Werte gibt es nicht als Schnäppchen

Arbeitsbedingungen 258 Tote, Kik bleibt straffrei. Und die Politik tut sich schwer, Konzerne auf Menschenrechte zu verpflichten
Ausgabe 03/2019
Saeeda Khatoons Sohn starb beim Brand in der Fabrik, die Kik belieferte
Saeeda Khatoons Sohn starb beim Brand in der Fabrik, die Kik belieferte

Foto: Maja Hitij/Getty Images

Saeeda Khatoon hatte sich von diesem Januartag mehr erhofft. Ein wenig Gerechtigkeit für ihren Sohn M. Ejaz Ahmed, der jahrelang in der Textilfabrik Ali Enterprises im pakistanischen Karatschi Kleidung nähte. Bis zum 11. September 2012. An diesem Tag kamen der damals 18-Jährige und 257 weitere Menschen bei einem Brand in der Fabrik ums Leben. Ursache für das Feuer war möglicherweise Brandstiftung, aber für Saeeda Khatoon steht fest, dass nicht so viele Menschen hätten sterben müssen, wenn es in der Fabrik einen angemessenen Brandschutz gegeben hätte. Deshalb hat sie 2015 gemeinsam mit drei weiteren pakistanischen Betroffenen – zwei Angehörige von Opfern und ein Fabrikarbeiter, der den Brand schwer verletzt überlebte – Klage auf Schmerzensgeld vor dem Landgericht Dortmund eingereicht. Beklagter ist der Textildiscounter Kik, der seinen Firmensitz im nahe gelegenen Bönen hat. Denn „als Hauptkunde der Fabrik war Kik nicht bloßer Abnehmer, sondern der Boss und damit mitverantwortlich für den mangelnden Brandschutz“, meint Khatoons Anwalt Remo Klinger.

Kik sieht das anders. Der Konzern trage für die Brandkatastrophe und die vielen Toten keinerlei Verantwortung, der Brandschutz sei geprüft worden und ausreichend gewesen. Über die Streitfrage der Mitverantwortung wurde aber gar nicht erst verhandelt. Denn gerade erst wies das Gericht die Klage ab, wegen Verjährung der möglichen Ansprüche – nicht nach deutschem, sondern nach pakistanischem Recht.

Zufrieden ist mit der Situation keiner der Beteiligten. Rechtsanwältin Miriam Saage-Maaß ist Expertin für Unternehmensverantwortung und Menschenrechte, sie hat an den Klageschriften mitgearbeitet und sieht die Gründe für das Scheitern der Kläger in fehlenden deutschen Gesetzen: „Die Bundesregierung hat es bisher versäumt, eine Rechtslage zu schaffen, die der globalisierten Wirtschaft gerecht wird.“

Selbstverpflichtung, haha

Und selbst der siegreiche Beklagte Kik vermisst klare Regeln nach deutschem Recht: „Unternehmen benötigen Rechtssicherheit. Es kann nicht sein, dass aufgrund fehlender gesetzlicher Regelungen Unternehmen auf Basis von ausländischem Recht in Deutschland verklagt werden können und damit abhängig sind von unterschiedlichen Auslegungen der bisher freiwilligen Empfehlungen. Daher plädieren wir für eine klare gesetzliche Regelung unternehmerischer Sorgfaltspflichten auf europäischer Ebene.“ Derartige Töne von Unternehmensseite sind ungewohnt. Bisher machten sich die meisten Konzerne und deren Verbände für Regelungen auf freiwilliger Basis stark – und stießen damit bei der Bundesregierung auf offene Ohren.

Denn tatsächlich könnte die Rechtslage längst eindeutig und menschenrechtsfreundlicher sein. Auf Grundlage der 2011 beschlossenen UN-„Leitprinzipien“ sind alle Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen nämlich aufgefordert, einen „Nationalen Aktionsplan für Wirtschaft und Menschenrechte“ zu verabschieden, der menschenrechtliche Sorgfaltspflichten für Unternehmen entlang der Lieferketten regeln soll (der Freitag 17/2016).

2016 wurde ein solcher Aktionsplan, kurz NAP, von der damaligen schwarz-roten Bundesregierung verabschiedet, jedoch ohne verbindliche, strafbewehrte Regelungen für deutsche Unternehmen zu enthalten. Stattdessen basiert alles auf dem Prinzip einer „freiwilligen Selbstverpflichtung“. In anderen Bereichen zeigten derartige Selbstverpflichtungen bisher wenig Wirkung, illustrieren lässt sich das zum Beispiel mit dem Recht auf ein „Girokonto für Jedermann“, das nach 20 Jahren mangels Umsetzung durch die Banken schließlich doch gesetzlich geregelt wurde.

