befragen. Die allzu schematische Erklärung, er und seine Bos seien Opfer häuslicher oder anders gearteter Gewalt gewesen und hätten darum die Fahrt ins nirgendwo angetreten, weist er zurück. „Die wenigsten von uns sind vor irgendetwas weggelaufen, es war eher die Lust auf dieses so klassische amerikanische Abenteuer und die Freiheit, die uns lockte.“

Und doch liest sich der Klappentext, in dem sich Brodie in fast entrückt wirkender Offenheit selbst erklärt, wie die Geschichte eines heutigen Oliver Twists. „Ich wurde 1985 in Meza, Arizona, geboren. Meine Mutter sagt, ich sah aus wie Charlie Brown. Ich sah niemals den Grand Canyon oder den Petrified Forest. Meine Großmutter war eine LKW-Fahrerin und mein Großvater mochte Rennwagen. Meine Großmutter starb an Krebs. Mein Großvater berührte meinen Penis; ich sah ihn niemals wieder… Ich erinnere mich, wie ich Käfer, die auf weiß gestrichenen Gartenzäunen saßen, sammelte, an einem 127 Fahrenheit heißen Hochsommertag, wie ich Feuerzeuge stahl, Sachen anzündete, in die Magengrube geboxt wurde, von einem Pit-Bull attackiert wurde und mit Silberlöffeln in der Erde grub, bis sich die Griffe bogen. Mein Vater sagt, er war bekifft, als er meine Mutter heiratete, er hätte „hunderte von Schlampen gebumst“. Einmal flog er durch die Windschutzscheibe und überlebte. Er prügelte sich mit fünf Polizisten in unserer Küche; die Tür meines Kinderzimmers war voll mit Pfefferspray. Dann ging er in den Knast.“

Brodie schließt den Text mit den Worten „Ich bin nicht sicher, ob ich will, dass das hier jemand liest. Der noch immer nicht zu zerstreuende Zweifel des jungen Fotografen, ob die Fotografie wirklich Wert haben kann, zeugt von der Zeit der jugendlichen Unschuld, in der Brodie seine Bilder machte, und von seinem ebenso simplen wie aufrichtigen Anliegen, dieses Leben so gut es geht festzuhalten.

A Period of Juvenile Prosperity Mike Brodie Twin Palms Publishers 2013, 104 S., 56,99 € Corinna Koch ist selbst oft unterwegs, was sie nicht davon abbringen kann, für den Freitag regelmäßig Bildbände zu besprechen

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