Der Klapplolli

Kehrseite Am Kiosk gab es Klapplollies. Erdbeer, Himbeer und Maracuja. Maracuja gab es zu Hause nicht. Doch die Mutter schüttelte den Kopf und ging weiter, und ...

Am Kiosk gab es Klapplollies. Erdbeer, Himbeer und Maracuja. Maracuja gab es zu Hause nicht. Doch die Mutter schüttelte den Kopf und ging weiter, und Marie holte tief Luft und blieb stehen, und es war klar: Sie würde ihr nie einen Maracuja-Klapplolli kaufen.

Sie gingen immer denselben Weg zum Strand. Sie liefen durch die Dünen zur Straße, überquerten den Parkplatz, auf dem der Kiosk mit den Klapplollies stand und nahmen dann den Bohlenweg zum Strand. Und dann gingen sie zu ihrem Lieblingsplatz auf der anderen Seite der Mole. Der Mann stand immer vorn an der Mole. Vielleicht wartete er auf sie. Doch das ging ihr erst später durch den Kopf. Einmal gingen sie noch vor dem Früh-stück ans Meer, es war kaum jemand am Strand, und der Mann war auch nicht da und das war das einzige Mal, dass sie auf ihrer Seite der Mole blieben. Als sie danach frühstückten, durfte sie auch die Brötchen der Mutter essen, und erst bei der letzten Hälfte konnte sie nicht mehr, und der Bauch war ganz dick geworden.

Und das war auch der Tag, an dem sie der Mutter erklärte, was ein Klapplolli sei. Dass man ihn einfach zuklappen und weglegen könne, wenn man keine Lust mehr hätte oder wenn man Mittag essen müsse. Dass man ihn in die Hosentaschen stecken könne und sich niemand mehr über klebrige Tischplatten oder Bücherregale ärgern müsse. Und Untertassen oder Schnapsgläser zum Ablegen braucht man auch nicht mehr! Da lachte die Mutter, und Marie lachte auch, und dann kam die Sonne durch und sie gingen erneut zum Strand, an ihre alte Stelle hinter der Mole, und der Mann war auch da.

Einmal kam sie vom Wasser und da saß der Mann neben der Mutter am Strand und sie lachten und sprachen. Das ist Marie, sagte die Mutter und der Mann sagte, Hallo Marie, und dann sagte er noch etwas, seinen Namen und noch mehr, doch Marie sah ihn nur an und verstand nicht, und die Mutter lehnte sich zu ihr herüber ... Marie? und die Stimme war anschmiegsam und zart und klang noch lange nach.

In der Nacht wachte sie auf. Es war dunkel und kalt und die Vorhänge bewegten sich im Wind, sie hörte die Wellen auf den Strand schlagen und wieder zurückrollen und dann war sie sich sicher; die Mutter war nicht da. Sie war fort, das Haus war dunkel und still und leer, und das Meer war laut und unheimlich und viel näher als sonst. Marie presste Arme und Beine an den Körper. Dann hörte sie Stimmen und Lachen und das Klirren gegeneinander stoßender Gläser auf der Terrasse, wieder lachte jemand, die Mutter, das Herz sprang in die Höhe, sie lachte und sprach, und Marie konnte sie vor sich sehen, die Mutter legte den Kopf in den Nacken und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, sie strich eine Haarsträhne zurück und sie hatte diese tiefe Stimme, die sie sonst nie hatte.

Beim Frühstück am nächsten Morgen fiel dann alles runter oder kippte um, und dann brach auch noch der Henkel des Bechers ab, aus dem sie gerade trank und die Mutter lachte und konnte nicht mehr aufhören, doch Marie weinte und dann schrie sie die Mutter an, dass sie endlich aufhören solle und dass es gar nicht witzig wäre, wenn alles schief ginge und die Kleidung voller Milch wäre und sowieso lacht man nicht, wenn es seinem Kind nicht gut geht. Da hörte die Mutter auf und half ihr neue Kleider anzuziehen, und später saß Marie auf ihrem Schoß, doch das Schluchzen und die Tränen kamen immer wieder.

Dann bekam sie den ersten Bikini ihres Lebens. Und weil sie das Oberteil nicht mehr ausziehen wollte, kaufte ihr die Mutter noch einen Bustier und dann auch noch eine passende Unterhose dazu, mit Spitzen und vorne mit einer Schleife, die Verkäuferin sagte Slip und nicht Unterhose, und von da an sagte Marie nie mehr Unterhose sondern immer nur noch Slip, auch zu den alten bunten Kinderunterhosen, die dann nicht mehr ganz so alt und bunt aussahen. Auch die Mutter kaufte sich einen neuen Badeanzug, ganz schwarz und Marie mochte ihn erst gar nicht, weil er so schwarz war, und dann mochte sie ihn immer mehr.

