Mit einem BGS-Gogo-Girl gegen Gewalt

JUGENDALLTAG Bei der 6. Reincarnation tanzten 300.000 Raver durch Hannover

Als Start für die sechste Reincarnation Parade (Wiedergeburt) ist der Schützenplatz in Hannovers Innenstadt eine gute Wahl. Hier finden 25 Techno-Trucks und hunderttausend Techno-Fans gemeinsam Platz. Die Route durch die Expo-Stadt folgt der des weltgrößten Schützenausmarsches. Sonst küren die Schützen in ihren grünen Uniformen hier ihren König.

BGS-Beamte, die heute zum ersten Mal an einer Techno-Parade teilnehmen, haben ihre grüne Mehrzweckuniform im Spint gelassen. Nur ein Polizist gibt sich als BGS-Beamter zu erkennen, er trägt eine grüne Jogginghose und ein gleichfarbiges T-Shirt. Dagegen tarnt sich Kai Scholl mit blau gefärbten Haaren und Trillerpfeife als Raver. Die olivgrüne Uniform tauschte er gegen einen Schottenrock. In diesem Outfit sollte er besser an keiner Demo teilnehmen; wahrscheinlich hätten ihn seine Kollegen vor einigen Wochen bei den Chaos-Tagen mit einem Punker verwechselt und verhaftet. Der Sprecher des BGS in Hannover ist an diesem Wochenende an einem ungewöhnlichen Einsatzort: Er leitet den Wagen der Polizei bei der Reincarnation Parade, der Hannoverschen Kopie der Love Parade. »Wir wollen damit gegen die Gewalt in der Gesellschaft eintreten«, erzählt Scholl während der vierstündigen Fahrt. Der Polizeikommissar hofft, damit die Sprache der Kids zu treffen, um sie so besser zu erreichen. In seiner Dienstzeit, erzählt er später, habe er viel mit Jugendlichen zu tun. Dann nämlich macht er Jagd auf Graffiti-Sprayer bei der Bahn. »Mit denen muss ich auch auf einer Ebene labern«, so Scholl. Doch bei den über 300.000 Techno-Fans kommt die Botschaft nicht an. »Wir wollen abfeiern und den Alltag vergessen!«, grölt einer in orangefarbiger Bauarbeiterweste.

Die Premiere des ungewöhnlichen Einsatzfahrzeuges stieß nicht bei allen Kollegen auf Gegenliebe. Vor allem die dienstälteren Beamten wunderten sich über das Auftreten der Freizeit-Raver bei der Technoparade. Für die sind die Techno-Events in Berlin, Zürich oder Hamburg reine Umschlagplätze für Ecstasy. Doch dieser Vorwurf versinkt an diesem Sommertag in dem Schaum, den der vorausfahrende Wagen Nr. 6 ausstößt und mit dem er zahlreiche Raver am Straßenrand einseift.

Der Einsatz ohne Schlagstöcke ist nicht nur in den eigenen Reihen umstritten. Hart schlug die Polizei Anfang August bei den Chaostagen zu. Dass Hunderte von Punks den Hannoveranern den Expo-Spaß verderben wollten, ging denn doch zu weit. Massivster Einsatz der grünuniformierten Beamten erstickte den Störungswillen der Punker im Keime: 200 Menschen wurden kurzerhand festgenommen, das Uni-Viertel Nordstadt teilweise abgeriegelt. Das rüde Vorgehen eines BGS-Beamten im Hauptbahnhof von Hannover sorgte für Aufsehen. Ein Jugendlicher wurde von einem Beamten geschlagen, obwohl er mit dem Punkertreffen nichts zu tun hatte. Er hatte es gewagt, sich bei den Beamten über den massiven Polizeieinsatz zu beschweren. Jetzt zur Expo sind die vielen BGS-Fahrzeuge in der niedersächsischen Landeshauptstadt nicht zu übersehen. Während der Weltausstellung wurden acht zusätzliche Dienststellen im Raum Hannover eingerichtet. Rund 500 BGS-Beamte sind bis zum 31. Oktober in Hannover im Einsatz. Sie sollen gefährliche Eingriffe in den Bahnverkehr und die grenzpolitischen Maßnahmen an den EU- Außengrenzen intensivieren, um illegale Einreisen zu verhindern, heißt es im schönsten Amtsdeutsch.

Heute wollen sie ihr Image aufpolieren. Mit rund 130 Beats pro Minute hämmert die Musik unaufhaltsam auf die Tanzenden ein und lässt die Stahlgerüste auf dem BGS-Techno-Truck vibrieren. Die etwa 50 Tänzer auf dem 18 Meter langen Tieflader haben Mühe, ihr Gleichgewicht zu halten. Ohne Ohrstöpsel riskiert man, bleibende Hörschäden davon zu tragen. Als Gallionsfigur im Leoparden-Look tanzt ganz vorne Deutschlands schönste Polizistin: Doreen Weber belegte im vergangenen Jahr bei den Wahlen zur Miss Germany den dritten Platz. Die 21-jährige wurde gefragt, ob sie nicht als Gogo-Girl tanzen möchte. »So können wir unser Motto: ›gegen Gewalt!‹ auch unter die Jugendlichen bringen«, sagt die BGS-Beamtin, die in der Einsatzabteilung in Duderstadt arbeitet.