Kritiker sehen in „freiwilligen Selbstverpflichtungen“ eher eine Lobbystrategie zur Verhinderung von Gesetzen und zur Imagepflege für die Unternehmen, wo der Gesetzgeber eigentlich angehalten wäre, auf den erkannten Bedarf mit sanktionsbewehrter Regulierung zu reagieren.

Doch der Widerstand gegen Verbindlichkeit im Bereich Wirtschaft und Menschenrechte bröckelt: Denn neben Kik zeigen sich auch andere Konzerne wie Siemens, Daimler oder Tchibo offener als bisher für gesetzliche Regelungen. Den Grund für den Sinneswandel vermutet die Referentin für Menschenrechte bei der Organisation Brot für die Welt, Sarah Lincoln, vor allem in Wettbewerbsfragen. Denn Konzerne, die durch hohe öffentliche Wahrnehmung gezwungen sind, sich stärker für Menschenrechte zu engagieren als weniger beobachtete Unternehmen, haben durch die teils kostenintensiven Maßnahmen einen Wettbewerbsnachteil: „Für engagierte Firmen bedeuten Gesetze insofern die Herstellung von Wettbewerbsgleichheit, indem alle Unternehmen gleichermaßen verpflichtet werden, tätig zu werden.“

Ob sich die Bundesregierung dieser Sichtweise anschließt, ist fraglich. Denn der NAP sieht vor, dass es verbindliche Gesetze in Deutschland nur geben soll, wenn die Selbstverpflichtung von mehr als 50 Prozent der deutschen Unternehmen ab einer Größe von 500 Mitarbeitern nicht umgesetzt wird. Zur Überprüfung dient ein Monitoring-Verfahren, das 2020 abgeschlossen sein soll. In drei Phasen werden Konzerne in Stichproben zu ihren bisher getroffenen Maßnahmen zur menschenrechtlichen Sorgfalt befragt und überprüft. Nichtregierungsorganisationen (NGOs) kritisieren das Verfahren: „Das ist ein Witz“, meint Sarah Lincoln von Brot für die Welt. „Es ist weder repräsentativ noch transparent, und die Multiple-Choice-Fragen machen es den Unternehmen sehr einfach, diejenigen Antworten zu geben, die ein Gesetz angeblich überflüssig machen.“

Kritik kommt auch vom UN-Sozialausschuss, der die Einhaltung des UN-Pakts für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte überwacht und hierzu alle fünf Jahre einen Bericht verfasst. Im jüngsten, von 2018, zeigt sich der Ausschuss nicht nur über den „ausschließlich freiwilligen“ Charakter des deutschen NAPs besorgt, sondern auch über die 50-Prozent-Quote und die dadurch drohende „hohe Regelungslücke bei der Auferlegung unternehmerischer Sorgfaltspflichten“. Bemängelt werden außerdem die „hohen praktischen Hürden“ für den Zugang zur Justiz für Nichtstaatsbürger, „das Fehlen kollektiver Rechtsdurchsetzungsmechanismen“ sowie „das Fehlen strafrechtlicher Haftung von Konzernen im deutschen Recht“.

Vorreiter: Ecuador, Südafrika

Zur Kritik äußert sich das Auswärtige Amt auf Nachfragen ausweichend und wenig konkret: „Nach Abschluss des Monitoring-Verfahrens im Sommer 2020 wird die Bundesregierung einen Statusbericht zur Umsetzung des NAP veröffentlichen, in dem auch die Ergebnisse des Monitorings öffentlich gemacht werden.“

Dass sich die Bundesregierung schwertut, deutsche Unternehmen verbindlich zur Achtung der Menschenrechte zu verpflichten, zeigt sich jedoch auch im Hinblick auf den derzeit laufenden „UN-Treaty-Prozess“ (der Freitag 13/2018): Nachdem sich die meisten Industrienationen nicht für verbindliche Regelungen im Rahmen der Nationalen Aktionspläne entschließen konnten, wird auf Initiative von Ecuador und Südafrika seit 2014 ein verbindlicher Völkerrechtsvertrag zur Achtung der Menschenrechte ausgearbeitet.

Die Bundesregierung hält sich in diesem Prozess bisher sehr zurück, das Auswärtige Amt verweist auf „nicht geklärte Fragen prozeduraler, aber auch inhaltlicher Art“. Viele NGOs halten das für Ausreden, um die Unternehmen nicht verbindlich verpflichten zu müssen.

Möglicherweise wird die Frage der Unternehmenshaftung daher doch zunächst gerichtlich statt politisch geklärt: Saeeda Khatoon und ihre Mitstreiter prüfen, ob sie gegen das Urteil des Landgerichts Rechtsmittel einlegen.

Cornelia Liedtke arbeitet als Rechtsanwältin in Berlin und als freiberufliche Journalistin

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