Ein Mann steht am Fenster, er hält sich verborgen, sodass der alte Mann, der dort unten mal schwer schleppend, mal gedankenverloren durch den prachtvollen Garten geht, ungestört bleibt. Sanftes Frühlingslicht fällt auf die Szenerie. Der Mann am Fenster zückt seine Kamera. Es ist eine alte Nikon FM2, die er 1997 vom Honorar für einen Fotoessay über seine Heimatstadt Oxford erhalten hat. Er macht vier Aufnahmen von dem hochgewachsenen Mann, dessen blütenweißes Hemd und die kurzen Shorts dieselbe Farbe wie sein sauber geschnittenes Haar haben.
Der Mann hebt einen kleinen, ebenfalls weißen Gartentisch an und transportiert ihn hoch über den Kopf gereckt zur vorderen Bildkante. Die Nikon verrichtet ihren Dienst laut schnappend, dann sinkt der kleine Apparat zurück in seine Wartestellung. Eine weitere Figur tritt auf die Bildfläche. Es ist eine zerbrechliche, leicht gebeugte Frau, deren pastellfarbener Rock sich im Wind bläht, als sie den fast unwirklich glatten Rasen überquert. In der Hand hält sie einen Strauß Blumen, den sie einige Momente zuvor von dem Mann erhalten hat. Doch der Sinn der Blumen in ihrer Hand hat sich ihr scheinbar entzogen, sie geht eine Weile durch den Garten, mal in diese, mal in jene Richtung, ehe der Mann ihren Arm ergreift und sie sanft zurück zu ihrem Platz auf der Terrasse führt, wo die Blumenvase wartet.
Liebe, Freundschaft, Tod
Der Band Mother and Father des englischen Fotografen Paddy Summerfield birgt viele solcher kleinen Episoden. Zehn Jahre lang dokumentierte Summerfield das Leben des Ehepaares, das sich vor allem im wohl gehegten Garten abspielte. Es war das Leben seiner Eltern. Die in kleinen Serien gehaltenen Abfolgen, in sanften Grautönen schattierten Bilder erzählen mit leiser Stimme von den ganz großen Dingen in diesem Leben: der Liebe, dem Tod, der Freundschaft. Die Wege von Joan und Ken Summerfield, die seit ihrer Kindheit zusammen waren, trennten sich auch dann nicht, als Joan 1990 an Alzheimer erkrankte. Vielmehr wurde der englische Garten hinter dem prächtigen Oxforder Stadthaus zum schützenden Raum für die beiden, und die darin erfahrbaren Zyklen der Natur, das Auf- und Ableben der Bäume, Sträucher, Knollen und Samen bot ihnen, die im Vergessen fast ertranken, einen Halt. Der Garten der Summerfields erfüllte damit ganz den ursprünglichen Zweck, dem der erste Landschaftsgarten folgte, der 1733 im Chiswick House für den Earl von Burlington angelegt worden war. Dieser Garten sollte das Ideal der Natur werden, vor allem auch der menschlichen Natur.
Doch so ein Garten droht immer auch zu verwildern. Und so grub und schnitt, mähte und zupfte Ken Summerfield Tag für Tag. Kein Halm sollte über das perfekte Rund der Blumeninseln ragen. Keine Stockrose, kein von Magnolienblüten schwer beladener Ast sich über die Maßen neigen. Und das Herbstlaub durfte nur so lange liegen bleiben, wie seine Farben frisch und prächtig im Morgentau leuchteten. Paddy Summerfield verfolgt das Treiben seiner Eltern mit der Angespanntheit von jemandem, der die Bedeutung dessen, was er da sieht, zu ahnen beginnt. Er kommt nun beinahe täglich in das Haus, in dem er aufgewachsen ist, und fotografiert. Ein leiser Schmerz ist in den Bildern zu spüren, die wir in Mother and Father zu sehen bekommen. Eine Scham, die aus dem Bewusstsein kommt, dass zwischen der großen Innigkeit seiner Eltern vielleicht kein Platz mehr blieb. So verharrte Summerfield stets am Bildrand, und fing von dort aus die großen und kleinen Gesten seiner Eltern ein.