An jedem zweiten Tag konnte sie reiten, auf einem richtig großen Pony. Das Pony hieß Schecky, und sie brachte ihm Karotten mit und der Reitlehrer war ein Jugendlicher, der sie nach der Stunde noch auf seinem Pferd reiten ließ, obwohl ihre Beine viel zu kurz waren und sie nicht alleine aufsteigen konnte. Doch Marian zuckte mit den Schultern und hob sie hoch, und wenn sie abends im Bett lag, musste sie an das Gefühl seiner Hände auf ihrem Oberkörper denken und dass sie ähnliche Vornamen hatten und dann konnte sie lange nicht einschlafen.

Die Mutter war schön, wenn sie gebadet hatte und der Körper voller glitzernder Wassertropfen war, die langsam in der Sonne verdunsteten, und im Café, wenn sie sich zurücklehnte und sich durch das Haar fuhr und lächelte, saß Marie still hinter ihrem Eis, weil sie fürchtete, den Moment durch eine Bewegung oder ein Geräusch zu unterbrechen, obwohl sie gleichzeitig Angst hatte, weil die Mutter so anders und fremd schien.

Einmal war sie zum Reiten gegangen, doch Marian war nicht da und Schecky war mit einem anderen Kind am Strand und so kam Marie viel früher zurück. Die Mutter war nicht am Strand und nicht an der Mole, und in der Wohnung war sie auch nicht, und so setzte sich Marie in den Hauseingang und zeichnete Muster in den Sand, bis sie Stimmen hörte und Lachen und die Mutter und den Mann aus den Dünen kommen sah und ihnen schon entgegenlaufen wollte und sich dann doch wieder hinsetzte und schnell nach dem Stock griff, mit dem sie im Sand herumgemalt hatte, weil sie sich an den Händen hielten und weil sie an der Kreuzung stehen blieben und voreinander standen und sprachen und sich dann küssten und gar nicht mehr aufhörten, so dass Marie den Stock in den Sand bohrte und weiter wartete, doch sie hörten nicht auf, und der Mann ging nicht weg, und die Mutter kam nicht, und als sie wieder aufsah, standen sie immer noch da, und dann schleuderte sie den Stock von sich und wollte weggehen, doch da kam die Mutter auf sie zu gelaufen und hob sie hoch, als sei sie ein kleines Kind und ganz leicht und so sagte sie nur, dass das Reiten ausgefallen wäre, während sie über die Schulter der Mutter blickte und den Mann in den Dünen verschwinden sah.

Später gingen sie schwimmen, doch die Wellen waren zu hoch und so setzte sich Marie an den Strand und die Mutter blieb im Wasser und sie schwamm weit raus, hinter die Wellen und hinter die Sandbank, und Marie sah ihren Kopf kleiner und kleiner werden und dann sah sie ihn nicht mehr und stand auf und schrie. Und das Meer war groß und dunkel und laut, und als der Kopf der Mutter wieder auftauchte und größer wurde und sie schließlich zu ihr an den Strand kam, schrie Marie sie an und weinte und zitterte und konnte der Mutter nicht erklären, was passiert war.

Am vorletzten Tag sollte der Vater kommen und sie abholen, wegen des Gepäcks und weil er noch einen Tag am Meer mit ihnen verbringen wollte, doch die Mutter sagte, sie würden das auch allein schaffen. Das Gepäck hat ihnen dann der Mann zum Bahnhof gebracht und in den Zug gestellt, und dann ging er nicht und als er dann doch ging, blieb die Mutter noch in der Tür stehen, während Marie auf das Gepäck aufpasste und wartete, dass der Zug endlich abfuhr, weil sie Angst hatte, die Mutter würde nicht rechtzeitig von der Tür zurücktreten oder der Mann würde wieder einsteigen oder sie würde es sich anders überlegen und Marie und das Gepäck wieder aus dem Zug holen oder bei dem Mann auf dem Bahnsteig bleiben und sie allein losfahren lassen - sie kam immer noch nicht, und der Schaffner pfiff, und die Türen schlugen zu, und dann pfiff der Schaffner nochmals, und der Zug fuhr los, und Marie stand auf dem Sitz und versuchte gleichzeitig zur Tür zu sehen und auf das Gepäck zu achten, doch der Gang war voller Leute, und die Mutter war nirgends zu sehen, und erst als draußen nur noch Felder zu sehen waren, sah sie die Mutter am Ende des Wagens auftauchen.

Doch sie sah sie nicht und ging ganz langsam, obwohl Marie winkte und weinte und längst niemand mehr im Gang stand.

Als sie dann endlich neben ihr saß, sie das Gepäck verstaut hatten und Marie sich das dritte Mal die Nase geschnäuzt hatte, stand die Mutter wieder auf und suchte etwas, Schnickschnack, sie lächelte, doch sie hatte Tränen in den Augen und Marie sah, wie sie eine violette Plastikhülle hervorzog. Einen Maracuja-Klapplolli. Und dann erinnerte sie sich, dass sie zu Beginn der Ferien immer wieder vor der Auslage des Kioskes gestanden hatte, doch dann hatte sie ihn irgendwann ganz vergessen.

Cornelia Manikowsky lebt in Hamburg. Sie veröffentlichte u.a. Eine Frau und ein Junge und Rosa Rosa, zuletzt erschien Sommergeräusche.


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