Die Idee zu dem grünen Spielmobil stammt von der Berliner Love Parade. Dafür unternahm Carola Jacobi aus der Pressestelle in Hannover eine Dienstreise in die Bundeshauptstadt. Ihre Eindrücke von der größten deutschen Techno-Parade flossen unverkennbar bei der Gestaltung des Trucks ein. Im nächsten Jahr will der BGS gemeinsam mit der Gewerkschaft der Polizei an der Love Parade an der Spree teilnehmen.

Die Raver tanzen in schrillen, meist sehr kurzen Outfits zu den dröhnenden Klängen. Ins Auge fallen diesmal die Kuhflecken und mit Federn dekorierten Kostüme. Nach etwa zwei Stunden nähert sich der Konvoi von 25 Wagen und Trucks dem Rotlichtviertel in Hannovers Innenstadt. »Wir grüßen den Steintor!«, schallt es unüberhörbar aus den Boxen des BGS-Wagen. Einige Prostituierte stehen am Straßenrand oder haben sich in den Zug eingereiht. Für einige Minuten scheint das Geschäft mit der Lust zu ruhen. Gleich nebenan haben es sich Mitglieder der Hell's Angels auf einem Fenstersims bequem gemacht. Die Rocker begrüßen die ankommenden Wagen mit der La Ola Welle, die man aus den Fußballstadien kennt. Spät in der Nacht trifft man sich wieder bei einer der zahlreichen Feten, auf denen bis in den Morgen hinein getanzt wird.

Auch die Gewerkschaften wollten sich die Reincarnation Parade nicht entgehen lassen. Etwas mehr als 10.000 Mark hat sich die DGB-Jugend ihren roten, in der Sonne blinkenden Techno-Wagen kosten lassen. »Das ist nicht zu teuer«, meint Ina Breiholz-Eberhardt, Jugendbildungsreferentin des DGB für den Kreis Hannover, »schließlich bietet diese Veranstaltung eine gute Möglichkeit, sich selbst darzustellen«. Um Selbstdarstellung geht es dem DGB, und da unterscheidet er sich an diesem Tag nicht sehr von den über 300.000 Ravern in der Hannoverschen Innenstadt.

Nur Reincarnation-Veranstalter Klaus Ritgen von der Agentur Show-Tops wollte nicht so recht mitspielen. Die Slogans »Wer nicht ausbildet, muss zahlen« und »Wir wollen: Die Umlagefinanzierung jetzt, eine qualifizierte Ausbildung, Bildung für alle«, die auf den DGB-Wagen gemalt waren, mussten runter. »Zu politisch, zu staubig, das interessiert niemand, so argumentierte der Veranstalter. Die Sprüche wurden mit den Logos der DGB-Einzelgewerkschaften abgedeckt und kamen erst um 22 Uhr, nach Abschluss der Parade wieder zum Vorschein, dann aber unbemerkt von allen Ravern. »Wir glauben nicht, dass die Botschaft der Gewerkschaften hier auf viel Interesse unter den Jugendlichen stößt«, meinen Claudia und Frizzi. Die beiden 19-jährigen Mädchen aus Leipzig stehen seit fünf Stunden am Straßenrand und verfolgen den Techno-Umzug.

Die niedersächsische Landeshauptstadt, verschrien als eine Stadt, die so aufregend sei wie Heilbronn, versucht sich in diesem Jahr als Spaß-Metropole; die Expo macht's möglich. Hannover feiert ungeniert, und wer den Leinestädtern die Freude daran verderben will, verscherzt sich hier Sympathien. Nach all den kritischen Artikeln zur Weltausstellung wollen die Hannoveraner nicht mehr die Nörgelei der neidischen Nachbarn hören. »Mir gefällt der Rhythmus«, sagt eine alte Frau, die beim Opernhaus mit ihrem Enkel den tanzenden Jugendlichen zusieht, »nur ist der Lärm ein bisschen laut. Aber die Jugend soll ja ihre Musik haben.« Es gibt kaum jemanden, der murrt oder eine abfällige Fratze aufsetzt. Im Jahr der Weltausstellung sind die Hannoveraner so einiges gewohnt. Weltoffenheit solle die Stadt beweisen, das wünscht sich Oberbürgermeister Herbert Schmalstieg (SPD), einstmals Deutschlands jüngster OB, mittlerweile der dienstälteste im Geschäft. Die Polizeibeamten, die sich unter die gaffenden und tanzenden Zuschauer gemischt haben, lächeln wenig dienstlich und haben sich von der Techno-Masse vereinnahmen lassen. Die örtliche Presse zieht am nächsten Tag eine laue Bilanz: 63 Anzeigen wegen Drogenmissbrauch, 15 Körperverletzungen, drei kleine Diebstähle - Kleinvieh, der den 300 Polizisten keine Probleme bereitete, dank der apolitischen Friede-Freude-Eierkuchen-Raver, die einfach nur Fun haben wollen und das Flair der Berliner Love-Parade nach Hannover tragen.

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