Die Mutter hat Alzheimer
Die Summerfields waren in Oxford hoch angesehene Leute. Ken war ein Landvermesser und Bauingenieur, der Mitte der 1960er Jahre die Konstruktion der M40, die London mit Birmingham verbindet, leitete. Ihren Sohn ließen sie die bestmöglichste Schulausbindung erfahren, litt dieser doch an Legasthenie, was ihm das Lernen schwer machte. Als er schließlich seinen Abschluss schaffte und zu seinem ganzen Glück 1967 an der Guildford School of Art angenommen wurde, entwickelte er bald eine prägnante Bildsprache, die in einen Zyklus aus rauen, manchmal surrealen Schwarzweiß-Fotografien mündete. Die Distanz, mit der er seine Eltern betrachtete, schlägt in seiner Auseinandersetzung mit den verlorenen Bürgern seiner Heimatstadt Oxford in unmittelbare Nähe um. Im Fotoessay Empty Days schaut Summerfield den Menschen direkt ins Gesicht, lässt sie zu Boden sinken, die Kleider vom Leibe ziehen. Er fotografiert ihre zerschundenen Hände, verlebten Gesichter und von zerrissenen Nylonstrümpfen nur dürftig verborgenen Scheiden. Doch dieser Ausdruck eines Rebellen verstummte jedes Mal, wenn er sich dem Paradiesgarten der Eltern zuwandte. 1997 beschloss der inzwischen gestandene Fotograf, das Altern seiner Eltern festzuhalten und begann mit der Arbeit an Mother and Father, die ihn zehn Jahre lang beschäftigen sollte.
Schatten treten zusehends in diese Bilder, es sind die Äste alter Bäume, die schwarze, doch zarte, korallenhafte Figuren auf den Rasen zeichnen. Derweil verliert Joan mehr und mehr den Bezug zur Wirklichkeit. Aber der Vater gibt nicht auf, bis zum Ende ihres Lebens wird er sie bei sich behalten, wird sie morgens, wenn es das Wetter zulässt, in ihren Stuhl am weißen Gartentisch setzen, wo sie ihm bei der Arbeit zusehen kann. Eine letzte Urlaubsreise wird unternommen, der Sohn begleitet das Paar, deren eingespielte Zweisamkeit auch hier, an der malerischen Küste von Nordwales, nicht gestört zu werden scheint. Es mischen sich in die Szenerie seltsame und von symbolträchtiger Bedeutung aufgeladene Objekte, da ist ein Rabe, der sich auf dieser Urlaubsreise zum ersten Mal in die Bilderwelt setzt und bis zum Tod beider Eltern nicht mehr verschwindet.
Anders als in Empty Days verzichtet Summerfield in Mother and Father darauf, die vertrauten Gesichter seiner Eltern abzulichten. So zeigen die achtzig Aufnahmen Mutter und Vater allenfalls von der Seite, den Kopf schon fast abgewandt. Das Abwenden der Gestalten, gepaart mit der Poesie der im Bild dargestellten Natur erinnert an den romantischen Maler Caspar David Friedrich, der seine Figuren mit dem Rücken zum Betrachter stellte, so dass dieser Teil des Bildes wurde. Friedrich war einer der ersten Maler, der diese äußerst subjektiv gewählte Bildperspektive in seiner Malerei umsetzte.
Mother and Father Paddy Summerfield (englische Ausgabe), Dewi Lewis Publishing 2014, 96 S., 35,65 €
Auch in der Fotografie ist heute weniger das Schöne als mehr das Eigene gefragt. Ähnlich wie Caspar David Friedrich tritt der Fotograf Summerfield gerade durch die verborgene Perspektive in den Mittelpunkt seiner Bilder. Er ist es, mit dem wir uns identifizieren, der Sohn, der so beharrlich auf seine alt werdenden Eltern blickt und eine von Bild zu Bild größer werdende Frage aufwirft: Was werde ich tun, wenn es einmal soweit ist?
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